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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
28. Okt. 1969

In seiner Regierungserklärung kündigt W. Brandt unter dem Motto: »Wir wollen mehr Demokratie wagen« ein umfangreiches Reformprogramm an: die Politik der neuen Regierung werde im Zeichen der Kontinuität und Erneuerung stehen. Dauerhafte Sicherung kann es in einer entwickelten Gesellschaft nur durch Veränderung geben.
In der Außen- und Sicherheitspolitik soll die Kontinuität gewahrt bleiben, in der Deutschlandpolitik die bisherige Linie konsequent weitergeführt werden, um im Verhältnis zwischen beiden Teilen Deutschlands über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu gelangen. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR komme nicht in Betracht. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.
W. Brandt räumt der Wissenschafts- und Bildungspolitik in der Innenpolitik Vorrang ein. Die Bundesregierung wird in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zu einem Gesamtbildungsplan beitragen. Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers. Die Schule der Nation ist die Schule. Wir brauchen einen möglichst hohen Anteil von Menschen in unserer Gesellschaft, der eine differenzierte Schulausbildung bis zum 18. Lebensjahr erhält. Die finanziellen Mittel für die Bildungspolitik müssen in den nächsten Jahren entsprechend gesteigert werden. Die Bundesregierung wird sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde. Die Bundesregierung wird ein Hochschulrahmengesetz vorlegen.
Die Bundesregierung wird die Forderungen des Stabilitätsgesetzes erfüllen: Stabilisierung ohne Stagnation. Grundlegende Reformen in Bildung und Forschung sind zugleich Bedingungen für die zukünftige wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen wird modernisiert werden. Die Fusionskontrolle soll auch für die Presse gelten. Ein verbessertes Kartellgesetz muß zum Instrument einer wirksamen und fortschrittlichen Mittelstandspolitik werden. Zu den Schwerpunkten der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gehört das Bemühen um eine gezielte Vermögensbildung.

Die Bundesregierung wird die Steuerreform verwirklichen und ein gerechtes, einfaches und überschaubares Steuersystem schaffen und stärker als bisher eine wachstumsorientierte Strukturpolitik betreiben. Unter Erhaltung der Priorität Berlins und des Zonenrandgebietes bleibt die Stärkung der Leistungskraft ländlicher Gebiete ein strukturpolitischer Schwerpunkt.
Die Industriewirtschaft ist auf ein stetiges und billiges Angebot von Energie und Rohstoffen angewiesen. Wir werden die Politik der Gesundung des Steinkohlenbergbaus, der Sicherung der Mineralölerzeugung, der Öffnung der Märkte für neue Energieträger und der Verbesserung des Wettbewerbs in der Elektrizitätswirtschaft ausbauen.
Ein Städtebauförderungsgesetz muß zügig verabschiedet werden. Dieses Gesetz soll eine Reform des Bodenrechts einleiten, die den Gemeinden eine sachgerechte Durchführung ihrer Planungen ermöglicht und die Bodenspekulation verhindert. Dabei dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß es die breite Streuung privaten Eigentums zu fördern und den bäuerlichen Bodenbesitz zu wahren gilt. Wir werden ein langfristiges Programm des sozialen Wohnungsbaus aufstellen und mit den Ländern abstimmen.
Die Bundesregierung wird das unübersichtlich gewordene Arbeitsrecht in einem Arbeitsgesetzbuch zusammenfassen und mit den Arbeiten für ein Sozialgesetzbuch beginnen. Zur besseren Überschaubarkeit der Sozialleistungen wird die Bundesregierung das Sozialbudget zu einer Grundlage sozial- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen ausbauen. Eine Reform des Betriebsverfassungs- und des Personalvertretungsgesetzes wird durchgeführt. Die Bundesregierung wird ein Institut für Sozialmedizin einrichten, das ausreichende Grundlagen für breit angelegte, gezielte Vorsorgeuntersuchungen und für die Frühdiagnose der großen Krankheiten unserer Zeit schafft. Dem weiteren Ausbau der Krebsforschung und Krebsvorsorge messen wir besondere Bedeutung bei. Zum ausreichenden Schutz vor Luft- und Wasserverunreinigung und vor Lärmbelästigung werden entsprechende Gesetze vorgelegt. Um kranken Menschen die besten Chancen zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu geben, wird die Bundesregierung 1970 ein Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung eines bedarfsgerecht gegliederten Systems leistungsfähiger Krankenhäuser vorlegen, die ärztliche Ausbildung reformieren und modernisieren.
Die Bundesregierung bekennt sich zum Grundsatz der freien Arztwahl und der freien Berufsausübung der Heilberufe. Den Frauen soll mehr als bisher geholfen werden, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie, Beruf, Politik und Gesellschaft zu erfüllen. Rationalisierung und Automation dürfen nicht zu Lasten der Erwerbstätigen gehen, sondern müssen den sozialen Fortschritt fördern. Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik werden auch bei notwendigen Umstrukturierungen sichere Arbeitsplätze gewährleisten.
Technischer Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung stellen ständig neue Anforderungen an die Mobilität aller Erwerbstätigen. Darum halten wir die Einführung eines Bildungsurlaubs für eine wichtige Aufgabe. Zur Humanisierung des Arbeitslebens haben Gesetzgeber und Tarifparteien den Schutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz zu garantieren. Die Arbeitssicherheit und die gesundheitliche Betreuung am Arbeitsplatz werden ausgebaut. Die Bundesregierung bekennt sich zur Bewahrung und Stärkung der Tarifautonomie.
Den Benachteiligten und Behinderten in Beruf und Gesellschaft soll stärker geholfen werden.
Eine Rentenberechnung nach Punkten soll eingeführt werden. Die Bundesregierung wird sich bemühen, ein Gesetz über die flexible Altersgrenze zu verwirklichen. Die gesetzliche Alterssicherung soll für weitere Gesellschaftsgruppen geöffnet, zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung eine Sachverständigenkommission eingesetzt werden.
Zur Vorbereitung der Reformen der Jugendgesetzgebung und des Bundesjugendplanes werden wir die Jugend selbst einschalten. Die Bundesregierung wünscht, ein europäisches Jugendwerk zu schaffen.
Die Bundesregierung wird die Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung energisch vorantreiben.
Die Bundesregierung wird sich mit ihren Verbündeten konsequent für den Abbau der militärischen Konfrontation in Europa einsetzen und zusammen mit ihnen auf gleichzeitige und ausgewogene Rüstungsbeschränkung und Truppenreduzierung in Ost und West hinwirken.
Eine Konferenz, die der europäischen Sicherheit dienen soll, kann nach sorgfältiger Vorbereitung eine wichtige Etappe auf dem Wege zu größerer Sicherheit bei geringerer Rüstung und zu Fortschritten zwischen den Partnern Ost- und Westeuropas werden. Der Krieg in Vietnam muß endlich beendet werden. Wir bekräftigen unsere Bereitschaft, am Wiederaufbau zerstörter Landesteile mitzuwirken.
Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft muß kommen. Unser nationales Interesse erlaubt es nicht, zwischen dem Westen und dem Osten zu stehen. Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten. Das deutsche Volk braucht den Frieden in vollem Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens.
Das Recht auf Selbstbestimmung gilt auch für das deutsche Volk. Wir sind frei von Illusionen zu glauben, das Werk der Versöhnung sei leicht oder schnell zu vollenden. In Fortsetzung der Politik ihrer Vorgängerin erstrebt die Bundesregierung gleichmäßig verbindliche Abkommen über den gegenseitigen Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt. Die Bereitschaft dazu gilt auch gegenüber der DDR. Die Politik des Gewaltverzichts, die die territoriale Integrität des jeweiligen Partners berücksichtigt, ist nach der festen Überzeugung der Bundesregierung ein entscheidender Beitrag zu einer Entspannung in Europa. Diese Regierung fordert viel, nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst. Ihre konkreten Ziele sind nur zu erreichen, wenn sich manches ändert im Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat und seiner Regierung. Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. Das Selbstbewußtsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben. Sie wird daher auch jene Solidarität zu schätzen wissen, die sich in Kritik äußert.
Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.



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net edition fes-library | Juni 2001