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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
9./11. März 1973

Die Jungsozialisten der SPD veranstalten ihren Bundeskongreß in Bonn-Bad Godesberg unter dem Motto »Sozialismus, weil’s vernünftig ist«.
Im Rechenschaftsbericht des Bundesvorstandes heißt es u.a.: Der Hintergrund der Konflikte zwischen den Führungsorganen der Gesamtpartei und den Jungsozialisten ist theoretischer und strategischer Art. Die Interpretation des im Godesberger Programm angestrebten demokratischen Sozialismus und die dort geforderte neue Gesellschaftsordnung gehen sowohl hinsichtlich der Struktur dieser künftigen Gesellschaftsordnung als auch hinsichtlich der notwendigen Formen des Kampfes für diese neue Gesellschaftsform auseinander.
Der Bundeskongreß geht davon aus, daß unterschiedliche Auffassungen über theoretische und strategische Fragen in rationaler und solidarischer Diskussion ausgetragen werden müssen.
Der Bundesvorsitzende W. Roth erklärt: Wenn von der Loyalität der Jungsozialisten zur Partei die Rede ist, müsse erneut darauf hingewiesen werden, daß im letzten Jahr in Wirklichkeit rechte Sozialdemokraten den Versuch der Parteispaltung unternommen hätten, während linke Sozialdemokraten bis zur Selbstverleugnung loyal geblieben wären, so etwa bei der Abstimmung über die reaktionären Sicherheitsgesetze, bei der die SPD der rechten Kriminalisierungskampagne so unselig entgegengekommen sei. Der Sieg der SPD bei den Wahlen sei vor allem auch ein Sieg der Jungsozialisten, da hierbei kleinbürgerliche Wahlängste nachdrücklich widerlegt worden seien.
Zum Langzeitprogramm erklärt W. Roth: Niemand halte dieses technokratische Lesebuch der Schmidt-Kommission heute noch für tauglich, selbst die Verfasser nicht. Es fehle jegliche Analyse des gesellschaftlichen Status quo; es werde weder der tiefgreifende Klassengegensatz in dieser Gesellschaft angesprochen, noch die Konzentration ökonomischer und damit politischer Macht in den Händen einiger Weniger verdeutlicht; schließlich fehle jegliche Kapitalismuskritik, von der aus erst ein sozialistisches LZP entwickelt werden könnte. Es fehle jede Diskussion über die Bedingungen des Übergangs zum Sozialismus.
Bei der Überarbeitung des Langzeitprogramms der SPD soll folgende Fragestellung vorrangig behandelt werden: Welche Konflikte zwischen den Klassen werden bei der Verwirklichung sozialistischer Entscheidungsprozesse - Festlegung der Ziele und Wege zu ihrer Verwirklichung - entstehen?
Auf Antrag des Bundesvorstandes wird ein Antrag »Perspektiven einer Europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik« angenommen, in dem es u.a. heißt: eine sozialistische Friedens- und Sicherheitspolitik habe sich nicht nur am Zustand der Abwesenheit von Krieg und Gewalt zu orientieren, sondern habe zur Schaffung eines positiven Friedens die innergesellschaftlichen Ursachen des Unfriedens zu beseitigen; die Politik der Abschreckung schaffe durch Aufrüstung und Perfektionierung des Drohsystems immer wieder die Bedingungen des Unfriedens, den sie zu verhindern vorgebe; angesichts von Kernwaffen sei eine Verteidigung der Bundesrepublik nicht mehr möglich, da ihre Entwicklung in einem bewaffneten Konflikt ihre totale Zerstörung zur Folge hätte.
Die Integration in NATO bzw. Warschauer Pakt mitteleuropäischer Staaten könne die Sicherheit in Mitteleuropa nicht garantieren. Die Bundesrepublik müsse in eine europäische Entspannungszone einbezogen werden, in der Kernwaffen und andere Massenvernichtungsmittel weder gelagert noch verwendet werden dürfen und aus der alle fremden Truppen, insbesondere die der USA und der UdSSR abzuziehen seien; die Bundeswehr habe auf atomare Trägerwaffen zu verzichten; Konsequenz aus den Ostverträgen sei die Senkung der Rüstungsausgaben, die Verwendung freiwerdender Mittel im Bereich von Bildung, Gesundheit und Sozialem und die Nichtverlängerung des Devisenausgleichsvertrages mit den USA; die Vergabe von Rüstungsaufträgen sei einer öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen; Bundeswehrhochschulen seien abzulehnen; Waffenlieferungen nach ausländischen Staaten sind zu verbieten; der zivile Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen ist in einen sozialen Friedensdienst umzuwandeln.
Sowohl der »freizügige« Kapitalismus im EWG-Europa als auch der faschistische Kapitalismus in Südeuropa kann nur durch eine politisch bewußte europäische Arbeiterschaft überwunden werden, die sich eine klassenkämpferische Organisation aufbaut. Die Jungsozialisten loben das Zusammengehen der Kommunisten und Sozialisten in Frankreich und bekräftigen ihren Beschluß, in Zukunft verstärkt mit den französischen Sozialisten und Kommunisten und ihren Jugendorganisationen zusammenzuarbeiten.
Die Bundesregierung hätte der chilenischen Regierung von S. Allende sichtbare politische Unterstützung geben müssen.
Der Kongreß verlangt die Aufhebung des sogenannten Ministerpräsidentenbeschlusses über Angehörige extremer politischer Gruppierungen im öffentlichen Dienst; diese Beschlüsse seien verfassungswidrig; die in ihnen enthaltenen Berufsverbote verstoßen gegen das Grundgesetz. Sollte sich eine Aufhebung der Vereinbarung gegenwärtig nicht durchsetzen lassen, werden der Bundeskanzler und die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten aufgefordert, für ihren Verantwortungsbereich den Rücktritt von jener Vereinbarung zu erklären.
Die vorliegenden Pläne zur sogenannten Vermögensbildung sollen fallengelassen werden.
Die Einführung der paritätischen Mitbestimmung soll beschleunigt werden. Die Jungsozialisten sind sich dabei klar, daß es eine gleichberechtigte Beteiligung von Kapital und Arbeit im Kapitalismus nicht geben könne.
Mitbestimmung nicht als Ziel, sondern als Schritt auf dem Weg zur Selbstbestimmung der Arbeitenden über den Produktionsprozeß bleibt weiterhin die Aufgabe der politischen und gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterbewegung.
Der bisherige Bundesvorsitzende W. Roth wird mit 138 gegen 54 Stimmen und 13 Enthaltungen wiedergewählt.



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net edition fes-library | Juni 2001