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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
26./30. Mai 1962

SPD-Parteitag in Köln. 335 Delegierte sind anwesend. Tagesordnung: Heute für morgen, Eine moderne Partei in unserer Zeit (E. Ollenhauer); Wer rastet - der rostet, Dynamische Politik als deutsche Gemeinschaftsaufgabe (W. Brandt); Gesunde Menschen im gesunden Staat, Der internationale Standard fortschrittlicher Sozialordnung (T. Nilsson); Die Pflicht zum Wohlstand, Von der Interessenwirtschaft zur Integration der Wirtschaftsinteressen (H. Deist); Erbe und Auftrag, Die Mobilisierung der geistigen Kräfte in der Bundesrepublik (W. v. Knoeringen).
Arbeitsgemeinschaften der Delegierten behandeln: Auswertung der Bundestagswahlen - Erfahrungsaustausch und Vorbereitung der Landtagswahlen; Allgemeine Politik; Wirtschaftspolitik; Gesundheits- und Sozialpolitik; Erziehung und Jugendpolitik; Beitragsfragen.
Der Parteitag wird mit dem 2. Deutschlandtreffen der SPD eröffnet.
Der Parteitag beschließt: Die außenpolitische Stellung der Bundesrepublik auf der Seite des Westens ist unverrückbar. Das er fordert die korrekte Erfüllung der eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen im atlantischen Verteidigungsbündnis.
Die SPD stellt mit Genugtuung fest, daß ihre bisherige Haltung gegen eine Ausweitung des Atomklubs zur bestimmenden Politik innerhalb der NATO geworden ist. Dementsprechend vertritt die SPD wie bisher die Forderung, die NATO von dem Zwang zu befreien, in Fällen konventioneller Aggression Atomwaffen einsetzen zu müssen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit für alle Mitglieder des Verteidigungsbündnisses, der konventionellen Bewaffnung stärkere Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Bundesrepublik hat den Verbündeten eigene Vorschläge zu einer gleichwertigen und kontrollierten Abrüstung zu unterbreiten und dadurch deutlich zu machen, daß Verteidigungsbereitschaft und redliche Bemühungen um Entspannung und Beendigung des Wettrüstens gleichwertige Teile unserer unteilbaren Sicherheit sind.

Nur durch eine solche Politik ist es möglich, bessere internationale Voraussetzungen für eine neue Behandlung der Deutschlandfrage mit dem Ziel des Selbstbestimmungsrechtes für das ganze deutsche Volk zu schaffen.

In dieser Lage kommt es darauf an, der Welt zu beweisen, daß das deutsche Volk auf das Selbstbestimmungsrecht für alle Deutschen nicht verzichten wird.

Die kommunistische Fremdherrschaft über Mitteldeutschland hat sich seit der Errichtung der Berliner Schandmauer am 13. August 1961 verschärft. Unsere Landsleute lehnen das SED-Regime ab.

Die Bewahrung Berlins ist heute die notwendige Aufgabe jeder Wiedervereinigungspolitik. Die Spaltung unseres Landes kann niemals überwunden werden, wenn es nicht gelingt, alle demokratischen Kräfte im freien Teil Deutschlands in den Lebensfragen der Nation zusammenzufassen. Sicherheit und Stabilität der Bundesrepublik sind unerläßliche Voraussetzungen für die Überwindung der Spaltung.

In Berlin geht es um die Zukunft Deutschlands. Die Sicherheit des freien Berlin ist gleichbedeutend mit der Sicherheit der Bundesrepublik.

Alle verantwortlichen Kräfte in der Bundesrepublik sind aufgerufen, den Senat und die Bevölkerung von Berlin dabei zu unterstützen, daß der freie Teil der Stadt wirtschaftlich gestärkt und als kulturelles Zentrum gefördert wird.

Die SPD unterstützt die Bemühungen um ein Abkommen über Berlin, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden:
1. Die von den Westmächten zugesagte Wahrung ihrer Rechte in Berlin bis zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands;
2. eine Regelung des Berlin-Verkehrs, die Berlin zusätzlich zu den Luftverbindungen zumindest eine freie und unkontrollierte Verbindung auf dem Landwege gewährt;
3. die Lebensfähigkeit Westberlins, die die Bewahrung der bestehenden Bindungen mit dem größeren Teil des freien Deutschlands in sich schließt;
4. Erleichterungen im Verkehr zwischen den beiden Teilen Berlins;
5. keine Barriere gegen künftige Regelungen für Gesamtberlin und für Deutschland als Ganzes.

Westberlin gehört zur Bundesrepublik. Es ist das Recht und die Pflicht des frei gewählten Deutschen Bundestages, sich im freien Teil der deutschen Hauptstadt zu versammeln.
Darüber hinaus sind realisierbare Vorschläge zu erarbeiten, mit deren Hilfe das Los der Menschen in der Zone erleichtert und der wirtschaftliche und geistige Austausch zwischen beiden Teilen Deutschlands gefördert werden kann.

Die SPD sieht in der Erweiterung und in der Ausgestaltung der bestehenden europäischen Gemeinschaften (EWG, EURATOM und Montanunion) die zur Zeit vordringlichste Aufgabe der Europapolitik.

Es muß alles geschehen, um Großbritannien, Norwegen, Dänemark und Irland möglichst bald in die Gemeinschaft aufzunehmen. Den neutralen europäischen Staaten muß die Assoziierung ermöglicht werden.

Zur weiteren und besseren Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaften drängt die SPD vor allem auf die Stärkung der Gemeinschaftsorgane und die Erweiterung ihrer Befugnisse, die Zusammenlegung der drei Kommissionen (EWG-Kommission, EURATOM und Hohe Behörde) zu einer Exekutive, die Ausdehnung der Rechte des Parlaments auf die Mitwirkung bei der Gesetzgebung und die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle. Der finanzielle Beitrag der Bundesrepublik für die Entwicklungshilfe muß durch eine Bildungs- und Sozialhilfe stärker ergänzt und für Deutsche, die in Entwicklungsländer gehen, eine gesetzliche soziale Sicherheit gewährleistet werden.
Der Parteitag bekräftigt gegen ca. 30 Stimmen die Entschließung zur Notstandsgesetzgebung, die Parteivorstand, Parteirat und Kontrollkommission am 17. März 1962 einstimmig angenommen haben.

Die SPD fordert einen Deutschen Bildungsplan und ein Bundesgesetz zur Förderung der Forschung, die beschleunigte Errichtung eines unabhängigen Forschungsinstitutes für das Bildungswesen. Die SPD muß in beispielhafter Weise jungen Menschen den Weg in verantwortliche Stellen öffnen und ihre Beziehung zur Wissenschaft verstärken. Die Phase des Wiederaufbaus der deutschen Wirtschaft ist abgeschlossen. Aber noch ist die Wirtschaft nicht so gefestigt, daß wir den großen Aufgaben und Belastungen in Zukunft in sozialer Verantwortung mit gutem Gewissen entgegensehen können.
Die SPD fordert erneut ein Gesetz zur Förderung eines stetigen Wachstums der Wirtschaft, mit dem die Bundesregierung verpflichtet werden soll, alle Maßnahmen zu ergreifen, um steigenden Wirtschaftsaufschwung, harmonische Entwicklung aller Teile der Gesamtwirtschaft, Vollbeschäftigung, stabiles Preisniveau, Zahlungsbilanzgleichgewicht und gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung zu sichern. Jedes Jahr muß ein Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt werden. Durch einen Rat hervorragender unabhängiger Sachverständiger ist jedes Jahr eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufzustellen. In Ergänzung des Jahreswirtschaftsberichts soll die Bundesregierung alle drei Jahre einen Bericht über die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung in der Bundesrepublik erstatten.
Seit der Währungsreform steigt das allgemeine Preisniveau ständig. Zur Zeit liegen die Kosten der allgemeinen Lebenshaltung wieder um rund 4 v. H. über dem Stand des Vorjahres. Eine solche Entwicklung birgt große Gefahren in sich. Bundesregierung und Bundestag haben die Aufgabe, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um stabile Preise zu sichern.
Zur Stabilisierung des Preisniveaus fordert der Parteitag unter anderem: eine Konjunkturpolitik, die stetig auf lange Sicht den Wirtschaftsablauf beeinflußt, eine Neufassung des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb, eine Ergänzung des Kartellgesetzes, Verstärkung des Wettbewerbs, radikale Einschränkung der Preisbindung der zweiten Hand, ausreichende Eingriffsmöglichkeiten des Bundeskartellamtes gegen den Machtmißbrauch in der Wirtschaft, Errichtung eines Preisrates sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur und zur Förderung der Rationalisierung.

In der Energiewirtschaft vollziehen sich tiefgreifende Wandlungen, die nicht nur die weitere Entwicklung des Steinkohlebergbaues, sondern auch die wirtschaftliche Zukunft des Ruhrgebietes ernsthaft gefährden. Mineralöl dringt vor und verdrängt die Kohle, Ferngas aus der Erde und aus den Raffinerien kommt neu auf den Markt. Es kann erwartet werden, daß auch Atomenergie in Zukunft wirtschaftlich erzeugt werden kann.
Der Parteitag fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich die Grundlagen und Ziele ihrer Energiepolitik und die Maßnahmen bekanntzugeben, die sie zur Sicherung einer gesunden Entwicklung der Energiewirtschaft zu ergreifen gedenkt. Dazu sind insbesondere erforderlich: eine grundsätzliche Entscheidung, welches Ziel die Bundesregierung hinsichtlich des Zusammenwirkens der verschiedenen Träger der Energiewirtschaft an der Energieversorgung verfolgt; dazu gehört eine klare Entscheidung über den angestrebten zukünftigen Umfang der Steinkohleförderung; Schaffung der Voraussetzungen für eine zielbewußte planmäßige und organische Anpassung des Steinkohlebergbaus an die veränderten Verhältnisse; Ausbau der öffentlichen auf den verschiedenen Energiemärkten tätigen Unternehmen zu wirksamen Instrumenten der Energiepolitik; Errichtung einer verantwortlichen Stelle der Energiewirtschaft in der Bundesregierung, in Übereinstimmung mit der Hohen Behörde und EURATOM, die das Gesamtwohl zu wahren hat. Die SPD verlangt die Verwirklichung einer Steuer- und Finanzreform, die dem Bund, den Ländern und den Gemeinden die notwendige Finanzkraft und der Bevölkerung eine gerechte steuerliche Behandlung gewährleistet, sowie durch Vereinfachung des Steuerrechts die Rationalisierung der Finanzbehörde ermöglicht. Die geforderte Steuerreform soll u.a. die Steuerlast der kleinen und mittleren Einkommen durch weitergehende Ausschaltung der Progression und höhere Freibeträge mindern, dagegen für die hohen Spitzeneinkommen eine angemessene stärkere Besteuerung einführen; die Tarife der Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer für große Vermögen und Erbschaften in angemessener Weise den angewachsenen öffentlichen Lasten anpassen und eine breitere Vermögensbildung durch entsprechende Entlastung der mittleren und kleinen Vermögen fördern sowie den Abbau von Verbrauchs- und Bagatellsteuern einleiten.
Der Parteitag der SPD fordert die sozialdemokratische Bundestagsfraktion auf, den Kampf gegen Baulandnot und Bodenwucher unbeirrt fortzusetzen.

Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion soll für folgende wohnungspolitischen Ziele eintreten:
Das immer noch bestehende Wohnungsdefizit ist durch öffentliche Hilfen beschleunigt abzubauen. Die Wohnungsbeschaffung für einkommensschwache Wohnungssuchende und für junge Familien hat hierbei den Vorrang. Jeder Staatsbürger hat das Recht auf eine menschenwürdige Wohnung. Dieses Recht ist durch soziale Schutzbestimmungen zu sichern.
Die SPD sagt der von der Bundesregierung eingeleiteten Drosselung des Straßenbaus schärfsten Kampf an.
Immer noch steht eine grundlegende Sozialreform aus. Mit dem Blick auf die Zukunft sind vor allem vier Aufgaben in den Vordergrund zu stellen:
Der Wille zu einer zeitgerechten Gesundheitspolitik muß alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens durchdringen. Die Sozialpolitik hat Voraussetzungen auch dafür zu schaffen, daß der einzelne seine Fähigkeiten entfalten und seine Begabungen entwickeln kann. Ausgangspunkt dafür ist die soziale Sicherung der Familie und eine zeitgerechte Förderung des kulturellen und beruflichen Aufstiegs des einzelnen in der Gesellschaft.
Die Sozialleistungen müssen mit der wirtschaftlichen Entwicklung Schritt halten.
Die sozialen Gemeinschaftsaufgaben, der Arbeitsschutz, die Krankenhausversorgung, die vielfältigen Aufgaben, die sich aus dem Altenproblem ergeben, müssen endlich entsprechend den gesellschaftlichen Notwendigkeiten bewältigt werden.
Der Parteitag beauftragt den Parteivorstand, durch seine hierfür berufenen Gremien eine Gesamtdarstellung aller gesundheitspolitischen Ziele und Aufgaben auf der Grundlage des Godesberger Grundsatzprogramms erarbeiten zu lassen.

Bei den Vorstandswahlen erhält E. Ollenhauer als 1. Vorsitzender 314 von 326 Stimmen. W. Brandt mit 298 und H. Wehner mit 232 von 312 Stimmen werden zu stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. A. Nau erhält als Schatzmeister 324 von 329 Stimmen.
Auf die weiteren Mitglieder des Parteivorstandes entfallen bei 324 gültigen Stimmen: A. Arndt und W. v. Knoeringen je 324, C. Schmid und G. A. Zinn 322, G. Heinemann 321, E. Schellenberg 321, H. Deist 317, F. Erler 316, E. Schoettle 315, Irma Keilhack 312, H. Albertz 310, A. Möller 308, Käte Strobel 307, W. Eichler 305, H. Kühn und H. Schmidt 299, K. Conrad 294, Maria Schanzenbach 289, L. Metzger 288, E. Franke 279, Lucie Beyer 278, G. Leber 253, W. Käber 251, M. Brauer 245, J. Fuchs 231, Annemarie Renger 225, H. Hemsath 215, A. Ehlers 212, K. Wienand 207.
Mitglieder der Kontrollkommission werden F. Ulrich (Vorsitzender), W. Damm, F. Höhne, R. Freidhof, G. Peters, Grete Rudoll, O. Schmidt, A. Schönfelder, Th. Thiele.



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