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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
9. Jan. 1968

Der Parteivorstand der SPD beschließt den Entwurf der »Sozialdemokratischen Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren«:
Die Folgen der Vergangenheit zu tragen, dabei die Gegenwart zu bestehen und aus dem Ungenügen der Gegenwart in die Zukunft zu planen - diese dreifache Last ist dem denkenden Menschen auferlegt.
Jede Politik in Deutschland muß sich dieser dreifachen Last bewußt sein, sonst wird die Vergangenheit sie einholen, sonst wird ihr die Zukunft davonlaufen, sonst wird ihre Gegenwart knapp bemessen sein.
Die Geschichte der SPD ist auch die Geschichte der deutschen Demokratie.
Unsere Partei hat nicht zusehen können, als vor über einem Jahr die Demokratie von einer unfähigen Regierung gefährdet wurde. Unsere Entscheidung, die Regierungsverantwortung mitzutragen, war eine Entscheidung, die aus der Vergangenheit Lehren zog, um uns vor dem Verlust der Zukunft zu bewahren.
Demokratie ist ein lebendiger Prozeß, den Reformen vorwärtsbewegen müssen, damit ihm die Zeit nicht voraus ist. Die SPD ist in unserem Land die politische Kraft, die die Impulse der jungen Generation aufnimmt und so gestärkt schon heute zum Schritt ins nächste Jahrzehnt ansetzt.
Der Hunger eines großen Teils der Erdbevölkerung, der Kampf von hunderten Millionen Menschen um das nackte Leben bestimmen die weltpolitische Gegenwart. Die internationale Lage wird daher in Zukunft nicht nur vom Ost-West-Verhältnis, sondern zunehmend auch von Spannungen zwischen Nord und Süd bestimmt werden. Die Überwindung der Nord-Süd-Spannungen wird entscheidend mit davon abhängen, ob Ost und West sich trotz der bestehenden ideologischen Gegensätze zu einer gemeinsamen Anstrengung zusammenfinden. Bevölkerungsexplosion und Wissenschaftsexplosion haben alles, aber auch alles in Bewegung gesetzt.
Trotz dieses tiefgreifenden Umbruchs und der Suche nach neuen Lösungen für die Zukunft verlaufen politische Auseinandersetzungen noch weitgehend im Stil vergangener Jahrhunderte. Viele Politiker haben noch nicht begriffen, daß auch die Mittel der Politik dem Umwandlungsprozeß unterworfen werden müssen. Die Erweiterung der europäischen Gemeinschaft und die Entwicklung ihrer Institutionen bleiben auf der Tagesordnung. Es geht darum, Europa als Völkergemeinschaft zu organisieren.
Unser Volk leidet unter seiner Spaltung.
Der Eintritt der SPD in die Bundesregierung im Dezember 1966 hat in der Bundesrepublik den Willen zur Veränderung der deutschen Lage gestärkt. Damit das deutsche Volk seinen Frieden finden und am Frieden in der Welt mitwirken kann, muß das Verhältnis der beiden Teile Deutschlands zueinander entkrampft werden. Die Bundesrepublik ist der Teil Deutschlands, der als demokratischer und sozialer Rechtsstaat allen Deutschen die Möglichkeit schaffen will, die gemeinsame deutsche Zukunft in Freiheit zu gestalten. Der andere Teil Deutschlands ist für uns kein Ausland, was in Deutschland geschieht, ist Sache der Deutschen. Keine Seite kann der anderen ihre Vorstellungen aufzwingen. Verständigung muß auch im gespaltenen Deutschland erreicht werden können.
In der Bundesrepublik hatte die CDU/CSU nach zwei Jahrzehnten selbstzufriedener Machtausübung unseren Staat in eine Krise geführt, die neonazistischen Kräften Auftrieb gab. Ende 1966 war die CDU/CSU gezwungen, unter Verzicht auf die Fortsetzung ihrer bisherigen Politik die Große Koalition mit der SPD zu bilden. Durch die Bildung der Koalition und durch die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 wurde einerseits klargestellt, wer die Verantwortung für die Krise trug, andererseits aber auch sichergestellt, daß die für die Vergangenheit Verantwortlichen beim Wegräumen der Trümmer mit Hand anzulegen haben.
Die SPD, die mit dem Godesberger Programm einen neuen Abschnitt in ihrer hundertjährigen Geschichte begann, sieht sich durch die Entwicklung der letzten Jahre in der Richtigkeit ihres mit Konsequenz verfolgten Weges bestätigt. Sie ist die fortschrittliche Volkspartei der Bundesrepublik.
Aber noch sind im Ringen mit den konservativen Kräften der Bundesrepublik die Grundlagen der Gegenwart nicht so abgesichert, daß eine der Zukunft des deutschen Volkes Rechnung tragende Gesellschaft entstehen kann.
Die Zukunft hat schon begonnen. Die Zukunftsforschung ist zu einer politischen Aufgabe geworden. Bei uns existieren bisher aber weder die geistigen Voraussetzungen noch die Organisationsformen, um entstehende und zukünftige Erkenntnisse und Techniken in den Aufbau einer neuen Gesellschaft einzubringen. Der technische Fortschritt einschließlich der Automation ist nicht nur nicht aufzuhalten, er muß planvoll gefördert werden. Er bietet die Möglichkeit, die Probleme, vor denen wir stehen, zu lösen und die Grundlagen für eine zukünftige Gesellschaft zu schaffen, in der der Mensch in Sicherheit menschenwürdig leben kann.
Gelingt es der Politik, den technischen Fortschritt und die Automation in den Griff zu bekommen, so ist im kommenden Jahrzehnt mit einer großen Steigerung des Bruttosozialprodukts zu rechnen. Eine solche Steigerung muß allen zugute kommen. Um sie zu ermöglichen, wird es aber notwendig sein, den Anteil des Sozialprodukts, der für die Lösung von Gemeinschaftsaufgaben verwandt wird, erheblich zu vergrößern.
Die Auswirkungen des technischen Fortschritts können nur unter Kontrolle gebracht werden, wenn eine Politik der Vorausschau und der mittel- und langfristigen Planung betrieben wird. Die Freiheit unserer Gesellschaft erfordert, daß neue Methoden zur politischen Kontrolle der Planung entwickelt werden. Die Erhaltung des Friedens muß oberstes Gesetz der Politik der Bundesrepublik sein. Diese Friedenspolitik erfordert den verbindlichen gegenseitigen Verzicht auf Gewaltanwendung. Es bleibt eine fortwährende Aufgabe der deutschen Politik, Vertrauen in aller Welt zu gewinnen und zu bewahren.
Die aktive Teilnahme der Bundesrepublik an der Entwicklungshilfe ist ein wesentlicher Beitrag zur Erhaltung des Friedens. Das kommende Jahrzehnt muß im Innern ein Jahrzehnt der sozialen und politischen Reformen sein.
Gesellschaftspolitisch ist vor allem dafür Vorsorge zu treffen, daß die Menschen durch die sich abzeichnenden tiefgreifenden Strukturveränderungen nicht in soziale Unsicherheit und Not gestürzt werden.
Bildung muß in der Meinung der Öffentlichkeit ihren Charakter als Luxusartikel verlieren. Ziel der Bildung und Ausbildung muß sein, zu lernen, wie man sein Leben lang lernen kann. Permanente Weiterbildung wird eine Grundregel unseres künftigen Lebens sein. Das bedeutet eine grundsätzliche Veränderung des bisherigen Bildungsgehaltes an all unseren Schulen. Die baldige Einführung des 10. Schuljahres für alle Kinder, die Schaffung der Ganztags- und der Gesamtschule sind zwingende Notwendigkeit. Die noch in vielen Arbeiterfamilien bestehenden Hemmungen, ihre Kinder in weiterführende Schulen zu schicken, müssen abgebaut werden.
Das Bildungsdefizit in der Bundesrepublik muß schnellstens überwunden, unser Bildungswesen schnellstens einheitlich geregelt werden. Die berufliche Ausbildung muß den geforderten Anforderungen gemäß völlig erneuert werden.
Eine moderne Bildungspolitik ist notwendig im Interesse der zukünftigen Entwicklung unserer Wirtschaft, der Steigerung des Bruttosozialprodukts, der Sicherheit jedes einzelnen und damit auch im Interesse der heutigen und der zukünftigen Rentner. Im übrigen ist die Reform unseres Bildungs- und Ausbildungswesens nicht nur in den Erfordernissen der Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft begründet. Die ethische Begründung der geforderten Reformen wurzelt im Recht jedes einzelnen, eine seine Fähigkeiten voll entwickelnde Bildung und Ausbildung zu erhalten.
Die energische Reform der Struktur unserer Hochschulen ist von entscheidender Bedeutung.
Von der Förderung der Hochschulen, der Wissenschaft und Forschung hängt im entscheidenden Maße unsere weitere wirtschaftliche Entwicklung, damit die Sicherung der Vollbeschäftigung und die Verbesserung des Lebensstandards einschließlich der Renten, ab.
Die Entwicklung unserer Demokratie setzt eine informierte Gesellschaft voraus. Neben einer wirtschaftlichen Stützung an sich leistungsfähiger Presseunternehmen ist eine öffentliche Kontrolle der Konzentration, soweit sie zum Monopol tendiert, und ein verstärkter Schutz der inneren Pressefreiheit zu fordern.
An der öffentlich-rechtlichen Organisation des gesamten Rundfunk- und Fernsehwesens ist - auch als Gegengewicht zum Konzentrationsvorgang im Pressebereich - festzuhalten.
Die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik wird alles dransetzen, unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu fördern. Die enge Verknüpfung der mittelfristigen Wirtschafts- mit der mittelfristigen Finanzpolitik wird die strukturelle Veränderung der öffentlichen Haushalte zugunsten der Gemeinschaftsaufgaben erleichtern. Sie ist außerdem Voraussetzung für den Abbau von überflüssigen Subventionen und von überholten Steuervergünstigungen. Die mittelfristige Wirtschaftspolitik muß vor allem Wachstums-, also Strukturpolitik sein.
Marktwirtschaft führt nicht automatisch zu einer Lösung der zu lösenden schwerwiegenden Probleme. Raumordnungs- und Strukturpolitik müssen hier Abhilfe schaffen.
Moderne Sozialpolitik hat dafür zu sorgen, daß der einzelne vor den möglichen Folgen des technischen Fortschritts und der Automation geschützt wird. Die SPD wird das wirtschaftliche Wachstum zum sozialen Fortschritt nutzen. Der Gedanke einer umfassenden Volksversicherung entspricht dem in modernen Industriestaaten festzustellenden Bestreben, eine umfassende soziale Sicherheit aller Staatsbürger zu erreichen.
Für die Zukunft geht es darum, die Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit weit stärker als bisher zu fördern.
Die Lösung der Aufgaben einer vorausschauenden Sozialpolitik erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern, den Trägern der Sozialversicherung und den staatlichen Organen.
Die Mitbestimmung ist von grundlegender Bedeutung für die gleichberechtigte Stellung der Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft und damit auch für die Bewältigung der Aufgaben, die sich im Übergang zu den siebziger Jahren aus dem technischen Fortschritt und der Automation ergeben.
Die SPD setzt sich dafür ein, daß der Anteil der Arbeitnehmer am Ertrag der gemeinsamen Arbeit gesteigert wird. Die mit steigendem Volkseinkommen wachsenden Löhne bedeuten noch keine gerechte Beteiligung der Arbeitnehmer an diesem Ertrag.
Der Staat der modernen Industriegesellschaft muß ein planender, fördernder und koordinierender Staat sein. Die Leistungskraft der Gesellschaft der Zukunft wird vielmehr auch durch die sachliche und personelle Leistungsfähigkeit der staatlichen Organisation bedingt.
Die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik muß zur Lösung gemeinsamer Aufgaben im Sinne eines kooperativen Föderalismus reformiert werden. Unter Wahrung des freiheitssichernden Prinzips der föderativen Vielfalt von Initiativ- und Entscheidungseinheiten muß die kooperative Planung und Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben verfassungsrechtlich verankert werden.
Das bürokratisch-hierarchische Prinzip muß im Interesse der Leistungsfähigkeit unserer Verwaltung modernen Formen einer Team-Arbeit Platz machen. Das erfordert eine Reform der Struktur unseres öffentlichen Dienstes. Die Kontrollfunktion des Bundestages muß gestärkt werden.
Angesichts der Entwicklungstendenzen der modernen Industriegesellschaft müssen die individuellen Freiheitsrechte der Person und die politischen Mitwirkungsrechte des Staatsbürgers, nicht nur gegenüber der staatlichen, sondern auch gegenüber der gesellschaftlichen Macht geschützt werden.
Die deutschen Sozialdemokraten sind sich bewußt, daß auch ihre Organisation den Notwendigkeiten des Übergangs zu den Aufgaben der siebziger Jahre entsprechen muß. Die SPD muß für die Jugend und für jeden, der an der Gestaltung der neuen Gesellschaft mitwirken will, attraktiv sein. Das Bild unserer Partei muß daher von Mobilität und Leistungsorientierung bestimmt werden. Das gilt auch für die Führungspositionen. Die Vertrauensleute der SPD müssen für ihre politische Arbeit die Zusammenarbeit mit Fachleuten suchen. Die Partei muß bestrebt sein, aus allen Bevölkerungsschichten den Kreis derer, die fähig und bereit sind, Verantwortung in der Partei und für die Partei zu übernehmen, ständig zu vergrößern.
Die SPD muß auch in ihren eigenen Reihen noch bestehende Vorurteile überwinden und die Frauen gleichberechtigt an allen ihren Aufgaben beteiligen.
Die SPD, die jahrzehntelang in der Opposition gekämpft hat, muß Verständnis für den kritischen Geist der Jugend aufbringen. Die Partei muß in all ihren Gliederungen Parteimitgliedern jede Chance geben, aufgrund ihrer Begabungen, ihrer Fähigkeiten und ihrer Neigungen in der Partei zu arbeiten und sich im politischen Leben zu bewähren.
Die SPD ist eine Volkspartei. Sie ist die Partei der Menschen, die sich etwas zutrauen und für die Zukunft unseres Landes etwas ausrichten wollen.
Die konkreten Forderungen der »Perspektiven« beruhen auf den Beschlüssen der Parteigremien. Die Gliederungen der Partei werden zu Stellungnahmen, Ergänzungen und Änderungsvorschlägen eingeladen.



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