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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
18. Jan. 1973

Bundeskanzler W. Brandt leitet seine Regierungserklärung mit dem Satz ein, mit dem er am 28. Oktober 1969 schloß: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im Innern und nach außen. Reformen in den Dimensionen, die wir für die Entwicklung in unserem Lande geöffnet haben, brauchen einen langen Atem. Unseren Bürgern geht es besser. Das System der sozialen Sicherung wurde gestärkt. Unsere Wirtschaft blüht, trotz der Sorgen um die Preise. Das ist die Ausgangslage. Es bleibt trotzdem viel zu tun, damit die Bundesrepublik sich im friedlichen Wettbewerb gut behaupten und damit sie als demokratischer und sozialer Bundesstaat weiter ausgebaut werden kann.
Frieden ist heute wie gestern der klare Wille unseres Volkes und das Grundelement unserer Interessen. Man darf sogar sagen: Niemals lebte ein deutscher Staat in einer vergleichbar guten Übereinstimmung mit dem freien Geist seiner Bürger, mit seinen Nachbarn und den weltpolitischen Partnern.
Die Politik der Entspannung und der Reformen muß beharrlich und zielbewußt in die Wirklichkeit des Alltags übersetzt werden. Alltag ist kein schlechtes Wort; es hat mit der Qualität des Lebens zu tun, in der sich unsere Reformen erfüllen müssen. Sie ist das Ziel unserer Arbeit. Grundlage unserer Sicherheit bleibt die Atlantische Allianz. Die Bundesregierung will die Gefahr der Konfrontation in Europa durch kontrollierbare Maßnahmen mindern helfen.
Die Menschen und die Regierenden in den beiden deutschen Staaten haben den Umgang miteinander zu erfahren und zu lernen. Schwierigkeiten und Reibungen werden uns nicht erspart bleiben. Wir wollen einen Zustand erreichen, in dem nicht mehr geschossen wird.
Unser Berlin soll in der Entspannung seine bedeutende und natürliche Funktion finden. Das Regierungs- und das Gesellschaftssystem der DDR wird auch weiter abgelehnt.
Die drängendste Aufgabe, die wir mit den europäischen Partnerstaaten meistern müssen, ist es, wieder mehr Preisstabilität zu gewinnen. Unsere Wirtschaft ist gegenwärtig in einer erfreulichen Aufwärtsentwicklung: Wir haben Vollbeschäftigung; das soziale Klima ist stabil; die Zahlungsbilanz ist ausgeglichen; die Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner, der Selbständigen - nun auch der Landwirte - sind nicht unerheblich gestiegen. Niemand soll glauben, wir könnten mit selbstverständlicher Automatik mehr verdienen, wenn wir weniger leisten. Breitere Schichten der Bevölkerung sollen einen Zuwachs am Produktivvermögen der Großunternehmen erhalten. Der Erwerb von Wohneigentum soll erleichtert werden. Zu den dringenden Aufgaben zählt die Sicherung eines funktionsfähigen Wettbewerbs. Die Bundesregierung beabsichtigt: Die Einbringung des Kartellgesetzentwurfes; die Fortführung der Steuerreform, des Familienlastenausgleichs, der Agrar-Strukturpolitik und gesetzliche Maßnahmen zur Sicherung der Lebensqualität; die Verwirklichung und Weiterentwicklung des Umweltprogramms; die Überprüfung der Befristung des Kündigungsschutzes im sozialen Mietrecht; die Reform des Bodenrechts und des gemeindlichen Planungsrechts; die Vorbereitung einer Bodenwertzuwachssteuer zur Bekämpfung des Preisanstiegs auf dem Bodenmarkt und die Vergrößerung des Angebots an Bauland.
Die Qualität des Lebens ist zu einem zentralen Begriff unserer politischen Arbeit geworden. Sie heißt für uns: Freiheit, auch Freiheit von Angst und Not, Sicherheit auch durch menschliche Solidarität. Sie will das Ziel der Einheitlichkeit unseres Bildungssystems in der Reform, die ein langer und teurer Prozeß ist, sichern. Berufliche und allgemeine schulische Bildung müssen stärker miteinander verflochten, das Berufsbildungsgesetz muß neu gefaßt werden. Die Studienzeiten sollen verkürzt, ein Studienjahr eingeführt und der Numerus clausus abgebaut, die Stätten der Lehre und Forschung dürfen nicht in politische Kampfstätten umfunktioniert werden.
Für Presse- und Medienunternehmen ist eine Fusionskontrolle notwendig. Die Arbeit am Entwurf des Presserechtsrahmengesetzes ist vordringlich.
Es würden sich viele Träume erfüllen, wenn eines Tages öffentliche und private Anstrengungen zur Förderung der Künste in eine Deutsche Nationalstiftung münden könnten. In ihr könnte auch das lebendige Erbe ostdeutscher Kultur eine Heimat finden. Für berufliche, schulische, medizinische und psychische Rehabilitation sollen einheitliche Leistungen gewährt werden, auch für geistig Behinderte.
Die sozialen Einrichtungen der karitativen Organisationen und der freien Wohlfahrtspflege sollen vom Staat nicht angetastet werden. Der medizinische Fortschritt muß allen unseren Bürgern gleichermaßen zugute kommen. Für die Vorsorge und Früherkennung von Krankheiten muß mehr getan werden. Am Grundsatz der freien Arztwahl und einer freien Ausübung der Heilberufe wollen wir festhalten. Vor allem müssen wir den Mißbrauch von Rauschmitteln verhindern helfen.
Den Ausbau der Mitbestimmung sehen wir als eine unserer Hauptaufgaben. Jedermann weiß, daß es zwischen den Regierungsparteien unterschiedliche Auffassungen gibt. Dabei gehen wir schon jetzt aus vom Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit von Arbeitnehmern und Anteilseignern.
Die 18jährigen sollen mehr eigene Verantwortung auch im persönlichen Bereich durch volle Geschäftsfähigkeit und Ehemündigkeit bekommen. Das bisherige Jugendwohlfahrtsrecht soll durch ein partnerschaftliches Jugendhilfegesetz ersetzt werden. Der Ersatzdienst, das Ehe- und Familienrecht und das Recht des Kindes sollen reformiert, als langfristige Aufgabe soll eine eigenständige soziale Sicherung für alle Frauen verwirklicht werden. Neben einem Abbau kinderfeindlicher Tendenzen und dem Ausbau der Familienplanung bedarf es einer Reform des § 218. Demokratie und innere Sicherheit gehören zusammen. Neue Formen des Verbrechens und des Terrors verlangen internationale Zusammenarbeit, um die wir uns energisch bemühen.
Die Justiz- und Strafrechtsreform wird fortgesetzt. Die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten soll gesetzlich geregelt werden. Der Wirtschaftsverbrecher hat keinen Anspruch auf Nachsicht.
Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. Wir wollen Bürger, nicht den Bourgeois. Der Bürgerstaat ist nicht bequem. Demokratie braucht Leistung. Unsere Aufgaben sind ohne harte Arbeit nicht zu erfüllen. Auch nicht ohne den Mut, unangenehme, manchmal sogar erschreckende Wahrheit zu akzeptieren. Der vitale Bürgergeist, der in dem Bereich zu Hause ist, den ich die neue Mitte nenne, verfügt über eine exakte Witterung für die Notwendigkeit der Bewahrung von Grundwerten des Lebens. Er fordert, daß in unserer Gesellschaft die Aufmerksamkeit für die Not des Nächsten nicht verkümmert. Der Wille zur guten Nachbarschaft muß in der Konkurrenz geistiger Kräfte und bei allen realen Konflikten spürbar bleiben. Er sollte auch in den Auseinandersetzungen und in der Koexistenz der großen gesellschaftlichen Gruppen wirksam sein, zumal in der Verantwortungsbereitschaft der Gewerkschaften und der Unternehmer.



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net edition fes-library | Juni 2001