Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover. 258 Delegierte nehmen daran teil. Tagesordnung: Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie (K. Schumacher); Sozialistische Wirtschaftspolitik (V. Agartz).
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
9./11. Mai 1946
K. Schumacher eröffnet den Parteitag mit einem Gedenken an alle Toten, ohne Unterschied der Nation und der Rasse, die ihr Leben verloren haben im Kampf gegen Diktatur, Unterdrückung und Eroberungswahn. »Laßt uns an die Arbeit gehen mit dem Ideal im Herzen, für das sie starben und für das wir leben: Freiheit!«
In seinem Referat erklärt K. Schumacher, man sei in einer Periode des Übergangs, in einer Periode, in der sich noch keine Tatsache gestaltet habe und solange Tatsachen nicht die deutliche Tendenz der Gestaltung hätten, sind Programme sinnlos.
Wir haben als Sozialdemokraten gar keine Veranlassung, den Marxismus in Bausch und Bogen zu verdammen und über Bord zu werfen. Der Marxismus ist in seinen beiden wichtigsten Formen, der ökonomischen Geschichtsschreibung und des Klassenkampfes, nichts überaltertes, weil er durch die Realitäten wirklich bejaht wird. Der Klassenkampf ist erst beendet, wenn alle Menschen gleiches Recht und gleiche Pflichten haben.
Wenn der Marxismus uns auch kein Katechismus ist, so ist er doch die Methode, der wir, besonders in der Analyse angewendet, mehr Kraft und mehr Erkenntnisse zu verdanken haben, als jeder anderen wissenschaftlichen und soziologischen Methode der Welt.
K. Schumacher wendet sich gegen die völlig unzureichende Ernährung der Bevölkerung, gegen die fortgesetzten Demontagen und die drohende Zerstücklung Deutschlands durch seine Nachbarn. Wir Sozialdemokraten erkennen ausdrücklich an, daß die wirtschaftlichen Kräfte des Ruhrgebietes zur Wiedergutmachung der Zerstörung Europas herangezogen werden müssen. Wir würden also eine internationale ökonomische Kontrolle und Verteilung der Produktion für richtig halten. Aber an dieser Kontrolle müßten auch die Deutschen beteiligt sein. Wir wollen nicht den deutschen Kapitalismus gegen einen ausländischen Kapitalismus austauschen.
Der Parteitag verabschiedet einstimmig eine »Kundgebung der SPD«: Die Aufgabe der SPD wird darin gesehen, alle demokratischen Kräfte im Zeichen des Sozialismus zu sammeln. Das heutige Deutschland ist nicht mehr in der Lage, eine private kapitalistische Unternehmerschaft zu ertragen. Die von der SPD erstrebte sozialistische Wirtschaftspolitik soll Umfang, Richtung und Verteilung der Produktion im Interesse der Allgemeinheit regeln und die ökonomische Befreiung der menschlichen Persönlichkeit erreichen. Der Sozialismus will so viel wirtschaftliche Selbstverwaltung wie möglich, unter stärkster Beteiligung der Arbeiter und Verbraucher. Es gibt keine sozialistische Gesellschaft ohne die mannigfaltigsten Betriebsarten und Formen der Produktion.
Die SPD erkennt die Pflicht zur Wiedergutmachung im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten des deutschen Volkes an. Sie ist für die Bestrafung der Schuldigen und Kriegsverbrecher. Sie erstrebt die Eingliederung des neuen Deutschland in die neue internationale Ordnung der Völker.
Die SPD erhebt den Anspruch auf die Erhaltung Deutschlands als eines nationalen, staatlichen und wirtschaftlichen Ganzen. Sie erstrebt die Vereinigten Staaten von Europa, eine demokratische und sozialistische Föderation europäischer Staaten. Der Parteitag verurteilt die Vereinigung in der Ostzone als Auslieferung der SPD an die KPD. Er betrachtet die Mitgliedschaft in der SED als unvereinbar mit der in der SPD.
Die SPD bekennt sich erneut zu der internationalen Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien, die jetzt eine wesentliche politische und moralische Stärkung der demokratischen und sozialistischen Kräfte in Deutschland bedeute. Die Sozialdemokratie sieht in einer auf gegenseitigem Vertrauen gegründeten Freundschaft zwischen dem französischen Volk und der deutschen Demokratie eine entscheidende Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Europa.
Die zögernde Entnazifizierung habe eine beschleunigte Selbstreinigung des deutschen Volkes leider verhindert und ein tiefes Mißtrauen bewirkt, das die Parteien an einer positiven, aufbauenden, konstruktiven Politik hindere.
Alle jungen, von der Propaganda des Nationalsozialismus und Militarismus verführten Menschen, soweit sie nicht Aktivisten waren oder kriminell belastet seien, betrachtet die SPD als nicht verantwortlich. Die SPD ist entschlossen, die zur positiven Überwindung des Flüchtlingselends notwendigen Maßnahmen durchzusetzen. Sie fordert einen sozial gerechten Lastenausgleich, weil zwar nicht alle Deutschen schuldig seien an der Katastrophe, aber das ganze Volk gemeinsam haftbar ist.
Der Parteitag hält eine baldige Lösung des Kriegsgefangenenproblems für dringend erforderlich.
Die Partei habe der Förderung des Sportgedankens ihr besonderes Augenmerk zu schenken.
Der Parteitag beschließt, in allen Ortsvereinen der Partei die Mitglieder zwischen 18 und 35 Jahren zu besonderen Jungsozialistengruppen zusammenzufassen.
Der Parteitag nimmt ein neues Organisationsstatut an. Die Ortsvereine, Kreis-, Unterbezirks- und Bezirksverbände haben die Parteigeschäfte nach eigenen Statuten zu führen. Die Grundlage der Organisation bildet der aus den Kreisvereinen oder Unterbezirken zusammengesetzte Bezirksverband (23 Bezirke), der vom Parteivorstand nach politischer und wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit abgegrenzt werde. Der Parteitag ist die oberste Vertretung der Partei. Er wählt den Parteivorstand, der die Geschäfte führt. Der Parteiausschuß berät mit dem Parteivorstand über wichtige, die Gesamtheit berührenden politischen Fragen, über die Errichtung zentraler Parteiinstitutionen, die die Partei finanziell dauernd belasten, über die Bestellung der Referenten und gibt durch Beschluß sein Gutachten ab. Zur Kontrolle des Parteivorstandes sowie als Berufungsinstanz für Beschwerden über den Parteivorstand wählt der Parteitag eine Kontrollkommission. Die Finanzhoheit liegt weitgehend bei den Bezirken.
Bei den Wahlen zum Parteivorstand werden 245 gültige Stimmen abgegeben. Zum Parteivorsitzenden wird K. Schumacher (244 Stimmen); zu besoldeten Mitgliedern werden E. Ollenhauer (230); A. Nau (228); F. Heine (224) und H. Kriedemann (202) gewählt; unbesoldete Mitglieder des Parteivorstandes werden: V. Agartz (242 Stimmen); F. Henssler (212); E. Nölting (203); F. Helmstädter (203); J. Loßmann (197); W. Menzel (194); A. Grimme (193); E. Gnoß (192); W. Knothe (191); F. Bögler (189); A Gayk (186); L. Metzger (183); W. Kaisen (181); W. Eichler (178); V. Baur (172); Elisabeth Selbert (170); E. Groß (168); Anna Beyer (161); R. Görlinger (160); H. Veit (151).
Zu Mitgliedern der Kontrollkommission werden einstimmig gewählt: G. Bratke: W. Damm; H. Höcker; G. Richter; A. Schönfelder; K. Seeser; J. Steffan; F. Ulrich; Chr. Wittrock.
E. Ollenhauer wird 1., W. Knothe (Vorsitzender der hessischen Sozialdemokratie) 2. stellvertretender Vorsitzender der SPD.