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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
21./25. Nov. 1960

SPD-Parteitag in Hannover, 336 Delegierte sind anwesend. Tagesordnung: Der demokratische und soziale Bundesstaat - die Aufgabe der Sozialdemokratie in unserer Zeit (E. Ollenhauer). Arbeitsgemeinschaften behandeln Außen-, Wiedervereinigungs- und Sicherheitspolitik; Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie Kulturpolitik.

Der Parteitag beschließt: In der Auseinandersetzung zwischen Ost und West ist die Stellung der Bundesrepublik unverrückbar auf der Seite des Westens, die Bundesrepublik ist ein zuverlässiger Verbündeter. Das Schicksal Berlins und des gespaltenen Deutschlands zwängen immer stärker zu einer weitgehenden gemeinsamen Haltung aller demokratischen Kräfte in den nationalen Fragen unseres Volkes.
Die Bundesrepublik bedarf des Schutzes durch das NATO-Bündnis, zu dem sie in loyaler Erfüllung ihrer Verpflichtungen ihren Beitrag leiste. Das westliche Bündnis dürfe nicht einseitig geschwächt werden. Eine Abrüstung muß gleichwertig auf beiden Seiten sein und kontrolliert werden. Die Bundesrepublik soll auf eine Vermehrung der Zahl der Atommächte und deshalb auf die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen nicht hinwirken.

Der Parteitag lenkt die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes und der Weltöffentlichkeit auf die Lage, die sich aus dem provokatorischen und friedensgefährdenden Treiben des Ulbricht-Re-gimes in Mitteldeutschland ergibt.
Gerade in letzter Zeit haben sich diese Bemühungen der SED-Regierung verschärft. Drosselung und Drohungen gegen den freien Zugang nach Berlin, die Abriegelung des Ostsektors der Stadt, eine gesteigerte Infiltrationstätigkeit und eine verstärkte Aufrüstung der bewaffneten Streitkräfte der Zonenrepublik sind Anzeichen für diese Verschärfung.
Trotz dieser Unterdrückung kämpft die Bevölkerung Mitteldeutschlands gegen das Regime.
Der Parteitag schließt sich der Forderung des Europarates an, die Haftbedingungen der politischen Gefangenen durch eine internationale Kommission zu überprüfen, um zumindest die unmenschlichen Haftbedingungen zu erleichtern. Die deutschen Sozialdemokraten begrüßen die Bemühungen jener französischen Demokraten und Sozialisten, die sich für die Durchsetzung einer Politik des Friedens und der Selbstbestimmung in Algerien einsetzen.

Der Parteitag unterstützt den Parteivorstand in seiner Auffassung, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel möglich und notwendig geworden sei.

Die SPD fordert von der Bundesregierung ein klares Eintreten für die Entwicklungshilfe. Die SPD fordert die Errichtung eines Ministeriums für die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Hilfe ist ohne politische Auflagen anzubieten und zu geben.

Zur Notstandsgesetzgebung erklärt der Parteitag gegen eine Stimme: Die deutsche Sozialdemokratie bekennt sich mit allen anderen demokratischen Kräften dazu, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und die Freiheit ihrer Einwohner gegen alle äußeren und inneren Gefahren zu schützen. Sie ist daher bereit, die der Freiheit drohenden Gefahren unvoreingenommen zu erörtern und an denjenigen Maßnahmen mitzuwirken, die mit den Grundsätzen der Freiheit und des Rechtsstaates vereinbar sind.
Die Vorlage der Bundesregierung diene nicht der Sicherung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, weil sie einer einfachen Bundestagsmehrheit praktisch das Recht auf Ausschaltung der verfassungsmäßigen Organe gäbe, unter Verletzung der Gewaltenteilung die Bundesregierung zum alleinigen Gesetzgeber mache und die staatsbürgerlichen Freiheiten in unerträglicher Weise einschränke.

Der Parteivorstand und die Bundestagsfraktion werden beauftragt, die Tätigkeit links- und rechtsradikaler Gruppen und Organisationen sorgfältig zu beobachten und im Zusammenwirken mit den staatlichen Organen dafür zu sorgen, daß verfassungsfeindliche Bestrebungen rechtzeitig und wirksam unterbunden werden.

Der Parteitag weist die deutsche Öffentlichkeit mit allem Ernst auf die ungelösten Probleme der Energiewirtschaft hin. In allen europäischen Ländern steht der Kohlebergbau in einer Krise. Der Machtkampf der internationalen Mineralölkonzerne um die beherrschende Stellung auf dem Energiemarkt kennzeichnet die Lage.

Eine sozialdemokratische Bundesregierung soll eine Kommission unabhängiger Sachverständiger der Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftspraxis von hohem Rang bestellen mit dem Auftrag, die Formen und Methoden einer Neuordnung der Energiewirtschaft im einzelnen zu prüfen und entsprechende Vorschläge zu machen.

Die bestehende Vermögensverteilung ist ein großes soziales Unrecht. Unserer Zeit ist die gesellschaftspolitische Aufgabe gestellt, Gerechtigkeit in der Vermögensbildung herbeizuführen. Voraussetzung für eine breite Eigentumsstreuung sei, daß die Einkommensverhältnisse der Arbeitnehmer und der mittleren und kleinen Unternehmer so verbessert werden, daß sie sparen und damit Vermögen bilden können; daß die für den Wirtschaftsaufschwung notwendige Vermögensbildung - insbesondere durch den Ausbau der Sparprämienregelung zu einem geschlossenen Sparprämiensystem - gesichert und das Preisniveau stabil gehalten wird. Die »Volksaktie« und die Beteiligung der Arbeitnehmer am Ergebnis der Einzelunternehmen können nur einen begrenzten Erfolg haben. Eine breitere Vermögensstreuung ist nur zu erreichen, wenn ständig ein angemessener Teil des Zuwachses der Großvermögen der Wirtschaft aus der Vermögens- und Machtkonzentration gelöst und einer gerechten Vermögensbildung dienstbar gemacht wird, durch angemessene Besteuerung des Vermögenszuwachses der Großwirtschaft und wirksame Erbschaftssteuern auf Großvermögen. Zur Verwaltung dieser Abgaben soll die »Deutsche Nationalstiftung« errichtet werden, die Wertpapiere »Deutsche Volksaktien« für jedermann ausgeben soll.

Der Parteitag der SPD fordert eine durchgreifende Politik gegen den Machtmißbrauch marktbeherrschender Unternehmungen, eine moderne Unternehmensverfassung, in die die Mitbestimmung der Arbeitnehmer organisch eingebaut ist und eine Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik, die die bisherige Begünstigung der Starken ebenso wie die Benachteiligung aller schwächeren Teilnehmer am Wirtschaftsleben aufhebt.

Die Sozialdemokraten erneuern mit Nachdruck ihr Bekenntnis zur Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates. Die Grenzen des sozialen Rechtsstaates sind nicht erreicht.

Die bisherigen Formen der Begabtenauslese bedürfen dringender Verbesserungen. In einem vielfältig gegliederten Schulwesen müssen Möglichkeiten enthalten sein, die Begabungen in ihren verschiedenen Reifegraden zu finden und zu fördern. Von den Aufgaben der Hochschulpolitik sind besonders dringlich:

Großzügige Förderung von Wissenschaft und Forschung; die Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen, Universitäten und Einrichtungen der Erwachsenenbildung soll enger gestaltet werden; eine politische und sozialwissenschaftliche Bildung aller Studierenden wird angestrebt; die Selbstverwaltung der Studierenden muß im Leben der Hochschulen und Universitäten ihren festen Platz finden; die Zahl der Studienplätze an Hochschulen und Universitäten muß ausreichend sein; ein Numerus clausus wird abgelehnt.

Die Wohnungsversorgung ist so zu verbessern, daß die noch von der Wohnungsnot seit langem betroffenen Bevölkerungskreise alsbald ausreichende Wohnungen zu erträglichen Mietpreisen erhalten.

Dazu sind folgende Maßnahmen notwendig:
Die öffentlichen Mittel des Bundes, der Länder und der Gemeinden sind ohne Abstriche für den sozialen Wohnungsbau mit niedrigen Mieten und für die Sanierung der Städte weiterhin bereitzustellen; die Zurückhaltung von Bauland ist durch gezielte Maßnahmen auszuschalten; Bodengewinne und Bodenwertsteigerungen sind zugunsten der Allgemeinheit abzuschöpfen; die Wohnraumbewirtschaftung kann nur dort aufgehoben werden, wo nach örtlicher Feststellung die Wohnungsnot beseitigt ist; der Mieterschutz muß so lange bestehenbleiben, bis ein soziales Mietrecht eingeführt ist; die Mieten dürfen nur so weit angehoben werden, wie dies zur Deckung der Kosten einschließlich der Verzinsung des Eigenkapitals und für Instandsetzung und Modernisierung erforderlich ist; zur Ergänzung unzureichender Einkommen sind Mietbeihilfen in einfacher und sozial wirksamer Form zu gewähren.

Dem Wachsen der Verkehrsunfallziffern muß dringend Einhalt geboten werden. Deshalb ist eine verstärkte Verkehrsüberwachung, ein ausreichender Verkehrsunterricht in den Schulen und eine schärfere Bestrafung hartnäckiger Verkehrssünder notwendig. Häufig könnte durch rechtzeitige ärztliche Hilfe das Leben von Verletzten gerettet werden. Deswegen richtet die SPD die Bitte an die Regierungen des Bundes und der Länder, mehr Mittel für den Ausbau der Unfallhilfen verfügbar zu machen. Die gefährlichsten Ursachen für die bedrohlich steigenden Unfallziffern liegen in dem völlig unzureichenden Straßennetz. Die SPD sieht in der schnellen Anpassung unseres Straßennetzes an die fortschreitende Motorisierung und in der Erhöhung der Verkehrssicherheit die vordringliche verkehrspolitische Aufgabe. Um die Finanzierung eines umfassenden 10-Jahres-Straßenbauplanes sicherzustellen, hält die SPD die Zweckbindung aller spezifischen Verkehrssteuern und die Zweckbindung der Hälfte des Mineralölsteueraufkommens für dringend erforderlich.

Die SPD begrüßt das Memorandum der Deutschen Olympischen Gesellschaft zum »Goldenen Plan« für Gesundheit, Spiel und Erholung.

Bei 319 gültigen Stimmen werden für E. Ollenhauer 287, bei 325 gültigen Stimmen für W. v. Knoeringen 310 und für H. Wehner 297 Stimmen als Vorsitzender beziehungsweise als Stellvertreter abgegeben.

Als Schatzmeister erhält A. Nau 307 von 325 gültigen Stimmen. Von den übrigen Parteivorstandsmitgliedern fallen bei 311 gültigen Stimmen auf G. A. Zinn 311, W. Menzel und K. Conrad 310, A. Arndt 309, Luise Albertz, A. Möller und C. Schmid 308, H. Albertz 304, Käte Strobel 303, G. Heinemann 300, Marta Schanzenbach 299, E. Groß und K. Pohle 298, F. Steinhoff 297, W. Brandt und H. Schmidt 293, L. Metzger 291, Ella Kay 282, Luise Herklotz 274, E. Schellenberg 271, E. Welke 268, E. Franke 260, K. Wienand 235 Stimmen.
In die Kontrollkommission werden gewählt: W. Damm, R. Freidhof, F. Höhne, P. Löbe, G. Peters, G. Rudoll, O. Schmidt, A. Schönfelder und F. Ulrich.

Dem Präsidium gehören wieder an: E. Ollenhauer, W. v. Knoeringen, H. Wehner, A. Nau, H. Deist, F. Erler, Marta Schanzenbach, C. Schmid und E. Schoettle.

Am letzten Tag des Parteitages wird die »Mannschaft der SPD« für die kommenden Bundestagswahlen bekanntgegeben, die die Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit sozialdemokratischer Politik und Repräsentation in Personen zum Ausdruck bringen soll. Es sind: W. Brandt, M. Brauer, H. Deist, F. Erler, W. Jaksch, A. Möller, W. Richter, C. Schmid, F. Steinhoff, Käte Strobel und G. A. Zinn.
Als Kanzlerkandidat der SPD wird W. Brandt vorgestellt.
Der Parteitag verabschiedet den »Appell von Hannover«:
Wir leben in einer Welt voller Gefahren.

Viele fürchten für die Sicherheit der Heimat und die Früchte ihrer Arbeit. Wir alle fragen: Kann es trotz dieser Gefahren, trotz der kommunistischen Bedrohung gelingen, den Frieden zu erhalten, unsere Freiheit und das Erbe unserer Kinder zu bewahren, das ganze deutsche Volk in einem ungeteilten Staat wieder zusammenzuführen?

Wir brauchen nicht in Furcht zu leben!

Dauernde Sicherheit und allgemeiner Wohlstand sind zu schaffen. Wir dürfen bei dem bisher Erreichten aber nicht stehenbleiben.
Mit der Tüchtigkeit unseres Volkes und der Kraft unserer Volkswirtschaft können wir eine Hoffnung von heute zur Wirklichkeit von morgen machen: die Verdoppelung unseres Lebensstandards, noch in dieser Generation! So wird jeder endlich die Freiheit gewinnen, sein Leben würdig einzurichten. Dies schaffen wir nur mit einer Politik neuen Stils, einer Politik der Redlichkeit, der Sachlichkeit, der Zusammenarbeit, des Ausgleichs. Wir brauchen mehr freiheitlichen Geist und Duldsamkeit in unserem staatlichen Leben; wir brauchen Härte gegen alle Feinde der Demokratie.

Deutschland muß eine Regierung haben, deren Wirtschaftspolitik Freiheit und soziale Verantwortung verbindet, die den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht verhindert, die für Stadt und Land gerechten Wohlstand schafft: Das eigene Heim, der eigene Wagen, die Deutsche Volksaktie sind berechtigter Anspruch und ehrlich verdient; eine Regierung, die über die Gesundheit des Volkes wacht, die für einen zur wirklichen Erholung ausreichenden Urlaub sorgt, die die wirtschaftlichen und sittlichen Aufgaben der Familie gewährleistet, die jedem nach getaner Arbeit einen von materieller Sorge freien Lebensabend sichert, die den Bürger vor staatlicher Willkür schützt; die die Herausforderung der kommunistischen Welt annimmt und ihr nicht nur mit militärischen Rüstungen, sondern auch mit geistiger und sozialer Aufrüstung begegnet, die darum die technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Begabungen in unserem Volk fruchtbar werden läßt, die den jungen Menschen die besten Schulen und Ausbildungsstätten verschafft und allen den Weg zu Bildung und beruflichem Aufstiege frei macht; die fest und unbeirrbar in der Gemeinschaft der freien Völker steht; die bereit ist, für den Aufbau Europas und für die Förderung weltweiter Zusammenarbeit zu leisten; was notwendig und möglich ist; die alle Verpflichtungen der Bundesrepublik in der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft redlich erfüllt und die Bundeswehr wirksam ausrüstet; die gleichzeitig jede Möglichkeit fördert, das atomare Wettrüsten zu beenden und zu einer internationalen Rüstungskontrolle und Abrüstung beizutragen; die sich für ihre Außenpolitik um eine breite Grundlage bemüht; die mit dem Gewicht des ganzen Volkes ohne nationalistischen Übermut unser Recht auf Selbstbestimmung und Wiedervereinigung vertritt; die zusammen mit ihren Verbündeten die Rechte Berlins wahrt und jede Trennung der Hauptstadt Deutschlands vom Westen verhindert. Heute haben wir die Mittel, den sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen und die Bundesrepublik zu einem Bollwerk der Freiheit zu machen. Andere Zeiten erfordern andere Männer. Mit den unverbrauchten Energien der jungen Generation müssen frische Kräfte ans Werk.
Darum muß Willy Brandt Bundeskanzler werden! An alle Deutschen ergeht der Appell: Miteinander - nicht gegeneinander schaffen wir ein freies, geeintes, glückliches deutsches Vaterland in einer freien, friedlichen Welt!
Der Parteivorstand wird beauftragt, gemeinsam mit der Regierungsmannschaft ein Regierungsprogramm auszuarbeiten.



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