DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

DEKORATION DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG DEKORATION


TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
2./4. Juni 1962

Der Generalrat der Sozialistischen Internationale beschließt in Oslo eine Erklärung: »Die Welt von heute - sozialistisch gesehen«
Die SI bekennt sich erneut zu den Grundsätzen der »Ziele und Aufgaben des demokratische Sozialismus«, wie sie in der Erklärung von Frankfurt 1951 niedergelegt wurden.
Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde klar, daß es die vielen neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse, wenn man sie zu friedlichen Zwecken verwendet, zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit möglich machen, das Antlitz der Erde von Hunger und Armut zu reinigen.
Kaum ein Jahrzehnt in der Geschichte hat so ungeheure und vielfältige Veränderungen mit sich gebracht. Um 1960 hatten die meisten Länder Asiens und Afrikas ihre Unabhängigkeit erreicht und sich mit dem Chor der freien Welt vereinigt.
Die SI heißt die tausend Millionen Menschen der neuen Staaten willkommen und begrüßt die Teilnahme am gemeinsamen Streben nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden für die ganze Menschheit. Aber der Kolonialismus lebt noch immer. Die SI sieht keine moralische Rechtfertigung für das Fortbestehen des Kolonialismus und verurteilt ihn in allen seinen Formen.
Im vergangenen Jahrzehnt wurden dank des wirtschaftlichen Aufschwungs in vielen demokratischen Ländern bedeutende Fortschritte in Richtung auf den Wohlfahrtsstaat erzielt. Doch hat sich gleichzeitig der Abstand in der Lebenshaltung zwischen reichen und armen Nationen noch vergrößert.

Die brutale Unterdrückung freiheitlicher Kräfte in der kommunistischen Welt und die unaufhörlichen Anstrengungen des Kommunismus, seine Einflußsphäre auszudehnen, gehen weiter.
Der dynamische Antrieb zu sozialen Veränderungen ist am stärksten von den Ländern ausgegangen, wo demokratisch-sozialistische Parteien einen wirksamen Einfluß ausüben konnten. Die Geschichte hat den Lehrsatz von der zunehmenden Verelendung des Proletariats nicht bestätigt. Die ärgsten Auswüchse des Kapitalismus wurden durch die ständigen Bemühungen sozialistischer Parteien, der Gewerkschaften und Genossenschaften beseitigt.

Trotz dieser Verbesserungen steht die industrialisierte Gesellschaft immer noch vor ernsten Problemen. Wir glauben, daß sie nicht gelöst werden können, ohne daß die Grundsätze des demokratischen Sozialismus angewandt werden.
Der Lebensstandard der Mehrheit hat sich zwar erheblich erhöht, aber grobe Mißverhältnisse in der Verteilung von Vermögen und Einkommen bestehen nach wie vor. Noch immer ist die Gesellschaft in Klassen gespalten, mit Unterschieden in Rang und Lebenshaltung, wie sie sich aus dem Zufall von Geburt und Erbe ergeben und zu Unterschieden in Erziehung und Ausbildung führen.

Der demokratische Sozialismus hat viel erreicht, aber noch größere Aufgaben stehen ihm bevor. Es gibt kein Allheilmittel, mit dem allein den Übeln der heutigen Gesellschaft beizukommen wäre. Die freie Entwicklung der Persönlichkeit kann nur durch eine Reform des wirtschaftlichen und sozialen Lebens gesichert werden. Die Demokratie kann nur bestehen, wenn sie sich auf Bürger stützen kann, die an ihrem Funktionieren lebendig interessiert sind und bewußt daran mitwirken. Territoriale Dezentralisation und industrielle Demokratie können den demokratischen Prozeß erweitern und vertiefen.

Den neuen Staaten steht die gewaltige Aufgabe bevor, den Lebens- und Arbeitsrhythmus ihrer Bevölkerung zu ändern und zu erneuern. Die SI erkennt an, daß derart weitreichende Veränderungen im Denken und im sozialen Verhalten vieler Millionen nicht bewirkt werden können, wenn nicht auch in den industrialisierten Ländern eine grundlegende Wandlung im Denken und Handeln erfolgt. Die SI wird dieser wegweisenden Aufgabe der sozialen Erneuerung und Anpassung ihre größte Anstrengung widmen.

Die kommunistische Welt wird nicht mehr von einem einzigen Machtzentrum aus geführt.

Die Führer der Sowjetunion geben vor, daß ihre Außenpolitik dem Grundsatz der friedlichen Koexistenz folge. In der Praxis bedeutet das nur eine veränderte Taktik: Der Kampf gegen die nichtkommunistische Welt wird in anderer Form weitergeführt. Für die Kommunisten heiligt der Zweck die Mittel, und es gibt einen ständigen Widerspruch zwischen dem, was sie sagen und was sie tun. Die kommunistischen Länder mißbrauchen den Begriff Sozialismus. Ihre Einpartei-Diktaturen sind in Wirklichkeit eine Tyrannei; sie versagen ihren Völkern die Freiheit der Kritik, der Religion, die Koalitionsfreiheit und die ungehinderte Verbindung mit der Außenwelt, alle Freiheiten also, die zum Wesen einer demokratischen Gesellschaft gehören.
Das Endziel der Parteien der SI ist nichts Geringeres als eine Weltregierung. Der erste Schritt in dieser Richtung muß sein, die Vereinten Nationen so zu stärken, daß sie immer erfolgreicher für den Frieden wirken können. Die ganze Welt muß Mitglied der Vereinten Nationen sein, so daß alle Nationen, einschließlich China, durch ihre Regierungen vertreten sein können.
Wir bestreiten, daß die Welt für immer dazu verurteilt ist, in Blöcke gespalten zu sein. Unser ständiges Bemühen ist es, den kalten Krieg zu beenden. Der Streit zwischen Ost und West ist der Welt gegen ihren Willen weitgehend von den kommunistischen Führern auferlegt worden.

Die SI erklärt sich für die allgemeine Abrüstung von atomaren und konventionellen Waffen, an der alle Länder sich unter wirksamer Kontrolle beteiligen.

Wir demokratischen Sozialisten wünschen nichts sehnlicher als dauerhaften Frieden, aber wir werden unsere Freiheit entschlossen verteidigen. Wir lehnen daher eine einseitige Abrüstung der demokratischen Länder ab. Die Verteidigungsmacht für den Fall eines Angriffs muß alle Abschreckung beibehalten.
Die SI achtet den Wunsch von Völkern, frei über ihr Geschick zu entscheiden, ohne in die Machtverhältnisse der übrigen Welt verwickelt zu werden. Wir demokratischen Sozialisten bekennen uns zu der Überzeugung, daß die volle Entfaltung der Persönlichkeit das edelste Ziel aller politischen Tätigkeit ist. Freiheit und demokratische Regierung sind kostbare Rechte, die man nicht preisgeben darf. Jeder Mensch hat Anspruch auf gleiches Recht, gleiches Ansehen und gleiche Möglichkeiten der Entwicklung. Freiheit, Gleichheit, Wohlstand sind nicht Alternativen, zwischen denen die Menschen zu wählen haben, sondern Ideale, die man gemeinsam erreicht und an denen sich alle erfreuen können.
Für uns sind Freiheit und Gleichheit kostbar und wesentlich für das Glück der Menschen. Sie sind die beiden Säulen, auf denen das Ideal der menschlichen Brüderlichkeit ruht. Wir bekennen aufs neue unseren Glauben an dieses Ideal und wissen, daß wir dabei für die ganze Menschheit sprechen. Die SI ruft die Menschen in aller Welt auf, vor allem die Jugend, nach den Möglichkeiten zu greifen, die die Leistungen der früheren Generationen schließlich für alle eröffnet haben und den Kampf für eine bessere Welt weiterzuführen.



Vorhergehender StichtagInhaltsverzeichnisFolgender Stichtag


net edition fes-library | Juni 2001