Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten in Bremen sprechen u.a. W. Brandt, H. Wehner und H. Ehmke. W. Brandt weist darauf hin, daß das Tempo der Reformen entscheidend von den wirtschaftlichen Ressourcen abhängt, die freigemacht werden können. Wenn wir nicht für wirtschaftliche Stabilität und für finanzpolitische Solidarität sorgen, dann wird man uns nicht folgen. Wir gehen schrittweise vor, weil die Komplexität und Vielfalt unserer Gesellschaft uns keine andere Möglichkeit läßt. Wer heute die Gesellschaft verändern will, der muß an einzelnen Mißständen ansetzen, diese beseitigen und Neues schaffen. Und zwar Neues, das besser ist.
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
11./13. Dez. 1970
Es wäre also gut, wenn uns die Jungsozialisten dabei helfen, realistische Reformvorschläge zu entwickeln, das Bewußtsein der Mitbürger auf die neuen Notwendigkeiten einzustellen, und -natürlich - auch die Wahlen zu gewinnen.
Beträchtliche Teile der Bevölkerung hätten die Notwendigkeit von Reformen erkannt, aber viele hätten unbestimmte Angst vor unübersehbaren Veränderungen. Und die Jungsozialisten werden zum Buhmann gemacht, um diese Angst zu schüren. Laßt euch nicht zum Buhmann machen!
Initiative zur Reform und die Phantasie im Ausdenken von Alternativen gesellschaftlicher Wirklichkeit liegen manchmal ganz nahe beim Mißbrauchtwerden zur Verhinderung jeglicher Veränderungen. Es ist auch nicht hilfreich, wenn man abstrakt und polemisch behauptet, bestimmte Reformen müßten abgelehnt werden, weil sie den Leistungscharakter der Gesellschaft stärken würden. Glaubt jemand ernsthaft, wir könnten die Gesellschaft reformieren, wenn wir nicht gleichzeitig die Leistungen steigern! Ein modernes, fortschrittliches Deutschland kostet Geld, viel Geld!
Die SPD müsse als Ganzes den Weg finden, der zugleich die Phantasie für eine bessere Gesellschaft und das Gewinnen von Wahlen zulasse. Der Kurs sei im Godesberger Programm festgelegt, und die Partei werde sich von diesem Kurs nicht abbringen lassen. Ich möchte die Jungsozialisten bitten, die Anstrengung auf diesem Weg der schrittweisen Veränderung zu verstärken und das Gewinnen des Vertrauens der Mehrheit unseres Volkes in seiner vollen Bedeutung zu erkennen.
Die Arbeitsgemeinschaften stellen Beratungsgremien für die verantwortlichen Körperschaften der Partei dar. Es kann keine Partei in der Partei geben, und man kann auch nicht in zwei Parteien zugleich sein.
Man erfährt aus den vorliegenden Anträgen und Veröffentlichungen wenig darüber, was die Jungsozialisten für die von der Partei beschlossene Politik tun wollen - vor allem im Hinblick auf die Vertretung sozialdemokratischer Auffassungen und Forderungen innerhalb der jungen Generation.
Es muß mit aller Klarheit festgehalten werden: Es kann nach dem Charakter der deutschen Sozialdemokratie weder eine »Einzelstrategie« noch eine »Doppelstrategie« gegenüber der eigenen Partei geben. Es kann nur eine Politik und eine Strategie der SPD geben, und die werden vom Parteitag, den dort gewählten Gremien und von der Bundestagsfraktion bestimmt.
Unsere praktische Politik beweist, daß wir frei sind von primitivem Antikommunismus. Aber wo kommen wir hin, wenn wir nicht - neben der Bereitschaft zur Entspannung und zur Verständigung der Völker - auch in aller Deutlichkeit sagen, welches die gegensätzlichen Positionen und Überzeugungen sind! Die Kommunisten tun es, wir tun es. Das eigentliche Motiv der Entschließung der Parteigremien war es, den sich in letzter Zeit häufenden Versuchen der DKP entgegenzuwirken, ihre schmale Basis zu erweitern und ihr nahestehende Publikationsorgane durch Garnierung mit Namen von SPD-Politikern aufzuwerten. Das machen wir nicht mit. Wir sind verantwortlich für eine starke und integre deutsche Sozialdemokratie. Zur Glaubwürdigkeit der SPD gehört, daß die prinzipiellen Gegensätze gegenüber dem Kommunismus nicht verkleistert werden.
Trotzdem sprechen sich zahlreiche Diskussionsredner für Aktionsbündnisse mit kommunistischen Organisationen aus.
W. Roth erläutert die »Doppelstrategie«. Wir sagen: Es reicht nicht aus, in den Institutionen der Kommunalpolitik, der Landesparlamente, des Bundestages so zu tun, als könnte man über schnelle Formulierungen zu besseren Gesetzen kommen, die diese Aufgabe so wahrnehmen helfen, wie wir uns das vorstellen. Sondern die Doppelstrategie beginnt darin, daß wir im Wohnungssektor Konflikte schaffen, Konflikte gegenüber denen, die im Augenblick Eigentümer, d.h. Kapitalisten, an der Wohnung sind.
Doppelstrategie heißt aber auch, daß nach einer Aktivierung und Mobilisierung diese Konflikte von den Institutionen, beispielsweise von der Gemeinde, beispielsweise vom Land und schließlich auch von Gremien des Bundes, aufgenommen werden müssen, eben in einem Konflikt gegen diejenigen in der Gesellschaft, die bisher aus der Organisation des Wohnungssektors Gewinne und Profite gezogen haben. Weitere Schwerpunkte für die Doppelstrategie sind die Berufswelt der Arbeitnehmer und die Lage in den Betrieben.
Im Verlauf der Diskussion läßt die Mehrheit der Delegierten keinen Zweifel, daß sie künftig innerhalb der SPD die Taktik der »begrenzten Konflikte« anwenden wolle, aber nicht auf einen Bruch mit der Partei hinarbeite. Die Jungsozialisten stellen fest: Zur Zeit ist es durch die Verfilzung der verschiedensten subjektiven Interessenlagen quer durch die Klasse der Lohnabhängigen in der Bundesrepublik nicht möglich, eine radikale Veränderung des kapitalistischen Systems zu erreichen. Eine neue Wirtschaftsverfassung muß schrittweise eingeführt werden, ohne daß dadurch Belastungen der Stabilität oder gar handfeste Wirtschaftskrisen entstehen dürfen.
In der Ausweitung der EWG sehen die Jungsozialisten eine Verstärkung der Kapital- und Industrieinteressen.
Die Steuerpolitik soll eine gleiche Einkommensverteilung ermöglichen, das Wachstum an den Bedürfnissen orientiert werden; der Zuwachs der Konsumgüter-Produktion ist einzuschränken. Die unabdingbare Voraussetzung für jede Reformpolitik besteht darin, daß die Reformen nicht systemerhaltend, sondern systemverändernd sind.
Die Vermögenspolitik kann den Lebensstandard der Arbeiter und Angestellten nicht verbessern; daher sind individuelle Vermögenspläne völlig überflüssig. Eine Änderung der skandalösen Vermögensverteilung kann nur durch überbetriebliche Gewinnbeteiligung erreicht werden. Die Umverteilung muß über einen Kollektivfonds organisiert werden.
Zur Ausgestaltung der Mitbestimmung beschließt der Kongreß: Wahl eines Sprechers durch den jeweiligen Arbeitsbereich, der in engem Verbund mit den gewerkschaftlichen Vertrauensleuten den Betriebsrat bei seiner Arbeit unterstützt; Wahl und Abwahl der Vorgesetzten durch die ihnen Unterstellten; alle Abteilungs- bzw. Arbeitsbereichsleiter haben ihre Maßnahmen auf Arbeitsbereichsbesprechungen zu begründen; Autonomie der Arbeitsbereiche bei der Arbeitszerlegung, -verteilung und -bewertung, insbesondere bei Festsetzung der Verdienstunterschiede; Vetorecht der betroffenen Arbeitsbereiche bei allen Produktionsänderungen, -umstellungen und -stillegungen, die sie unmittelbar betreffen; Vetorecht des Betriebsrates gegen alle Planungen der Unternehmensleitung; Offenlegung aller Geschäftsunterlagen und Planungen gegenüber dem Betriebsrat; dieser kann Sachverständige von außen heranziehen; Wegfall der Schweigepflicht des Betriebsrates; Möglichkeit zur Abwahl des Betriebsrates und Aufhebung seiner Friedenspflicht; keine Einschränkung der politischen Betätigung im Betrieb; Aufhebung der Geheimhaltungspflicht der Arbeitnehmervertreter; Einsichtnahme in das gesamte Finanz- und Rechnungswesen; Kooperationsverträge und sonstige Verpflichtungen zwischen den Unternehmen sind durchsichtig zu machen; Kontrolle der Arbeitnehmervertreter und Abwahlmöglichkeit bzw. freiwilliger Rücktritt bei Mißtrauensvotum durch die Arbeitnehmer.
Als Ziel der Erziehung im Elementarbereich (3. bis 5. Lebensjahr) fordern die Jungsozialisten, Methoden zu entwickeln, die die Kinder befähigen, später aktiv an der Veränderung der Gesellschaft im Sinne ihrer Demokratisierung mitzuarbeiten. Zwar soll die enge Fixierung der 3- bis 5jährigen Kinder an das Elternhaus durch ihre Integration in eine gleichartige Gruppe gelockert werden, die Familie als prägender Erziehungsfaktor jedoch nicht übersehen werden. Die Schüler sollen politisch mobilisiert, die Demokratisierung der Schule durchgesetzt werden.
Berufliche Bildung ist künftig in einer integrierten Gesamtschule zu betreiben, die demokratisch organisiert ist. Damit soll die bisherige klassengebundene Trennung von »Bildung« und »Ausbildung« überwunden werden.
Diese Neuregelung ist erforderlich, weil die bisherigen Ausbildungswege der Forderung nach Selbstbestimmung und umfassender Bildung aller nicht gerecht werden.
Die Bildung junger Menschen darf nicht mehr von den Interessen der Unternehmer abhängig sein. Sie muß vielmehr den individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen genügen.
Zu fordern ist, daß die integrierte Gesamtschule die Einsicht in die Produktionsprozesse und die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse vermittelt und jedem Schüler deutlich macht, daß diese Verhältnisse veränderbar sind. An die Vermittlung der Grundkenntnisse schließt ein durchlässiges System ohne Jahrgangsklassen an, das zu berufsqualifizierenden Abschlüssen (einschließlich der studienqualifizierenden) führt. Die Zahl der Berufsbilder ist drastisch zu reduzieren; eine Spezialisierung hat so spät wie möglich einzusetzen. Die praktische Bildung muß in schulischen Ausbildungswerkstätten erfolgen. Der Anteil der theoretischen Bildung an den berufsbezogenen Bildungsgängen muß möglichst hoch sein, um die Mobilität der Ausgebildeten zu fördern.
Die Finanzierung der Bildung ist öffentliche Aufgabe. Zur Aufbringung der Kosten für die technischen Einrichtungen der Schulen (Schulwerkstätten) wird die Wirtschaft über einen Ausbildungsfonds zur Kostenbeteiligung herangezogen.
Es sind Modelle öffentlicher Berufsbildungsinstitutionen zu schaffen (z.B. öffentliche Ausbildungswerkstätten und Ausbildungszentren).
Wo es möglich ist, sind integrierte Gesamtschulen unter Einschluß der Berufsbildung als Schulversuche mit Modellcharakter einzurichten.
Der Anteil des Berufsschulunterrichts an der beruflichen Bildung muß ständig gesteigert werden.
Den in der Bundesrepublik lebenden Ausländern soll der volle Rechtsschutz gewährt, die politische Betätigung im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung garantiert werden und sie sollen das Wahlrecht bei Kommunalwahlen erhalten.
Mit einer Reform des öffentlichen Dienstes soll die Privilegierung der Beamten gegenüber Angestellten und Arbeitern wegfallen.
Parteienverbote sind in angemessenen Zeiträumen zu überprüfen.
Der Kongreß spricht sich für den legalisierten Schwangerschaftsabbruch, einen besseren Mutterschutz sowie eine umfassende Neuordnung des Gesundheitswesens aus. Der Kongreß fordert überdies die Bundesregierung auf, die Zuschüsse an die Vertriebenenverbände generell einzustellen.
K. Voigt wird mit 138 von 201 Stimmen wieder zum Vorsitzenden gewählt. Sein Gegenkandidat N. Gansel erhält 59 Stimmen.