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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
23./27. Nov. 1964

SPD-Parteitag in Karlsruhe. 329 Delegierte. Tagesordnung: Die Parteien im demokratischen Staat. (A. Nau); Vom vierten zum fünften Deutschen Bundestag (F. Erler); Die Vorschläge der deutschen Sozialdemokratie zur Erneuerung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (W. Brandt); Frau und Politik (Renate Lepsius); Frauen in Staat und Gesellschaft von heute (Marta Schanzenbach); Freiheit und Ordnung in der modernen Gesellschaft (T. Erlander); Grundzüge des sozialdemokratischen Regierungsprogramms (W. Brandt).
Arbeitsgemeinschaften behandeln: Deutschland und Europas Sicherheit; Wirtschaft- und Finanzpolitik als Einheit; Gesundheit und soziale Sicherheit als Gemeinschaftsaufgaben; Bildung als Gemeinschaftsaufgabe; Die Öffentlichkeitsarbeit der Mitgliederpartei.
F. Erler führt aus: Unsere Aufgabe ist es, solange die Spaltung nicht überwunden und die Freiheit in ganz Deutschland wiederhergestellt ist, die Leiden der Menschen so weit wie nur möglich zu lindern. In diesen Fragen muß man mit den Zonenbehörden technisch verkehren, wie es ja auch beim Interzonenhandel geschieht. Aufgabe deutscher Politik ist es, auf den verschiedensten auch die sowjetischen Interessen berührenden Feldern neue Ansatzpunkte schaffen zu helfen und dann auch entschlossen zu nutzen. Dazu brauchen wir vor allem die Solidarität mit unseren westlichen Freunden.
Es gibt keine europäische Gemeinschaft ohne Frankreich, aber auch keine europäische Sicherheit ohne die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Kunst deutscher Politik muß darin liegen, auf den Abrüstungs- und Entspannungsvorgang so einzuwirken, daß andere Völker nicht der Illusion erliegen, man könne eine dauerhafte Friedensordnung unter Fortbestand einer so wichtigen Spannung wie der Teilung Deutschlands erreichen.
W. Brandt erklärt in seinem Referat, es gibt Notwendigkeiten, bei denen es darauf ankommt, daß man sie erkennt; Gemeinschaftsaufgaben, bei denen es unwesentlich ist, wer sie tut, bei denen es einzig und allein darauf ankommt, daß sie endlich getan werden. Er nennt vier dieser Gemeinschaftsaufgaben: Verbesserung des Bildungswesens, vor allem gleiche Bildungschancen für alle zu schaffen; die Sorge um unsere Alten; Verbesserung unserer Gesundheitspolitik (Volksgesundheit) und die Erneuerung unserer Gemeinden, unserer Städte und Dörfer.
Unser Verhältnis zum Staat ist partnerschaftlich, demokratisch bestimmt. Die SPD wird zu Recht eine Partei des Volkes genannt. Die CDU ist keine echte Volkspartei. Ihr Zugang zu den verschiedenen Schichten des Volkes ist verzerrt und deshalb nicht typisch für unsere Gesellschaft. Die SPD - mit all ihren Unzulänglichkeiten - ist besser in der Lage, Entscheidungen nach sachlichen Gesichtspunkten zu fällen. Die CDU ist stärker darauf angewiesen, Interessengruppen zu bewegen. Die SPD orientiert sich an dem, was notwendig ist. Die CDU hat es schwer, Tatbestände und Entwicklungen unserer Gesellschaft richtig einzuschätzen. Die CDU ist weithin an überholten Leitbildern orientiert.
Vier wichtige Tatbestände gäbe es heute nicht ohne die verantwortungsbewußte Haltung der SPD. Ohne sie gäbe es nämlich nicht: die Ratifikation des Atomteststopp-Abkommens, die Errichtung deutscher Missionen in osteuropäischen Ländern, die Präambel zum deutsch-französischen Vertrag und die beiden Passierscheinübereinkünfte in Berlin. Der kommende Wahlkampf dreht sich natürlich im Grunde und im Kern nicht um den gegenwärtigen CSU-Vorsitzenden. Aber nach dem, was war, ist für ihn in einem von mir geführten Bundeskabinett kein Platz. Ein Zusammengehen mit Herrn Strauß steht also nicht zur Debatte.
Der Parteitag beschließt gegen 10 Stimmen bei 19 Enthaltungen (wegen der Befürwortung der MLF): Die Bundesrepublik muß unbeirrt gleichzeitig drei außen- und sicherheitspolitische Ziele verfolgen, von denen keines hinter den anderen zurücktreten darf: Die Bewahrung des Friedens, die Sicherung der Freiheit und die friedliche Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts für das ganze deutsche Volk, das nur mit der Wiedervereinigung Deutschlands in gesicherter Freiheit verwirklicht werden kann.
Diese Ziele können nur durch ein Höchstmaß an Zusammenwirken der demokratischen Kräfte im freien Teil Deutschlands erreicht werden.
Das wirksamste Mittel, die genannten Ziele deutscher Politik gleichzeitig zu fördern, ist eine erfolgreiche Abrüstungspolitik. Die SPD bekräftigt ihren Standpunkt, daß Schritte zur Abrüstung das weltpolitische Gleichgewicht nicht gefährden dürfen und angemessen kontrolliert werden müssen. Solange und soweit internationale Verträge zur Rüstungskontrolle und Abrüstung nicht wirksam sind, bleibt die Sicherheit der Bundesrepublik und insbesondere des Landes Berlin abhängig von der Fähigkeit der Atlantischen Gemeinschaft, die Territorien aller Partner zu verteidigen. Dazu ist eine Aufgabenteilung unter den Partnern zweckmäßig und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen konventionellen und atomaren Verteidigungswaffen notwendig.
Die Interessen des deutschen Volkes können weltpolitisch nur in engster Solidarität mit allen Staaten der Atlantischen Gemeinschaft wahrgenommen werden. Die Bundesrepublik muß daher auch ihren Beitrag zu dieser Solidarität leisten und treu zu den vertraglich eingegangenen Verpflichtungen stehen.
Die Sicherheit Europas verlangt angesichts der Reichweiten und der Kosten moderner Waffensysteme eine enge Verflechtung des amerikanischen Verteidigungspotentials mit dem europäischen. Eine solche Verflechtung auch auf atomarem Gebiet würde die beste Gewähr dafür bieten, die weitere Ausdehnung der nationalen Verfügungsgewalt über atomare Waffen zu verhindern. Deshalb hält der Parteitag eine von möglichst vielen Mitgliedsstaaten des Atlantischen Bündnisses getragene Gemeinschaftslösung der atomaren Verteidigungsprobleme für erforderlich, damit nicht das böse Beispiel nationaler Verfügungsgewalt Schule macht und die Allianz zerstört. Eine solche Gemeinschaftslösung, wie sie in der zur Zeit in Verhandlung begriffenen multilateralen Streitmacht angestrebt wird, ist infolgedessen ein wirksames Mittel, dem nationalen Atomwettrüsten entgegenzutreten und bessere Voraussetzungen für großräumige Vereinbarungen zur Verringerung der Gefahren eines atomaren Konflikts zu schaffen. Es muß sich dann aber um eine Gemeinschaftslösung handeln; eine nur bilaterale Vereinbarung dient diesem Ziel nicht und wird daher abgelehnt.
Die SPD bekräftigt ihren Willen, die Europäischen Gemeinschaften zu stärken und so auszubauen, daß ein Vereinigtes Europa ein gleichwertiger Partner der Vereinigten Staaten von Amerika innerhalb der Atlantischen Gemeinschaft wird. Das Europäische Parlament muß durch Direktwahl demokratisiert werden.
Die Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk ist die unentbehrliche Grundlage jeder europäischen Gemeinschaft. Ohne die Überwindung der Furcht bei den osteuropäischen Völkern wird es im Herzen Europas keine gute Nachbarschaft geben können und ist auch die Einheit Deutschlands nicht zu verwirklichen. Die SPD begrüßt die Errichtung von Missionen der Bundesrepublik Deutschland in den osteuropäischen Staaten und hofft, daß der Ausbau kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen zu einer weiteren Verbesserung des politischen Klimas beiträgt. Der Parteitag stellt fest, daß die Bundesrepublik aus von Hitler erpreßten und gebrochenen Abkommen keine territorialen Ansprüche herleitet. Er bekennt sich erneut zum Heimatrecht aller Menschen.
Der Parteitag ist sich bewußt, daß die Westmächte der Sowjetunion gegen ihren Willen keine Lösung der deutschen Frage nach westlicher Vorstellung aufzwingen können. Die Sowjetunion muß aber zur Kenntnis nehmen, daß sie dem Westen nicht die Hinnahme der Spaltung Deutschlands und das Herausbrechen des freien Berlins aus dem freien Westen aufzwingen kann. In dieser Lage muß die deutsche Frage offengehalten und müssen bessere Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des weltpolitischen Gesprächs zu ihrer Lösung geschaffen werden. Deshalb dürfen die Bundesrepublik und ihre westlichen Verbündeten keine Position in Berlin und in der deutschen Frage aufgeben. Es muß alles geschehen, was die Lebenskraft Berlins stärkt, seine Zugehörigkeit zum freien Teil Deutschlands sichert und festigt und die Anwesenheit und Verantwortlichkeit der westlichen Schutzmächte im Rahmen der Vier-Mächte-Verantwortung für ganz Berlin erhält.
Die millionenfache Begegnung von Landsleuten aus den verschiedenen Teilen Deutschlands in den Familien Ostberlins stärkt den menschlichen und nationalen Zusammenhalt, schwächt den Griff der kommunistischen Gewalthaber auf die ihnen ausgelieferten Menschen und fördert die Sache der Freiheit und Einheit Deutschlands. Darum sind die Bemühungen um eine Begegnung der Menschen aus beiden Teilen Deutschlands fortzusetzen; dabei kommt es vor allem darauf an, auch die Zonengrenze für menschliche Kontakte zu öffnen.
Es gilt unseren Landsleuten zu zeigen, daß der freie Teil Deutschlands genauso ein Teil ihres Vaterlandes ist wie des unseren.
Der Parteitag nimmt gegen eine Stimme und eine Enthaltung eine umfangreiche Entschließung zur Lage der Bundeswehr an, denn Fortentwicklung und Konsolidierung der Demokratie in Deutschland hängen nicht zuletzt mit davon ab, ob und wie es gelingt, die Bundeswehr in unsere gesellschaftliche und staatliche Struktur einzubetten. Die heute erkennbaren Schwächen unserer Streitkräfte liegen vornehmlich auf drei Gebieten: In der militärischen Organisation, im inneren Gefüge und in der Auswahl und Beschaffung von Waffensystemen.
Im einzelnen wird u. a. gefordert: Erfahrene Unteroffiziere dürfen nicht bevormundet werden, sie brauchen einen selbständigen Verantwortungsbereich; für den Offiziersnachwuchs sind bessere Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen. Leitgedanken für die Menschenführung in der Bundeswehr und die allgemeinen Grundsätze der Inneren Führung bedürfen keiner grundlegenden Reform. Der Soldat ist nicht nur zum Gehorsam, sondern auch zur »Zivilcourage in Uniform« und zur selbständigen Entscheidung zu erziehen. Staatsbürger in Uniform sind nur möglich, wenn die jungen Männer auch schon vor ihrer Dienstzeit zu bewußten Staatsbürgern erzogen worden sind.
Zur demokratischen Wirklichkeit, Ordnung und Recht sowie zur Notstandsgesetzgebung verabschiedet der Parteitag einstimmig eine umfangreiche Resolution: Das gemeinsame Ziel aller Bürger eines Staates und des Staates selbst muß es sein, die freiheitliche Ordnung nach innen und nach außen kraftvoll zu sichern. Deshalb hat der Staatsbürger Anspruch auf Sicherung der Freiheit und auf Hilfe in Gefahr und Not. Der Staat hat die Pflicht zur Sicherung der öffentlichen Ordnung, zur Abwehr innerer und äußerer Feinde und zur Verhinderung und Behebung von Notständen.
Zur Erfüllung dieser Ziele ist nach Ansicht der SPD im einzelnen notwendig: Die Sicherung der Grundrechte ist oberstes Gebot. Mit allem Nachdruck müssen noch bestehende Reste obrigkeitsstaatlichen Denkens abgebaut werden. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, der Bevölkerung im Falle kriegerischer Ereignisse oder bei Katastrophen das Maß an Schutz und Hilfe zu gewähren, das den gegebenen Möglichkeiten und Kräften unseres Volkes entspricht. Dazu ist insbesondere notwendig, die Polizei zu verstärken, ihre Ausrüstung zu verbessern, die Zusammenarbeit zwischen Bundeskriminalamt und Landeskriminalämtern zu vertiefen und internationale Kontakte auszubauen. Es ist lebenswichtig, die Demokratie gegen ihre Feinde zu schützen. Der Staat muß deshalb befähigt sein, verfassungsfeindliche Bestrebungen abzuwehren. Zur Einschränkung der zur Zeit bestehenden unbegrenzten Befugnisse der Exekutive bei Notständen und zur Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte ist eine Ergänzung des Grundgesetzes notwendig. Die SPD bekräftigt die auf dem Parteitag in Köln im Jahre 1962 hierzu gefaßten Beschlüsse.
Der Parteitag bestätigt die Bildungspolitischen Leitsätze und das Sofortprogramm vom September. Staat und Gesellschaften haben die Pflicht, die Erziehungsfunktion der Familie zu schützen, zu fördern und zu stärken. Die SPD hat Vertrauen zur Jugend. Sie fördert ihre Kritikfähigkeit und Aktivität und wird ihr helfen, die Herausforderung der Zukunft anzunehmen.
Die von Sozialdemokraten geführte Bundesregierung wird für die junge Generation folgende Aufgaben in den Vordergrund stellen: Förderung bei der Familiengründung; Sicherung der Lebensgrundlage der Familie - der Familienausgleich ist neu zu gestalten -; Hilfe zur Erziehung; Koordinierung familienbezogener Jugendhilfe; Verbesserung des Jugendarbeitsschutzes; Rechtsanspruch auf Ausbildungsbeihilfen; Verstärkung der politischen Bildungsarbeit; Förderung der internationalen Jugendbegegnung und Freizeitstätten für die Jugend.
Der Parteitag stellt fest: Die Parteien können ihre Aufgabe nur dann voll erfüllen, wenn ihre verfassungsrechtliche und politische Stellung geklärt und wenn sie unabhängig vom Staat und frei von Bevormundung durch Interessengruppen sind. Es ist deshalb notwendig, in einem Parteiengesetz Stellung und Aufgaben der Parteien klarzustellen, ihre innere Ordnung in Einklang mit demokratischen Grundsätzen zu bringen, die Rechenschaft über die Herkunft der Mittel sicherzustellen sowie die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder festzulegen.
Die weltwirtschaftlichen Beziehungen befinden sich in raschem Wandel. Dazu gehören: der internationale Wettstreit um die Zuwachsraten der Sozialprodukte; die in vielen Ländern herrschenden Ungleichgewichte in den Zahlungsbilanzen; die großen Anstrengungen auch alter Industrieländer auf rasche Modernisierung ihrer Produktionsstrukturen; die schwere Krise, in die die europäische Einigung geraten ist; das Auftreten der Entwicklungsländer, die gebieterisch nach einem höheren Lebensstandard verlangen und in denen eine neue Industrialisierungswelle begonnen hat sowie die verstärkten Versuche osteuropäischer Länder, selbständiger als bisher als Partner der Weltwirtschaft in Erscheinung zu treten.
Die neue Bundesregierung muß unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten und fördern. Sie muß erkennen, daß die Bundesrepublik im Prozeß der wirtschaftlichen Einigung Europas eine Schlüsselrolle zu spielen hat. Sie muß sich mit Nachdruck dafür einsetzen, daß in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine freiheitliche Handelspolitik betrieben wird.
Strukturwandlungen in unserer Binnenwirtschaft müssen vorbereitet und rechtzeitig durch Übergangsmaßnahmen wirtschaftlich und sozial erleichtert werden.
Unsere gesamtwirtschaftliche Entwicklung muß durch ein optimales Wachstum des Sozialprodukts gekennzeichnet sein. Wir bejahen die oft verlästerte Wohlstandsgesellschaft. Erst die Kombination von Marktwirtschaft, monetärer und fiskalischer Globalsteuerung und Wohlfahrtspolitik ist die Lösung, die sich auf der Höhe der Zeit befindet.
Diese Kombination ist deshalb notwendig, um ein optimales und stetiges Wachstum der Gesamtwirtschaft bei Vollbeschäftigung, Stabilität des Preisniveaus und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht zu erreichen. Das in der bisherigen Expansion entstandene Ungleichgewicht zwischen der Befriedigung privater und öffentlicher Bedürfnisse muß beseitigt werden: Die bisher vernachlässigten Gemeinschaftsaufgaben müssen endlich angepackt werden.
Die treibenden Kräfte des marktwirtschaftlichen Leistungswettbewerbs, der unternehmerischen Investitionstätigkeit und des technischen Fortschritts in ihrer Eigendynamik sind zu fördern. Vor allem müssen die Maßnahmen der staatlichen Wettbewerbspolitik, der Finanzpolitik sowie der Geld- und Kreditpolitik auf das optimale Wachstum gerichtet sein.
Die bei der industriellen Expansion unvermeidlich auftauchenden Bedürfnisse nach öffentlichen Investitionen (Verkehrswesen, Raumordnung, Städtebau, Energieversorgung, Wasserwirtschaft usw.) sind langfristig zu planen. Die Arbeitsmarktpolitik hat besonders auch der erhöhten Mobilität der Arbeitskräfte zu dienen.
Die Konjunkturpolitik hat auf die Stetigkeit des Expansionsprozesses hinzuwirken. Die Konjunkturpolitik muß ergänzt werden durch den Ausbau der zwischenstaatlichen Währungsordnung und durch eine internationale Koordination der Geld- und Finanzpolitik.
Durch eine aktive Verbraucher- und Wettbewerbspolitik müssen unvermeidliche Preiserhöhungen, etwa bei Dienstleistungen und lohnintensiven Betrieben, durch Preissenkungen in Bereichen mit überdurchschnittlichen Produktivitätsfortschritten ausgeglichen werden.
Die moderne Konjunktur- und Wachstumspolitik muß sich der Mittel der Globalsteuerung der volkswirtschaftlichen Kräfte bedienen. Dazu ist der Ausbau der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erforderlich. Die Gesamtrechnung wird ergänzt durch einen Wirtschaftsbericht der Bundesregierung.
Eine mittelfristige Haushaltsplanung soll das voraussichtliche Ausmaß des Deckungsbedarfs der öffentlichen Hand in den einzelnen Rechnungsjahren darstellen und den Gesamtrahmen aller öffentlichen Verpflichtungen sichtbar machen.
Das Steuersystem muß größerer Steuergerechtigkeit und Einfachheit entsprechen; Voraussetzung dafür wird die Neufestsetzung der veralteten Einheitswerte sein. Völlig ungelöst ist noch immer das Problem der Finanzreform.
Die SPD fordert die Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen u.a. in folgenden Punkten: Beseitigung der Preisbindung der zweiten Hand für Markenartikel mit Ausnahme der Verlagserzeugnisse und Verbot des Rabattkartells; Verschärfung der Bestimmungen zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht; Genehmigungspflicht für Zusammenschlüsse von Unternehmen, wenn diese Zusammenschlüsse zu einer marktbeherrschenden Stellung führen oder diese verstärken. Fortlaufende Untersuchungen und Berichterstattung über die Konzentration in der Wirtschaft durch das Bundeskartellamt.
Die SPD fordert neue gesetzliche Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher. Wahrheit und Klarheit beim Warenangebot und in der Preisauszeichnung; rasche Errichtung eines Warentestinstituts; angemessene Vertretung der Verbraucherinteressen durch unabhängige, beratende und aufklärende Gremien; Änderung des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb, um eine vergleichende Warenwerbung zuzulassen, soweit es sich um die Bezugnahme auf die Ergebnisse von öffentlich geförderten Warentests handelt; Reform des Teilzahlungsgesetzes zum Schütze der Verbraucher vor Übervorteilung; umfassende Aufklärung, insbesondere über Schule, Rundfunk, Fernsehen und Presse über die Aufgaben des Verbrauchers in der Wirtschaft und seine Interessenlage gegenüber Herstellern und Handel.
Eine umfassende gesetzliche Neuregelung des wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechtes im Rahmen einer grundlegenden Reform des Unternehmerrechtes ist anzustreben.
Zur Verwirklichung eines Mittelschichten-Programms, durch welches die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Selbständigen gestärkt und ihre Wettbewerbsmöglichkeiten gegenüber Großeinheiten gefördert werden muß, sind insbesondere notwendig: Korrekturen des geltenden Steuersystems im Hinblick auf bisherige Benachteiligungen der Mittelschichten; Belastungen der kleinen und mittleren Betriebe und Unternehmungen, die sich insbesondere aus der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ergeben, sind auszugleichen; eine umfassende gesetzliche Alterssicherung, die der für die Arbeiter und Angestellten geltenden vergleichbar ist.
Die Bemühungen um Aufstellung und Durchführung von Regionalprogrammen sind zu intensivieren. Die Kosten der Beseitigung von gesundheitsschädigender Verunreinigung des Wassers und der Luft und der Einschränkung des gesundheitsschädigenden Lärms sind sachgerecht den Verursachern anzulasten. Eine grundsätzliche Entscheidung über das Zusammenwirken der verschiedenen Träger der Energiewirtschaft in der Energieversorgung ist notwendig. Die 1962 auf dem Parteitag erhobenen Forderungen haben heute noch volle Gültigkeit.
Eine ausreichende soziale Sicherung und die Schaffung eines den speziellen Bedürfnissen der Landwirtschaft angepaßten selbständigen Sozialwerks ist notwendig.
In der Wohnungspolitik fordert die SPD Eigentumsbildung durch den Bau von Familieneigenheimen und Eigentumswohnungen; Deckung des Bedarfs an familiengerechten Miet- und Genossenschaftswohnungen; Beseitigung menschenunwürdiger Wohnungen und Stadtteile; Verbesserung der Ausstattung der Altbauwohnungen durch Instandsetzung und Modernisierung; Verbesserung des Miet- und Wohnrechts im Sinne einer wirklich sozialen Regelung, die willkürliche Kündigung ebenso ausschließt wie ungerechtfertigte wucherische Mieterhöhungen und ausreichende Wohnungsbeihilfenregelung.
Eine notwendige breitgesteuerte Vermögensbildung kann nur durch eine Vielzahl aufeinander abgestimmter und auf das gleiche Ziel gerichteter Maßnahmen erreicht werden. Ein derartiges vielseitiges Eigentumsprogramm enthält folgende fünf Aktionsbereiche: Nachdrückliche Verbesserung der Vorschriften über Sparförderung; Erneuerung des 312-DM-Gesetzes von Grund auf; Gründung gemeinnütziger Investment-Fonds; Neugestaltung der Privatisierung öffentlicher Unternehmungen, soweit diese volkswirtschaftlich zweckmäßig ist und Nutzung des zu erwartenden höheren Sparvolumens zur Finanzierung der Investitionen für Gemeinschaftsaufgaben.
Es wird eine der vordringlichsten Aufgaben sozialdemokratischer Politik sein, die Verkehrsprobleme zu lösen. Leitmotive einer notwendigen verkehrspolitischen Gesamtkonzeption müssen sein: Leben, Gesundheit und Eigentum aller Verkehrsteilnehmer sind zu sichern. Die Verkehrswirtschaft ist leistungsfähiger zu machen; sie muß im nationalen und europäischen Raum wettbewerbsfähig sein. Daraus ergeben sich folgende Grundsätze sozialdemokratischer Verkehrspolitik: Erhöhung der Verkehrssicherheit; Ausbau des deutschen Straßennetzes; Beseitigung der Verkehrsnöte in den Städten und Gemeinden; alle vom Straßenverkehr aufzubringenden spezifischen Verkehrsabgaben wie Mineralölsteuer und Kraftwagensteuer müssen zur Lösung der aus dem Straßenverkehr entstehenden Aufgaben verwendet werden, eine gerechte Aufteilung des Aufkommens an spezifischen Verkehrsabgaben sind wesentliche Voraussetzungen zur Verbesserung der Verkehrswege. Der Verkehrsmarkt ist nach den Grundsätzen eines geregelten Wettbewerbs abzustimmen. Die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im nationalen Bereich ist beschleunigt durchzuführen. Das gleiche wird für die EWG angestrebt. Jeder Verkehrsträger hat seine Wegekosten zu tragen. Die steuerliche Belastung muß für alle Verkehrsträger gleich sein.
Auf dem Gebiet des Personennahverkehrs, im Berufs- und Schülerverkehr ist eine gemeinwirtschaftliche Verkehrsbildung grundsätzlich notwendig. Die Befreiung der Bundesbahn von betriebsfremden und betriebsungewöhnlichen Lasten ist umgehend und definitiv zu regeln. Eine Erhöhung der Leistungskraft der deutschen Schiffahrt ist im Hinblick auf die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs dringend erforderlich. Der innerdeutsche Luftverkehr ist auszubauen. Besondere Förderung ist dem Nahluftverkehr zu gewähren.
Zur Gesundheitspolitik fordert die SPD allgemeine individuelle Vorsorgeuntersuchungen und -beratungen. Mindestens monatliche Untersuchungen für werdende Mütter; eine gesetzliche Regelung des betriebsärztlichen Dienstes; Verbesserung des Jugendarbeitsschutzgesetzes; längere Schutzfristen bei Schwangerschaft erwerbstätiger Frauen; Schutz der Gesundheit vor Umweltgefahren; ausreichende Krankenhausversorgung mit klarer Funktionsgliederung; Krankenhausgesetze für die sachgerechte Finanzierung; verstärkte Erforschung der Volks- und Zivilisationskrankheiten; Unfallursachenforschung; Errichtung von Lehrstühlen für Sozialmedizin und Sozialhygiene und Arbeitsmedizin.
In der Krankenversicherung müssen Aussteuerungsfristen beseitigt, Krankenhauspflege und Krankenhausentbindung Pflichtleistung und Zahnersatz Regelleistung werden. Kostenbeteiligung für ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Arzneien und Heilmittel sowie Krankenhausbehandlung werden abgelehnt. Die gesetzliche Krankenversicherung muß von sachfremden Ausgaben für Mutterschaftshilfe, Berufsschadensfolgen und Kriegsfolgen entlastet werden.
Die Sozialdemokraten werden einen unabhängigen sozialärztlichen Dienst für alle Zweige der sozialen Sicherung schaffen.
Die Sozialdemokraten erstreben eine allgemeine wirtschaftliche Sicherung aller älteren Mitbürger. Sie soll den Charakter einer Volksversicherung haben.
Die Sozialdemokraten unterstützen die Forderungen der Kriegsopfer nach einer vom Einkommen unabhängigen Grundrente. Die Versorgungsrenten müssen laufend den Veränderungen des Lohn-Preis-Gefüges angepaßt werden. Die rechtliche Gleichstellung der aus der SBZ geflüchteten Deutschen mit den Vertriebenen ist herbeizuführen.
In der Erhaltung, Pflege und Auswertung des kulturellen Heimaterbes der Vertriebenen und Flüchtlinge sieht die sozialdemokratische Politik eine besondere verantwortungsvolle, in ihrer Bedeutung steigende Aufgabe.
Das Recht auf Arbeit ist ein menschliches Grundrecht. Berufsausbildung und Aufstiegschancen sind finanziell zu sichern. Niemals darf Automation mit sozialem Abstieg von Arbeitnehmern erkauft werden. Die Sozialdemokraten werden eine ständige Kommission für Automation schaffen. Über betriebliche Sicherheitsorgane sowie über die Herstellung gefahrensicherer Maschinen und Geräte (Maschinenschutzgesetz) soll ein Gesetz eingebracht werden.
Im Arbeitsleben ist der Konstitution der Frau Rechnung zu tragen durch entsprechende Ausgestaltung der Arbeitsplätze, der Arbeitsbedingungen und Verbesserung des Mutterschutzgesetzes. Der Mindesturlaub soll vier Wochen im Jahr betragen.
Die SPD wird die Unabhängigkeit der Gewerkschaften achten und schützen. Die Tarifautonomie bleibt die Grundlage für die Ordnung des Arbeitslebens; jede gesetzliche Zwangsschlichtung ist mit der Tarifautonomie unvereinbar.
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle muß endlich auch für die Arbeiter verwirklicht werden. Der Anspruch der Arbeiter auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle darf nicht mit Eingriffen in das Sozialrecht, u.a. Kostenbeteiligung direkter oder indirekter Art, Verschärfung des vertrauensärztlichen Dienstes oder Einschränkung der sozialen Pflichtversicherung gekoppelt werden. Im Familienlastenausgleich müssen alle Kinder gleichgestellt werden.
Hauspflege wird als Pflichtleistung der sozialen Sicherung gewährt.
Durch die Förderung von Kindergärten, Kindertagesstätten und Erziehungsberatungsstellen soll die Familie in ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt werden. Der Bundestag wird aufgefordert, die Möglichkeit zu schaffen, daß Arbeitnehmer, die weiterbildende Kurse und Seminare besuchen wollen, einen bezahlten Urlaub erhalten können, der nicht auf den Jahresurlaub angerechnet wird. Im Gesamtbereich der Freizeit gewinnen Urlaub und Erholung steigende Bedeutung. Das bedingt eine sinnvolle Weiterentwicklung des innerdeutschen Fremdenverkehrs. Die unvollendete Reform des Strafrechts ist mit fortschrittlichem Geist zu erfüllen und fortzuführen. Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film müssen geistig und finanziell unabhängig sein. Zur Sicherung der Unabhängigkeit der Presse ist ein Presserechtsrahmengesetz erforderlich, das auch das uneingeschränkte Zeugnisverweigerungsrecht einschließt. Die SPD erstrebt eine sorgfältige Untersuchung der Wettbewerbslage der Massenmedien.
Unser Gemeindewesen benötigt ein die demokratische Grundordnung bejahendes Berufsbeamtentum und die Leistungsbereitschaft aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten. Das öffentliche Dienstrecht muß weiterentwickelt werden.
Hieraus ergibt sich die Aufgabe, die Beamtenbesoldung und das Laufbahnrecht unter Beachtung des Leistungsgedankens und des besonderen Schutzes für die Familie sowie das Versorgungsrecht weiterzuentwickeln und den öffentlichen Dienst in Maßnahmen zur Vermögensbildung einzubeziehen.
W. Brandt wird bei 329 abgegebenen Stimmen mit 314 Stimmen erneut zum 1. Vorsitzenden gewählt (5 ungültig, 10 Nein); bei der Wahl der Stellvertreter entfallen auf F. Erler 314 und auf H. Wehner 296 Stimmen. A. Nau wird mit 324 Stimmen zum Schatzmeister der Partei gewählt.
Zu Mitgliedern des übrigen Parteivorstandes werden bei 325 gültigen Stimmen gewählt: G. A. Zinn (321), W. v. Knoeringen und C. Schmid (je 318), H. Kühn (317), G. Heinemann (315), E. Schoettle und Käte Strobel (je 314), Lucie Beyer und H. Schmidt (je 313), G. Leber (312), Irma Keilhack und A. Möller (je 308), K. Conrad und K. Schiller (je 302), E. Schellenberg (298), K. Wienand (294), E. Franke und L. Metzger (je 292), W. Eichler und V. Gabert (je 290), W. Figgen (287), H. Albertz (282), Marta Schanzenbach (281), Annemarie Renger (278), J. Fuchs (275), H. Hemsath (273), H. Hansing (269), W. Käber (249), H. Hermsdorf (213). M. Brauer wird mit 133 Stimmen nicht mehr in den Parteivorstand gewählt.
In die Kontrollkommission werden gewählt: F. Steinhoff, Th. Thiele, W. Damm, R. Freidhof, G. Peters, F. Höhne, O. Schmidt, F. Ulrich und Grete Rudoll.
W. Brandt gibt dem Parteirat nach seiner Wiederwahl seine Regierungsmannschaft bekannt. Ihr gehören an: F. Erler, G. Heinemann, W. v. Knoeringen, A. Möller, E. Schellenberg, K. Schiller, C. Schmid, H. Schmidt, Käte Strobel und H. Wehner.
Der Parteivorstand wählt in das Präsidium: W. Brandt, F. Erler, H. Wehner, A. Nau, E. Franke, A. Möller, Marta Schanzenbach, C. Schmid und E. Schoettle.

Der Bundestag stimmt der Gründung einer Stiftung Warentest mit Sitz in Berlin zu. Sie soll im Interesse der Verbraucher die Marktübersicht bei Waren und Dienstleistungen verbessern und damit gleichzeitig den Wettbewerb in der Wirtschaft fördern.


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net edition fes-library | Juni 2001