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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
25./27. Jan. 1974

Auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten in München kommt es erneut zwischen den Flügeln zu heftigen Debatten. Nur mit 137 gegen 133 Stimmen wird ein Antrag der reformistischen Vertreter angenommen, der demokratische Investitionslenkung als ersten Schritt auf dem Wege zu einer sozialistischen Wirtschaftsordnung bezeichnet. Die Mehrheit der Delegierten betont die Einheit von Sozialismus und Demokratie, die lange Dauer des Kampfes um eine Gesellschaft, in der Sozialismus und Demokratie verwirklicht sind und die schrittweise Entwicklung demokratischer Organisationsformen. Dies setzt voraus, daß jede Mobilisierung unter dem Gesichtspunkt langfristiger Organisierung zu leisten ist. Das Konzept einer Kaderpartei wird dabei abgelehnt. SPD und Gewerkschaften haben im Prozeß der gesellschaftlichen Umwandlung einen zentralen Stellenwert.
Die Funktion des Staates besteht in der Aufrechterhaltung des privaten Kapitalverwertungsprozesses. Dabei geht es vorrangig nicht darum, Partikularinteressen von Einzelkapitalen wahrzunehmen, vielmehr ist das gesamtkapitalistische Interesse Rahmenbedingung staatlichen Handelns: der Staat wirkt als ideeller Gesamtkapitalist.
In dieser Funktion hat er das gesamtkapitalistische Interesse sowohl gegenüber der Klasse der Lohnabhängigen als auch gegenüber den Einzelkapitalisten oder Fraktionen des Kapitals zu vertreten, deren partikulare Interessen jeweils stärker auf kurzfristige Profitmaximierung gerichtet sind und die damit unbewußt eine Störung des gesamten Systems der privaten Kapitalvertretung bewirken. Die Funktionsfähigkeit des Staates ist dabei abhängig von einem gewissen Maß funktioneller Autonomie.
Diese empirisch auszumachende partielle Autonomie des Staates führt oft zu der irrigen Annahme, der Staat stehe über den Klassen, einmal zugunsten der einen wie der anderen handelnd, er spiele die Rolle eines Schiedsrichters, der über die faire Auseinandersetzung an der ökonomischen Basis und innerhalb der Gesellschaft wache. Dies verkennt, daß der Staat gerade keine souveräne Steuerung aller Interessen vornehmen kann, sondern durch sein hoheitliches Eingreifen in der Regel systemstabilisierend handelt und so auch als Krisenmanager des kapitalistischen Systems funktioniert.
Ist er so seinem Wesen nach nicht Instrument einzelner Kapitalgruppen - z. B. der Monopole -, so ist er erst recht nicht ohne weiteres für die Interessen der Lohnabhängigen zu funktionalisieren. Er kann nur dann für die Durchsetzung der Interessen der Lohnabhängigen genutzt werden, wenn er selbst durch ihre Gegenmacht demokratisch kontrolliert wird.
Der Verwirklichung einer demokratisch kontrollierenden Gegenmacht stehe aber entgegen, daß es dem Staat bislang gelungen sei, sich u.a. durch Wohlfahrtsmaßnahmen die Loyalität der Massen zu erhalten. Hier sei ein Ansatz zur Durchsetzung struktureller Änderungen und Reformen im Interesse der Lohnabhängigen.
Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstverwaltung sind innerhalb der Ebene der Gewerkschaften und der SPD nur dann zu verwirklichen, wenn die Massen der Lohnabhängigen sie als ihre eigene Forderung übernehmen und selbst Druck auf den Staat, seine Institutionen und Organisationen ausüben, um sie durchzusetzen, wobei die Chance der Realisierung des Ziels in dem Maße verstärkt wird, als in diesem Prozeß Sozialisten schon Teilbereiche der Macht des Staates, wie z.B. der Regierung, des Parlaments oder der Verwaltung kontrollieren und diese Macht im Interesse der Lohnabhängigen einsetzen. Dies setze das solidarische Handeln der Lohnabhängigen voraus, was aber durch die Prägung in den verschiedenen Institutionen der Gesellschaft - Schule, Medien usw. - sehr erschwert werde.
Das Konzept der Doppelstrategie bedeute in diesem Zusammenhang: Mobilisierung und Politisierung der Lohnabhängigen einerseits und von den Notwendigkeiten der Klassenauseinandersetzungen her bestimmte Arbeit in den Institutionen andererseits. Die Doppelstrategie ermögliche durch die Mobilisierung bzw. Förderung von Gegenmacht einerseits antikapitalistische Strukturreformen durch zentrale Institutionen, andererseits ein Maximum an direkter demokratischer Einwirkung auf die Veränderungsprozesse. Ohne Mobilisierung und Initiierung von Selbstorganisation wird die angestrebte Erfüllung der Demokratie durch Sozialismus ausbleiben.
Die Jungsozialisten betrachten die organisatorische Zugehörigkeit und die aktive Arbeit in der SPD nicht als taktische, sondern als strategisch notwendige Grundposition, für die keine Alternative sichtbar ist. Ihrem Selbstverständnis entsprechend, lehnen die Jungsozialisten es ab, die sozialistischen Kräfte in der SPD auf den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei zu orientieren.
Dagegen verlangt eine knappe Minderheit den Schwerpunkt der Arbeit auf außerparlamentarische und außerparteiliche Mobilisierungskampagnen zu legen.
Mit großer Mehrheit lehnen die Jungsozialisten eine partielle Korporation zwischen sich und den Kommunisten ab. Die Jungsozialisten wollen ihre Gewerkschafts- und Betriebsarbeit erheblich ausbauen.
Die Jungsozialisten werden ihren Kampf gegen die antidemokratischen Berufsverbote verstärkt fortführen.
Die Jungsozialisten fordern die Aufhebung der Isolationsfolter an den politischen Gefangenen in den Haftanstalten der BRD (d.h. Gleichstellung der politischen Gefangenen mit den anderen Gefangenen und freie Information).
Neue Vorsitzende der Jungsozialisten wird Heidemarie Wieczorek-Zeul mit 197 gegen 50 Stimmen bei 29 Enthaltungen.



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net edition fes-library | Juni 2001