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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
11./14. Mai 1970

Parteitag der SPD in Saarbrücken mit 335 Delegierten.
Tagesordnung: Rechenschaft (H. Wehner); Die öffentliche Finanzpolitik als gesellschaftspolitische Aufgabe (A. Möller); Wirtschaftspolitik in ihren europäischen und internationalen Zusammenhängen (K. Schiller); Unsere politische Richtlinie für die siebziger Jahre (W. Brandt).
In den Arbeitsgemeinschaften werden folgende Themen behandelt: Bildungspolitik als Schwerpunktaufgabe unserer Reformen und Die moderne Parteiorganisation im Wahlkampf.
In seiner Eröffnungsrede betont H. Schmidt, daß die SPD die Chance nutzen will, diesem Jahrzehnt den sozialdemokratischen Stempel aufzuprägen.
Für H. Wehner bedeuten Sozialdemokratie und demokratischer Sozialismus: So viel Sozialismus wie nötig, um Demokratie für alle zu verwirklichen. So viel Sozialismus wie möglich, ohne die Demokratie für alle zu ersticken. Ziel aller sozialdemokratischen Politik sei die Bewahrung des Friedens, die aktive Teilnahme an der Überwindung des Hungers, die Vertiefung der sozialen Demokratie, die Humanisierung der Gesellschaft und die Stärkung der Freiheit jedes einzelnen.
K. Schiller hebt hervor, daß ohne ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit keine Politik der inneren Reform betrieben werden kann.
W. Brandt erklärt: Die SPD ist fähig, die Bundesrepublik zu führen. Sie ist in der Lage, die Verantwortung wahrzunehmen, die ihr übertragen wird. Und sie ist unzertrennlich, wenn es darum geht, für Frieden, Freiheit und Fortschritt einzutreten. Godesberg ist und bleibt die gültige Grundlage sozialdemokratischer Politik in der Bundesrepublik. Sie ist für uns alle verbindlich.
Eine umfassende Theorie des demokratischen Sozialismus, der modernen Sozialdemokratie, braucht Zeit. Was wir jedoch dringend brauchen, das ist ein gesellschaftspolitisches Gesamtkonzept, ein quantifiziertes Langzeitprogramm der deutschen Sozialdemokraten. Dazu brauchen wir nicht nur die Kraft der Konzeption, sondern auch den Mut zur alternativen Entscheidung über langfristige Prioritäten. Wir brauchen Zielvorstellungen und Zukunftsplanungen. Bloße Utopien nimmt man uns nicht ab. Die Menschen, um deren Vertrauen wir ringen, erwarten eine Politik der praktischen Vernunft, nicht der verbalrevolutionären Akrobatik. Wenn ich das sage, so verkenne ich nicht die Bedeutung der theoretischen Arbeit und auch nicht die Bedeutung eines idealistischen Aktivismus, der die Lässigen zum Eifer und die Säumigen zur Eile antreiben will. Beides ist notwendig, für beides ist in unserer Partei Raum, muß Raum sein. Die SPD würde sich selbst aufgeben, wenn sie die Freiheit der Meinungsbildung in ihren eigenen Reihen beschneiden wollte. Aber es gilt auch, Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit dazu darf nicht eingeschränkt werden. Es gilt auch, zu verhindern, daß die Anhänger und die Wähler unserer Partei durch nebulöse Schlagworte verwirrt werden. Es gilt andererseits, uns selbst nicht verwirren zu lassen durch Klugredner, die uns einen blinden Pragmatismus andichten wollen.
Die Aufgaben der Zukunft sind nur auf dem Wege und mit den Mitteln der Demokratisierung zu bewältigen, deshalb bezeichne ich als die politische Richtlinie der SPD für die siebziger Jahre die Verwirklichung der sozialen Demokratie, das heißt die Demokratisierung unserer Gesellschaft. Und Demokratisierung heißt hier - damit es keine Unklarheiten gibt - zielstrebiger Abbau von Privilegien auf allen Gebieten und Mitbestimmung.
Ohne wirtschaftliches Wachstum keine inneren Reformen, und andererseits: ohne innere Reformen langfristig kein wirtschaftliches Wachstum.
Das wirtschaftliche Leistungspotential unseres Volkes ist groß genug, um die Möglichkeit einer permanenten Verbesserung der Lebensbedingungen aller kontinuierlich zu erhöhen. Doch es wird für die künftigen Aufgaben nur groß genug bleiben, wenn wir eine bessere Infrastruktur und bessere Umweltbedingungen schaffen.
Weithin fehlt das notwendige Wissen, die Einsicht in die Bedingungen, unter denen wir im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts leben müssen, wenn wir auf einen angemessenen Platz unter den Völkern der Erde Wert legen. Es muß in das Bewußtsein der Bürger eindringen, daß Sicherheit nur in der Dynamik, Stabilität nur im Wachstum, Aufstieg nur über Bildung und Ausbildung und Kontinuität nur im Wandel zu erreichen und zu bewahren ist. Ich rede hier nicht einem unkritischen Wachstums- und Mobilitätsfetischismus das Wort und schon gar nicht einer blinden Fortschrittsgläubigkeit.
Wir werden klare und der Bevölkerung einsichtige Prioritäten herausarbeiten müssen, um unter den erreichbaren Alternativen die für eine jeweilige Zeitspanne wichtigsten herauszusuchen. Und wir müssen uns selbst und den Bürgern klarmachen, was unsere Reformvorstellungen kosten. Dies zwingt zur Wahl zwischen verschiedenen Alternativen. Dazu bedarf es sorgfältiger Entscheidungen. Als Grundlage brauchen wir ein gesellschaftspolitisches Gesamtkonzept, das unsere Vorstellungen qualifiziert und die Durchführung quantifiziert. Prioritätsmodelle und Alternativrechnungen, die Rückkoppelungen und Nebenwirkungen offenlegen, werden uns nicht nur zeigen, was wir erreichen können und welche Aufwendungen dazu notwendig sind, sie werden auch Auskunft darüber geben, was es gesamtwirtschaftlich bedeutet, bestimmte Aufgaben nicht durchzuführen. Wir brauchen die künftigen realen Wachstumsmöglichkeiten nicht zu unterschätzen. Die letzten Jahre haben sehr deutlich gezeigt, wie steigerungsfähig die Leistung dieser Volkswirtschaft ist.
Wir wollen Ernst machen mit der Integration der Arbeiter. Die breiten Schichten unseres Volkes sollen sich nie mehr an den Rand des gesellschaftlichen Lebens versetzt fühlen.
Es ist zu betonen, wie wirklichkeitsfremd eine deutsche Politik in dieser Zeit ohne Verankerung im atlantischen Bündnis wäre. Da das so ist, muß man wissen, daß es einen Verteidigungsbeitrag ohne beträchtliche finanzielle Lasten nicht gibt. Unsere Bereitschaft zum geregelten Nebeneinander zwischen den beiden Staaten in Deutschland darf nicht aufgefaßt werden, als hißten wir in der ideologischen Auseinandersetzung die weiße Fahne. Wir bleiben auch in dieser Phase der Entwicklung deutsche Demokraten und europäische Sozialisten.
Die deutsche Sozialdemokratie hat in den 20 Jahren der Bundesrepublik den Beweis erbracht, daß die Gesellschaftsordnung dieses unseres Staates auf demokratischem Wege entwickelt und verändert werden kann in Richtung auf größere soziale Gerechtigkeit, und wir werden fortfahren, durch die Tat diesen Beweis zu erbringen.
Der Parteitag begrüßt, daß die erste sozialdemokratisch geführte Bundesregierung die Friedenspolitik fortführt und konsequent weiterentwickelt, die Bundeskanzler W. Brandt als Bundesminister des Auswärtigen als die auf den Generalnenner der Friedenssicherung orientierte deutsche Politik geformt hat. Der Parteitag stellt fest, daß diese Politik den auf dem Nürnberger Parteitag 1968 und dem Godesberger Parteitag 1969 verabschiedeten Entschließungen zur Außen- und Deutschlandpolitik entspricht. Er stellt sich uneingeschränkt hinter die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 und den Bericht »Zur Lage der Nation« am 14. Januar 1970.
Die Mehrheit des Parteitages billigt nicht die grundsätzlichen Aussagen des Jungsozialistenkongresses in München zum Charakter der Bundesrepublik und der SPD. Der Parteitag macht sich vielmehr die Stellungnahme des Parteivorstandes vom April zu eigen.
Die Bundesregierung soll die Politik der Vollendung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft beharrlich fortsetzen. Die Initiative der Bundesregierung, in Abstimmung mit den Bündnispartnern zu einer gleichmäßigen und gleichwertigen Truppenverminderung in Ost und West beizutragen, verdient nachhaltige Unterstützung. Die Bemühungen um Entspannung bilden eine Einheit. Dazu gehört, ausgehend von der wirklichen Lage, die Normalisierung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und den Staaten des Warschauer Pakts ebenso wie die Regelung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und eine befriedigende Regelung der Situation in und um Berlin.
Der Parteitag begrüßt das Treffen von Erfurt und spricht die Erwartung aus, daß die Begegnung in Kassel zu einem Ergebnis führt.
Der Parteitag begrüßt die Bemühungen, mit der Sowjetunion zu einem Gewaltverzichtsabkommen zu gelangen und eine allgemeine Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen herbeizuführen sowie die Initiative, das deutsch-polnische Verhältnis zu normalisieren, wobei dem Anspruch des polnischen Volkes auf Beibehaltung seiner gegenwärtigen Grenzen Rechnung getragen werden muß.
Der Parteitag bekräftigt das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung und die Einbeziehung West-Berlins in die Entspannungspolitik der Bundesregierung. Die Bundesregierung soll bei den vorgesehenen Vier-Mächte-Gesprächen über Berlin auf eine Garantie des freien Personen- und Güterverkehrs auf allen Zugangswegen zwischen Westdeutschland und West-Berlin auch durch die DDR, und auf die Beseitigung der Diskriminierung der West-Berliner gegenüber den Westdeutschen hinwirken. Darüber hinaus ist die Respektierung der politischen, wirtschaftlichen, finanziellen und rechtlichen Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik sicherzustellen. Der Parteitag fordert das weltweite Verbot der Herstellung, Lagerung und Anwendung atomarer, chemischer und biologischer Waffen und die Verweigerung jeder wissenschaftlichen oder technisch-industriellen Mitwirkung an der Entwicklung oder Herstellung solcher Waffen.
Spätestens bis zum Ende dieses Jahrzehnts sollen mindestens 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes, aus öffentlichen Mitteln, für Zwecke der Entwicklungshilfe bereitgestellt werden.
Der Parteitag fordert die Vertreter der Partei in internationalen Gremien - wie z.B. der Sozialistischen Internationale - auf, sich dafür einzusetzen, daß die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aufgenommen wird.
Die SPD bekundet allen, die aus demokratischer Gesinnung der griechischen Militärjunta Widerstand leisten, ihre Hochachtung und ihre Solidarität. Jede politische Tätigkeit anti-demokratischer griechischer Organisationen in der Bundesrepublik ist zu verbieten. Politischen griechischen Emigranten ist großzügig Asyl zu gewähren.
Es ist dafür zu sorgen, daß Spanien, Portugal und Griechenland keine Waffen geliefert werden. Entwicklungshilfekredite an Spanien sind nur unter der Voraussetzung zu geben, daß zweifelsfrei mit diesen Mitteln friedliche Projekte gefördert werden, die allen Schichten der spanischen Bevölkerung zugute kommen.
Der Parteitag begrüßt die Erklärung des Büros der Sozialistischen Internationale zur Lage in Südostasien vom 4. Mai 1970, in der es heißt: Die SI hat in der Vergangenheit mehrfach die militärischen Aktivitäten aller am Konflikt in Südostasien Beteiligten verurteilt. Sie bedauert darum die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, den Krieg nach Kambodscha auszuweiten und die Bombardierung auf Nordvietnam wieder aufzunehmen. Erneute Anstrengungen, um zu einer politischen Lösung des Problems in diesem Gebiet zu gelangen, müssen angestrebt werden.
Die NPD soll verboten werden.
Der Parteitag begrüßt, daß die Verwirklichung des auf dem Parteitag 1964 in Karlsruhe erarbeiteten Programms zur Reform der Bundeswehr in Angriff genommen wurde. Er unterstreicht den im Grundgesetz verankerten Primat der Politik gegenüber der Bundeswehr. Die begonnene freimütige Diskussion innerhalb der Streitkräfte muß fortgesetzt und vertieft werden, um ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Soldaten zu fördern. Die Grundsätze vom »Staatsbürger in Uniform« sind unantastbar. Eine Modernisierung der Bildung und Ausbildung innerhalb der Bundeswehr soll zur Integration des Bildungswesens in das zu errichtende Bildungssystem führen; die Wehrungerechtigkeit muß beseitigt werden, daß kann zu einer Verkürzung des Grundwehrdienstes führen; seine Dauer bedarf der sorgfältigen Überprüfung. Es ist notwendig, die Fürsorge für Wehrpflichtige, Zeit- und Berufssoldaten zu erweitern und auszubauen.
Die Staaten des Warschauer Paktes sollen sich in Zukunft mit ihrer militärischen Hilfe an arabische Staaten so zurückhalten, wie es die Regierung der USA gegenüber Israel zur Zeit tut.
Die SPD hat mit dem »Modell für ein demokratisches Bildungswesen« Maßstäbe für die bildungspolitische Reformdiskussion gesetzt.
Bund und Länder sollen einen Gesamtbildungsplan entwickeln und ein Gesamtbildungsbudget vorlegen. Das zehnte Schuljahr soll als Berufsgrundschuljahr eingeführt werden. Die steigenden Schülerzahlen müssen in der Schulbauplanung und beim Studienplatzangebot der Hochschulen berücksichtigt, der Numerus clausus beseitigt werden.
Für die Bildungsplanung muß eine demokratische Willensbildung aller am Bildungswesen beteiligten Gruppen gewährleistet sein. Bis 1975 ist ein Anteil von 6 Prozent, am Ende des Jahrzehnts von 8 Prozent des Bruttosozialproduktes für Bildung und Wissenschaft anzustreben.
Ganztagsschulen als integrierte Gesamtschulen sind das bildungspolitische Ziel der SPD. Die Lehrer aller Schulstufen sollen in integrierten Gesamthochschulen ausgebildet, die Lehrerbesoldung muß den hohen qualitativen Anforderungen und der verbesserten Ausbildung angepaßt werden. Hierarchische Strukturen innerhalb der Hochschullehrerschaft sind abzubauen. An den Hochschulen müssen bei allen Entscheidungen über Organisation, Lehrinhalte und Forschungsfragen die Beteiligten mitwirken.
Es darf nur in Betrieben ausgebildet werden, die die Verflechtung mit der Schule und eine vollwertige Berufsausbildung gewährleisten. Überbetriebliche Ausbildungsstätten sind ein Erfordernis moderner Berufsausbildung. Bei der Durchführung der Berufsbildung ist die gleichberechtigte Mitwirkung aller Beteiligten, auch der Gewerkschaften, sicherzustellen. Bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Systems der Ausbildungsförderung ist das gegenwärtige Förderungssystem zu verbessern. Die Kostenfreiheit des Schulweges muß gesichert, es sollen keine Studiengebühren mehr erhoben werden. Die Erwachsenenbildung muß zum Teil des Bildungssystems werden. Dem Arbeitnehmer soll ein gesetzlicher Anspruch auf Bildungsurlaub zustehen.
Die Partei soll die innere Struktur der Schulen diskutieren und das »Modell für ein demokratisches Bildungswesen« ergänzen. Die Partei muß die politische Bildungsarbeit intensivieren.
Die Gründung eines Europäischen Jugendwerkes soll beschleunigt, ein deutsch-polnisches angestrebt werden.
Das deutsche Volk soll seine Leistungsfähigkeit und seinen Friedenswillen in Großprojekten für den Frieden beweisen. Sie können helfen, folgende dringenden Gemeinschaftsaufgaben in der Bundesrepublik zu lösen: Die Überwindung des undemokratischen Bildungsgefälles; den Bau von Bildungs- und Sportstätten; die Planung und den Bau von menschenwürdigen, gesunden Städten und ländlichen Siedlungen; die Sanierung des Nahverkehrs und die Beseitigung von chronisch gewordenen Schäden an unserer Umwelt. Großprojekte für den Frieden sind auch die großen Entwicklungsvorhaben im Ausland. Als Träger von Großprojekten für den Frieden bietet sich ein deutscher Friedensdienst an, auch als Alternative zum Wehrdienst.
Die Gesetzgebung zum Umweltschutz soll beschleunigt werden, vor allem die Sicherung reiner Luft und reinen Wassers sowie der Schutz gegen vermeidbaren Lärm. Die Interessen einzelner Wirtschaftszweige und die Ansprüche der Allgemeinheit müssen in ein vernünftiges, ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht, die Vorschriften für den Natur- und Landschaftsschutz den Notwendigkeiten der nächsten Zukunft angepaßt werden.
Die Zahl der Bundesländer soll verkleinert, sie müssen auch neu gegliedert werden.
Alle öffentlichen Unternehmen, für die kein oder zumindest kein wesentlicher Wettbewerb besteht, wie die Unternehmen der Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung, sollen nicht privatisiert werden.
Die Kilometer-Pauschale soll wieder von 36 auf 50 Pfennig erhöht werden.
Die Preisbindung der zweiten Hand ist aufzuheben; die Preisgestaltung marktbeherrschender Unternehmen und Preisabsprachen sind einer verschärften Kontrolle zu unterziehen. Bei Agrarerzeugnissen sollen die in der Erzeugerstufe durchgeführten Preissenkungen an den Verbraucher weitergegeben, die Verbraucheraufklärung soll durch Preisberichte im Fernsehen verstärkt werden.
Für Landwirte muß die Pflichtkrankenversicherung eingeführt und die für ihre mithelfenden Familienangehörigen verbessert werden.
Das System der sozialen Sicherung ist umfassend weiterzuentwickeln. Dazu gehören: die Beseitigung der Pflichtgrenze in der Krankenversicherung für Angestellte und eine Anpassung ihrer Beitragsbemessungsgrenze an die Rentenversicherung; die Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung; die Einbeziehung der Selbständigen in die Altersversicherung; die Gleichstellung der Hausfrauenarbeit mit jeder anderen Berufstätigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne. Die Sozialpolitik muß sich verstärkt derjenigen annehmen, die durch ein persönliches Lebensschicksal betroffen und deshalb im gesellschaftlichen und beruflichen Leben benachteiligt sind. Die medizinische, berufliche und soziale Habilitation bzw. Rehabilitation, vor allem für körperlich und geistig Behinderte, und die Arbeitsmedizin sind auszubauen und zu koordinieren. Weitere Forderungen sind: eine flexible Altersgrenze; Förderung der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sowie der Unfallforschung; eine Lösung des Problems der älteren Arbeitnehmer; gesetzliche Sicherung der Arbeitnehmer aus einer betrieblichen Altersversorgung im Falle des Arbeitsplatzwechsels oder Arbeitsplatzverlustes. Eine Sonderkommission soll sich mit Reformvorschlägen für das Gesundheits- und Krankenhauswesen befassen.
Die Intensivierung der Vermögensbildung in breiten Schichten ist im Rahmen der freiheitlichen Wirtschaftsordnung unter Beachtung aller Bedingungen einer stetig und angemessen wachsenden Wirtschaft zu erweitern. Die Bundesregierung soll als Mindestziel anstreben, in einem Zehn-Jahres-Zeitraum die Bildung eines Privatvermögens in der Größenordnung eines durchschnittlichen Arbeitnehmer-Jahreseinkommens zu ermöglichen. Dazu soll u.a. die Wirkung vermögensbildender Tarifverträge durch eine gesetzliche Vermögensbildungsabgabe der Unternehmen ab einer bestimmten Größe verstärkt werden. Diese Abgabe soll in dezentralen und kontrollierten Investmentfonds und von dort aus zur Finanzierung privater und öffentlicher Investitionen zur Verfügung gestellt werden. Das Angebot von Wertpapieren zur Vermögensanlage ist auch durch die Ausweitung der Kreditfinanzierung öffentlicher Investitionen, z.B. für Bildungsfragen, zu erweitern. Die Bundesregierung hat jährlich über die Entwicklung der Vermögensverteilung zu berichten.
Auf dem Gebiet der Wohnungsfrage verlangt die SPD: Beseitigung der Wohnungsnot; Modernisierung des Altwohnungsbestandes. Das Bundesbaugesetz ist dahingehend zu ändern, daß die sozialen Wohnungsfolgeeinrichtungen wie Kindergärten, -tagesheime, -spiel- und Bolzplätze, öffentliche Dienstleistungseinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten, Alten- und Jugendbegegnungsstätten und Kommunikationszentren gleichzeitig mit dem Bau von Wohnungen begonnen werden müssen.
Für ausländische Arbeitnehmer sollen menschenwürdige Wohnungen errichtet und Begegnungsstätten eingerichtet, die Arbeitgeber zur Finanzierung herangezogen werden.
Das soziale Mietrecht ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Vermieter und Mieter mit dem Ziel eines wirksamen Schutzes der Mieter fortzuentwickeln, insbesondere durch Verbesserung der Mietwuchervorschriften; Verstärkung des Vollstreckungs- und Räumungsschutzes; Ausarbeitung und Empfehlung eines Mustermietvertrages, der u.a. als Ausdruck eines partnerschaftlichen Verhältnisses die Verpflichtung des Vermieters zur Offenlegung der Mietkalkulation gegenüber dem Mieter vorsieht.
Das Städtebauförderungsgesetz soll bald verabschiedet werden. Unsere Gemeinden sollen unseren Bürgern überall ein Angebot an Wohn-, Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten sowie Versorgungseinrichtungen mit Gütern und Dienstleistungen des öffentlichen und privaten Bereichs und an Erholungsgelegenheiten sichern, das den Grundwerten unserer freiheitlichen und sozialen Gesellschaftsordnung entspricht. Dafür muß die Sozialbindung des Eigentums an Boden wirksam werden. Das Städtebauförderungsgesetz muß dafür enthalten: Der Zeitpunkt für die Ermittlung der Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen ist zu konkretisieren; die Gemeinden sollen vor der Sanierung einen Sozialplan ausarbeiten, bei dem die sanierungsbetroffenen Bewohner mitwirken.
Die Bodenrechtskommission der SPD soll eine Fortentwicklung des allgemeinen Bodenrechts unter folgenden Gesichtspunkten vorbereiten: Verhinderung ungerechtfertigter Bodengewinne; Inanspruchnahme der Bodenwerterhöhungen zur Mitfinanzierung von Infrastrukturmaßnahmen durch die öffentliche Hand analog dem Städtebauförderungsgesetz; Schaffung rechtlicher Handhaben für die zügige Durchführung raumordnerischer und strukturpolitisch bedeutsamer Maßnahmen, insbesondere durch eine wirksame Ausgestaltung des gemeindlichen Verkaufs- und Grunderwerbsrechts, des Baugebots und durch Vereinfachung des Enteignungsverfahrens.
Die Prinzipien der paritätischen Mitbestimmung sind so bald und so weit als möglich zu verwirklichen. In den kommunalen Betrieben ist die Mitbestimmung auf vertraglicher Basis zu erweitern. Zur Ausarbeitung eines Vorschlages zur Steuerreform soll der Parteivorstand eine Kommission berufen; ihr Gutachten wird binnen eines Jahres in der Organisation zur Diskussion gestellt, dann muß spätestens Ende 1971 ein außerordentlicher Parteitag mit dem Thema »Steuer- und Vermögenspolitik« einberufen werden.
Eine beschleunigte und wirksame Justizreform muß folgende Ziele haben: Beschleunigung und Vereinfachung der Prozesse; Vereinheitlichung des Gerichtsaufbaus und bessere Durchschaubarkeit der Rechtssprechung; Demokratisierung der Verfahren und eine Reform der juristischen Ausbildung. Im Jugendstrafvollzug soll der Aspekt der Resozialisierung in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Vereidigung von Verfahrensbeteiligten soll gestrichen werden. Jede Aussage ist am Schluß mit der Versicherung zu versehen, in Kenntnis der Strafbarkeit unrichtiger Angaben die Wahrheit gesagt zu haben. Jede Form des Diensteides ist durch Gelöbnisse, die sich unter Berufung auf das Grundgesetz und die jeweiligen Landesverfassungen auf die dienstlichen Pflichten beziehen, zu ersetzen.
Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften sollen arbeits- und personalvertretungsrechtlich mit den Arbeitnehmern des deutschen öffentlichen Dienstes gleichgestellt werden. Das kollektive Arbeitsrecht ist vordringlich neu zu regeln, mit dem Ziel, die durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes entstandene Einschränkung des Umfanges des Tarifhoheits-, des Streikrechts und der Tarifmacht aufzuheben. In Zukunft soll es gesetzlich möglich sein, Tarifverträge abzuschließen, die eine Besserstellung von gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern vorsehen.
Die gesetzlichen Feiertage sollen auf Bundesebene vereinheitlicht werden. Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für deutsche Staatsangehörige soll entfallen.
Der Parteivorstand wird aufgefordert, umgehend eine Kommission zur Reform der Parteiorganisation einzusetzen. Sie hat dem außerordentlichen Parteitag 1971 Vorschläge zur Verbesserung der Willensbildung (Antragsrecht, Vorbereitung der Parteitage), der Information und Organisationsarbeit vorzulegen.
Die Parteigremien sollen sich entschieden gegen Ämterhäufung in Staat und Partei wenden.
Zur Geschäftsordnung des Parteitages wird beschlossen: Das bisherige Blockwahlsystem ist nicht mehr anwendbar. Statt dessen wird vorgeschlagen: Bei den Wahlen sind mindestens 50 Prozent der zu Wählenden anzukreuzen. Ein entsprechender Passus ist in die Geschäftsordnung aufzunehmen. Bei grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten sind auf den Parteitagen Mehrheits- und Minderheitsberichte zu erstatten.
W. Brandt wird mit 318 gegen 11 Stimmen und 2 Enthaltungen zum Parteivorsitzenden gewählt. Stellvertreter werden H. Wehner mit 313 gegen 16 Stimmen und einer Enthaltung sowie H. Schmidt mit 256 Stimmen. 65 Stimmen erhält sein Gegenkandidat N. Gansel, stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten. Bei diesem Wahlgang gibt es 6 ungültige Stimmen und 4 Enthaltungen.
Schatzmeister wird A. Nau mit 275 gegen 44 Stimmen. Zu Mitgliedern des Parteivorstandes werden weiter gewählt: H. Kühn (280), A. Möller (270), K. Schiller (270), G. Leber (259), A. Osswald (244), K. Schütz (230), Käte Strobel (227), W. Arendt (225), K. Conrad (221), E. Schellenberg (217), V. Gabert (214), W. Figgen (204), H.-J. Wischnewski (209), H. Börner (303), E. Eppler (203), D. Posser (200), H. Apel (198), H. Ruhnau (195), E. Franke (192), H. Koschnick (189), C. Schmid (189), Elfriede Eilers (185), Lucie Kurlbaum (181), J. Steffen (175), Vera Rüdiger (169), C.-H. Evers (156), J. Fuchs (156), H. Hermsdorf (145).
Die Delegierten des sogenannten linken Flügels hatten elf Kandidaten aufgestellt bzw. unterstützt. Doch nur zwei von ihnen (Vera Rüdiger und C.-H. Evers) erhalten die erforderliche Stimmenzahl.
In die Kontrollkommission werden gewählt: W. Damm, H. Hansing, Luise Herklotz, F. Höhne, F. Kauermann, F. Ohlig, G. Peters, Grete Rudoll und M. Seidel.
Der Parteivorstand der SPD wählt das neue Präsidium. Anstelle des Bundestagsvizepräsidenten C. Schmid wird der SPD-Bundesgeschäftsführer H.-J. Wischnewski und anstelle der Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel die Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführerin Annemarie Renger aufgenommen. Weitere Präsidiumsmitglieder sind W. Brandt, H. Wehner, H. Schmidt, E. Franke, H. Kühn, G. Leber, A. Möller, A. Nau und K. Schiller.



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net edition fes-library | Juni 2001