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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
26. Febr. 1971

Auf einer Tagung der Führungsgremien der SPD (Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission) erklärt W. Brandt, er unterschätze die Bedeutung der Vorgänge in der Münchener Partei nicht; sie sind aber nicht der Nabel des politischen Geschehens. Darin, daß sich Sozialdemokratie und Kommunismus grundsätzlich unterscheiden, bestehe mit den Kommunisten Übereinstimmung. Der Parteivorsitzende warnt grundsätzlich davor, das Kommunismus-Thema mit der Frage der Rolle der Jungsozialisten gleichsetzen zu wollen, oder überhaupt in verallgemeinender Form von »den Jungsozialisten« zu sprechen. Bei den Abgrenzungsbeschlüssen gehe es nicht darum, daß Sozialdemokraten sich einer Diskussion entziehen, weil an ihr auch Kommunisten teilnehmen. Im Gegenteil, wir stellen uns der Diskussion, wir messen unsere Argumente mit denen anderer.
Der Parteivorstand der SPD beschließt: Die Parteien haben den Auftrag, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Nicht berührt wird davon die Unabhängigkeit der Abgeordneten aller Parlamente. Sie sind an Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Die politischen Parteien und ihre Organisationen können und sollen nicht nur turnusmäßig durch die Kandidatenaufstellung, sondern auch durch aktuelle Beschlüsse und Stellungnahmen die politische Willensbildung beeinflussen. Deutlich muß jedoch bleiben: Die Begriffe Mitwirkung und Beeinflussung schließen nicht die Vollzugspflicht durch gewählte Abgeordnete und die von ihnen gestellten Organe ein. Die Unabhängigkeit der durch Volkswahl gewählten Mandatsträger in Bund, Ländern und Gemeinden darf nicht angetastet werden.

Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission der SPD bekräftigen: Die SPD ist eine Volkspartei. Als Volkspartei ist sie offen für sachlich unterschiedliche Standpunkte im Rahmen und auf der Grundlage des Godesberger Programms, das für alle Parteimitglieder verbindlich ist. Wer dieses Programm nicht als verbindlich anerkennt, kann nicht Mitglied der SPD sein.
Für die Politik der Partei gelten die Beschlüsse der Parteitage.
Die entscheidende Aufgabe der Partei ist es jetzt, die Regierung zu unterstützen, damit Friedenspolitik und Reformpolitik auch nach 1973 fortgesetzt werden können.
In der SPD ist kein Platz für jene, die aus der parlamentarisch-demokratischen Reformpartei des Godesberger Programms eine Kaderpartei revolutionären Typs machen wollen; für jene, die innerhalb dieser Partei eigene Organisationen mit abweichenden programmatischen Zielen bilden oder zu bilden versuchen und für jene, die in diese Partei hinein wollen, um ihr Schaden zuzufügen oder sie zu spalten.
Die Spitzengremien der Partei erwarten von allen Mitgliedern die unmißverständliche Respektierung des Beschlusses über die Unvereinbarkeit von Aktionsgemeinsamkeiten mit kommunistischen Organisationen, welcher Richtung auch immer.

Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission billigen gegen 7 Stimmen und zwei Enthaltungen die endgültige Fassung des Beschlusses über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunismus.
In diesem Beschluß heißt es u.a.: Die erste sozialdemokratisch geführte Regierung der Bundesrepublik hat mit dem Moskauer und Warschauer Vertrag erste große Schritte zur Verbesserung der Beziehungen mit der Sowjetunion und Polen getan. Weitere Schritte des Ausgleichs mit den kommunistischen Regierungen Osteuropas werden folgen. Das besondere Bemühen der Bundesregierung gilt der Entkrampfung der Beziehungen zu dem von Kommunisten regierten Staat im anderen Teil Deutschlands, der Verhinderung weiteren Auseinanderlebens und der Erhaltung der Verbindung zwischen den Deutschen in beiden Teilen. Diese Friedenspolitik ist eine notwendige, aber schwierige Aufgabe; schwierig, weil es sich um die Verbesserung der Beziehungen zwischen Staaten und Völkern handelt, in denen grundverschiedene politische Ordnungen bestehen: Freiheitliche Demokratie auf der einen, kommunistische Parteidiktatur auf der anderen Seite. Keine Friedenspolitik, keine außenpolitische Annäherung kann diesen Gegensatz der Systeme beseitigen, keine darf ihn übersehen.
Friedenspolitik und Sicherung der Freiheit gehören für die deutsche Sozialdemokratie untrennbar zusammen. Darum wird sie bei ihrem Bemühen um außenpolitische Verständigung mit den kommunistisch regierten Staaten niemals eine Verwischung der grundsätzlichen Gegensätze zulassen, die sozialdemokratische und kommunistische Zielvorstellungen und Durchsetzungsmethoden voneinander trennen. Ungeachtet aller unterschiedlichen Entwicklungen ist ein Faktor unverändert geblieben: die Intoleranz der kommunistischen Parteien gegenüber jenen, die nicht einer Meinung mit ihnen sind und der Anspruch darauf, daß ihre eigene totalitäre Ideologie die einzige gültige Sozialphilosophie sei.
Weil wir in Freiheit leben wollen, werden wir verhindern, daß uns die kommunistische Ideologie aufgezwungen wird.
Das Bekenntnis zur rechtsstaatlichen Demokratie, zur politischen und geistigen Freiheit ist für die Sozialdemokratie unabdingbar. Die Sozialdemokratie ist sich dessen bewußt, wie weit unsere heutige Gesellschaft trotz aller bisher von uns erkämpften Verbesserungen noch von wirklicher Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit entfernt ist. Verschiedene Formen des öffentlichen Eigentums, der staatlichen Wirtschaftslenkung, der Mitbestimmung in der Wirtschaft und der Sicherung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Unternehmungen sind Mittel zur demokratischen Kontrolle wirtschaftlicher Macht und zur Sicherung der sozialen Rechte der Arbeitenden. Die freiheitliche Demokratie hat sich unter dem gemischten Wirtschaftssystem mit vorwiegend privatem Eigentum und planender staatlicher Wachstums- und Stabilitätspolitik, das heute in den fortgeschrittenen Ländern des Westens herrscht, weiterentwickelt. Auch die Bundesrepublik hat sich auf einer sozialen Grundlage als politisch stabil, wirtschaftlich leistungsfähig und sozial entwicklungsfähig erwiesen.
Der entscheidende Gegensatz zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Politik liegt nicht in der verschiedenen Haltung zum Privateigentum, sondern im Gegensatz von Rechtsstaatlichkeit und Willkür, von freiheitlicher Demokratie und Parteidiktatur, von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung.
Der demokratische Sozialismus wird auch in Zukunft die politische Alternative zum Kommunismus sein.
Alle Reformen der Kommunisten werden wir danach bewerten, ob sie in der Praxis zur Selbstverwirklichung des Menschen führen, der als gesellschaftliches Wesen nach Freiheit und Selbstbestimmung strebt. Sozialdemokratische Politik kann sich nicht das Ziel setzen, die kommunistisch regierten Länder zu »befreien« - auch nicht die DDR. Ein Wandel der kommunistischen Ordnung kann nur von innen kommen. Sozialdemokratische Politik muß die demokratische Grundlage unserer eigenen politischen Ordnung ebenso entschlossen gegen alle kommunistischen Angriffe verteidigen, wie sie sich bemüht, ihren sozialen Inhalt zu verbessern.
Die Kommunisten erklären immer wieder, die von ihnen propagierte »friedliche Koexistenz« zwischen Staaten mit verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Systemen bedeute für sie keine »ideologische Koexistenz«, also keinen Verzicht auf schärfste Kritik aller nichtkommunistischen Ideen und Institutionen. Die deutsche Sozialdemokratie nimmt diese Herausforderung an. Sie hat sich seit ihrer Entstehung immer wieder an den Kreuzwegen der deutschen Geschichte für die Demokratie entschieden. Das kommunistische System der DDR ist auch heute keine annehmbare Alternative zu unserer freiheitlichen Ordnung. Die Sozialdemokratie bekennt sich erneut zu der Aufgabe, diese Ordnung kompromißlos gegen alle kommunistischen Irrlehren zu verteidigen.



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net edition fes-library | Juni 2001