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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
28. Febr./1. März 1975

Auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten in Wiesbaden erklärt W. Brandt: Demokratischer Sozialismus erfüllt sich in einer Vielzahl von Reformschritten. Wer die Reformunfähigkeit des Staates unterstellt, dessen Wirken hat in der SPD keinen Sinn. Sozialdemokraten haben die Arbeit der von H. Schmidt geführten Bundesregierung mitzutragen und ihre Leistungen selbstbewußt zu vertreten. Und um dies gleich hinzuzufügen: Wer den sozialdemokratischen Bundeskanzler im Stich läßt oder ihn zu disqualifizieren sucht, der legt sich auch mit mir an.
Die freie innerpolitische Meinungsbildung auf der Grundlage des Godesberger Programms darf nicht in Widerspruch geraten zu den Erfordernissen einer geschlossen handelnden Partei. Die Jungsozialisten sollten sich verstärkt der Aufgaben annehmen, die ihrer Arbeitsgemeinschaft ausdrücklich übertragen worden sind. Das Ringen um das Vertrauen der jungen Wählerinnen und Wähler ist für künftige sozialdemokratische Erfolge von vitaler Bedeutung. Aufgabe der Jungsozialisten ist es, die Interessen, Wünsche und Vorstellungen der jungen Generation innerhalb der Partei zur Geltung zu bringen und gleichzeitig die oft mühevoll gefundenen, allzu oft auch unzulänglichen Antworten der Partei gegenüber der Jugend deutlich zu machen. Wir haben seit 1969 bei weitem nicht alles zum Besseren verändern können. Aber haben wir nicht mehr als einen Schritt voran getan? Mir fehlt es an der Darstellung dieser positiven Schritte gegenüber der jungen Generation. Verketzert nicht die notwendige Politik der Krisenbewältigung als bloßes Herumsitzen am Krankenbett des Kapitalismus.
Der Kongreß nimmt mit 174 gegen 103 Stimmen das sog. »Positionspapier« des Bundesvorstandes an, in dem ein klares Bekenntnis zur »Doppelstrategie« und zu einer Politik antikapitalistischer Strukturreformen und der Notwendigkeit eines demokratischen Weges zum Sozialismus enthalten ist.
Dazu heißt es in dem Papier u.a.: Das Ziel der politischen Arbeit der Jungsozialisten ist der demokratische Sozialismus. Dies bedeutet: Sie kämpfen für die Demokratisierung aller Lebensbereiche, insbesondere der Wirtschaft und des Staates.
Eine demokratische Wirtschaftsordnung, wie sie die Jungsozialisten anstreben, bedeutet: Vergesellschaftung der strukturbestimmten Bereiche der Wirtschaft, gesamtgesellschaftliche Planung der Investitions-, Forschungs- und Entwicklungsprioritäten bei relativer Autonomie der einzelnen Unternehmen im Rahmen dieser zentralen Rahmensetzung. Demokratisch-sozialistische Volkswirtschaft nutzt den Markt als Mittel der Verteilung von Gütern und Dienstleistungen auf die Endverbraucher und zur Rückkoppelung von Verbraucherwünschen mit der Produktion - eine zunehmende Kontrolle der Produktionsentscheidungen durch eine wirksame Mitbestimmung am Arbeitsplatz und in den Betrieben, in Unternehmen und Konzernen, auf lokaler, regionaler, gesamtwirtschaftlicher und internationaler Ebene. Demokratisierung des Staates beinhaltet: Ein Höchstmaß an Transparenz und Mitwirkungsmöglichkeit für alle Betroffenen auf allen Ebenen staatlicher Organisation.
Mit den Mitteln der Reform sollen entscheidende Machtverlagerungen zugunsten der arbeitenden Bevölkerung und grundlegende Veränderungen der Gesellschaftsstruktur durchgesetzt werden, die im Ergebnis eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus konstituieren. Solche grundlegenden Veränderungen können nicht durch parlamentarische Arbeit allein bewirkt werden. Zur Durchsetzung antikapitalistischer Strukturreformen bedarf es des Zusammenspiels von Arbeit in den Institutionen und der Entwicklung von Basismobilisierung und Gegenmacht. Eine so verstandene Doppelstrategie ist die einzige Möglichkeit, die demokratische Substanz sowohl des Veränderungsprozesses als auch des sozialistischen Ziels zu garantieren.
Ihren Kampf für den demokratischen Sozialismus führen die Jungsozialisten in und mit der SPD, als der einzigen Partei der Bundesrepublik, die breit in der arbeitenden Bevölkerung verankert ist und von ihrer Programmatik und Tradition her auf das Ziel des demokratischen Sozialismus verpflichtet ist. Theoretischer Anspruch und praktische Arbeit in der Arbeitsgemeinschaft und der Gesamtpartei dürfen nicht auseinanderfallen. Die Jungsozialisten treten für eine weitere Demokratisierung der SPD ein und wollen das Konzept der Doppelstrategie zum strategischen Konzept der Gesamtpartei machen.
Die Jungsozialisten halten Gruppenbildung für ein legitimes und nützliches Mittel zur Vorstrukturierung demokratischer Willensbildungsprozesse in der Partei und in ihren Arbeitsgemeinschaften. Sie wenden sich aber entschieden gegen jede Form der Fraktionierung, die die notwendige Solidarität in der politischen Auseinandersetzung und transparente Entscheidungsprozesse unmöglich macht. Fraktionierung dieser Art zerstört die organisatorische Einheit der Jungsozialisten.
Die Jungsozialisten kritisieren alle Versuche zur Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten der Arbeitsgemeinschaften und der Willensbildung in der Partei. Sie sind entschlossen, durch ihre Arbeit in der SPD eine Veränderung der neuen »Richtlinien für die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaften« zu ermöglichen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul wird mit 168 gegen 108 Stimmen bei 21 Enthaltungen als Bundesvorsitzende wiedergewählt.



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net edition fes-library | Juni 2001