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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
April 1970

Der Parteivorstand der SPD veröffentlicht Stellungnahmen zu den Beschlüssen des Bundeskongresses der Jungsozialisten im Dezember 1969. Die Resolution über Zustand und Aufgabe der SPD ist durchaus diskussionswürdig, aber auch sehr diskussionsbedürftig.
Das Selbstverständnis der SPD ist im Godesberger Programm von 1959 niedergelegt. Im Widerspruch zu einigen der Forderungen der Jungsozialisten stehen folgende Grundpositionen des Godesberger Programms: Die SPD versteht sich als eine Volkspartei. Sie will auch anderen gesellschaftlichen Gruppen als der Arbeitnehmerschaft offenstehen und für sie wählbar sein. Kompromisse im vorparlamentarischen Raum entsprechen dem Charakter einer parlamentarischen Demokratie.
Die SPD hat keine Anpassung an die zum Teil noch vorherrschende Bewußtseinslage gewisser Kreise der deutschen Politik vorgenommen. Stets hat die SPD betont, daß sie den vom Grundgesetz vorgezeichneten demokratischen und sozialen Rechtsstaat als Aufgabe betrachtet.
Zu den Forderungen, wie die Gesellschaft verändert werden soll, kann man sicherlich im Prinzip nur »Ja« sagen. Die Frage ist nur, wie solche Ziele zu verwirklichen sind. Darüber zu diskutieren ist notwendig. Die Partei hat solchen Diskussionen stets offen gegenübergestanden und wird es auch in Zukunft tun.
Reformpolitik ist nicht das Vorfeld, sondern der zentrale Auftrag sozialdemokratischer Politik. Der Parteivorstand sieht es als seine Aufgabe an, die innerparteiliche Diskussion, insbesondere über Reformen, anzuregen. Daß dabei Widersprüche und Konfliktsituationen auftreten, ist kein Nachteil. Solche Auseinandersetzungen sind in einer demokratischen Partei selbstverständlich.
Theoretische Diskussion verlangt Wirklichkeitsnähe und die Bereitschaft, alle theoretischen Positionen ständig zu überprüfen. Eine »Sozialistische Strategie in der SPD« müßte erst formuliert werden, ehe man in die Auseinandersetzung darüber eintreten kann.
Unbestritten ist, daß die Vergesellschaftung als letztes Mittel gegen Machtmißbrauch durch Monopole zum Instrumentarium einer demokratischen Wirtschaftspolitik gehört. Aber sie bleibt Mittel und ist kein Selbstzweck. Worum es nach Meinung des Parteivorstandes geht, ist dies: Die Wirtschaft muß demokratisiert werden, und zwar sowohl durch eine verstärkte Mitbestimmung der Arbeitnehmer als auch durch eine verstärkte Kontrolle der Gesellschaft über jene Gruppen, die wirtschaftliche Macht zusammenballen. Mitbestimmung und gesellschaftliche Kontrolle sollen den Arbeitnehmer zum Wirtschaftsbürger machen. Seine Entfaltungsmöglichkeiten, die Erreichung seines gerechten Anteils am geschaffenen Produkt und seine Mitbestimmungsrechte müssen gesichert werden.
Wir halten Krisen, Rezessionen und Inflationen für vermeidbar, nicht durch Änderung der Eigentumsverhältnisse, sondern durch bessere politische Steuerungsmöglichkeiten und durch Abbau von Tabus in der Bevölkerung, nicht zuletzt durch Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse.
Der Parteivorstand hätte es begrüßt, wenn sich der Kongreß darüber klar geworden wäre, ob Vermögensbildungspolitik befürwortet werden soll oder ob die Jungsozialisten diese Politik ablehnen.
Die Steuerpolitik ist auch in den Augen der SPD ein entscheidendes Mittel der Einkommens- und Vermögensverteilung.
Die Sachzwänge der Industriegesellschaft und der Technostruktur erkennen wir nicht. Unsere Gesellschaft ist mit Hilfe sozialer Regelungen zu verändern.
Der Parteivorstand erkennt durchaus an, daß in der Mitbestimmungsresolution brauchbare Ansätze enthalten sind, um die Lösung dieses Problems voranzutreiben. Eine außerparlamentarische Verwirklichung der Mitbestimmung, die weder über Tarifverträge noch sonstige Regelungen abgedeckt ist, sondern »durch reale Kämpfe an der Basis« verwirklicht werden soll, würde chaotische Zustände auslösen und fände in einem demokratischen Rechtsstaat kaum eine Grundlage. Sie kann also nicht Gegenstand sozialdemokratischer Politik sein.
Die meisten Massenverkehrsmittel sind schon Gemeineigentum; kostenlose Benutzung in den Stadtbereichen halten wir für erwägenswert.
Wir werden im privaten Wohnungsbau keine neue Mietpreisbindung einführen, sondern das Problem durch eine Forcierung des Wohnungsbaus lösen.
Die bildungspolitische Resolution stimmt sachlich im wesentlichen mit den Vorschlägen der SPD zur Reform des Bildungswesens überein. Lediglich in der Terminologie zeigen sich Unterschiede. Besonders problematisch ist die Verwirklichung der Mitbestimmung der Beteiligten im Bildungswesen.
Die Regierungserklärung 1969 hat die Feststellung der beiden Staaten einer deutschen Nation getroffen. Die Nicht-Diskriminierung in den Beziehungen und Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten ist Bestandteil der SPD-Politik.
Der Status der unter besonderer Verantwortung der Vier Mächte stehenden Stadt Berlin und ihre Zugehörigkeit zur Bundesrepublik muß unangetastet und erhalten bleiben.



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net edition fes-library | Juni 2001