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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
25./28. März 1932

SAP-Parteitag in Berlin, 95 Delegierte vertreten 25 000 Mitglieder. Die SAP verfügt über sechs Wochen- und zwei Tageszeitungen.
Tagesordnung: Die politische Lage und die Aufgaben der SAP (M. Seydewitz); zur Gewerkschaftsfrage (J. Walcher); das Parteistatut (E. Eckstein): die Prinzipienerklärung und das Aktionsprogramm (E. Weckerle, K. Zweiling).
M. Seydewitz bezeichnet als tiefstgehenden grundsätzlichen Gegensatz zwischen SAP und SPD, daß die SPD in der heutigen Situation immer noch erwarte, daß durch ein Wunder auf diese Krise ein Konjunkturaufschwung folgen werde, während die SAP jetzt den revolutionären Kampf um die Oberwindung der Krise zugleich mit dem Kampf um die Überwindung des Kapitalismus führen wolle. Die SAP habe sich ganz von der SPD und KPD abzugrenzen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Partei sei dennoch die Bildung der Arbeiter-Einheitsfront.

Die Programmkommission hatte sich nicht auf einen gemeinsamen Entwurf einigen können.

Die anstatt eines Programms mit Mehrheit angenommene Prinzipienerklärung stellt fest, daß der Kapitalismus in seine »Niedergangsperiode« eingetreten sei und der Bourgeoisie kein anderer Ausweg aus der Krise bleibe als Faschismus und Krieg: »Die menschliche Gesellschaft steht vor der Alternative: Sozialismus oder Untergang in die Barbarei.«

Die weltpolitische Lage werde durch zwei Gefahrenquellen charakterisiert: durch »die gewaltige Verschärfung der imperialistischen Gegensätze in der Niedergangsepoche des Kapitalismus und dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der kapitalistischen Welt und der Sowjetunion. Der Krieg ist eine Funktion der Ausbeutergesellschaft, deshalb vermögen keinerlei bürgerliche Friedensvereinbarungen die Kriegsgefahr jemals zu beseitigen:

Institutionen wie der Völkerbund oder Abrüstungskonferenzen, Friedenspakte und Schiedsgerichtsverträge übernehmen vielmehr die Funktion, im Auftrag der imperialistischen Mächte das gemeinsame Ausbeutungsinteresse zu gewährleisten und die Vorbereitung neuer Konkurrenzkämpfe und Kriege zu verhüllen.
Die SAP fordert den Einsatz aller Mittel gegen einen drohenden Krieg und bei unvermeidlichem Kriegsausbruch Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch die Revolution der Arbeiterklasse.«

Entschieden wendet sich die SAP gegen den Versailler Friedensvertrag und die Kriegsschuldverträge, besonders gegen den Young-Plan. Sie verwirft jedoch eine Lösung auf der kapitalistischen Basis der »Verständigungspolitik«.
Die SAP distanziert sich von der Ausnutzung der Folgen des Friedensdiktates zu einer nationalsozialistischen Revanchehetze im Stile der NSDAP: »Der Kampf des Proletariats gegen den Krieg muß deshalb in erster Linie der Kampf gegen den Faschismus sein.«

Die SAP bekennt sich zur Verpflichtung, die Sowjetunion gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen; denn »unter der Führung der kommunistischen Partei der Sowjetunion werden in Sowjetrußland die Grundlagen für die Verwirklichung des Sozialismus geschaffen«.

Dieser Aufbau des Sozialismus vollziehe sich allerdings unter schwierigen Voraussetzungen und werde gefährdet durch die »Fehler der gegenwärtigen Parteiführung«.
Die SAP steht in »unüberbrückbarem Gegensatz zur SPD und zur 2. Internationale«, weil sich die SPD auf Grund ihrer bisherigen Politik »unlösbar« mit dem Kapitalismus verbunden habe und in dessen Dienst als »Instrument zur Niederhaltung der Arbeiterklasse« fungiere: »Die Rückkehr zum Klassenkampf ist ihr für immer verbaut«.

Die KPD und die Kommunistische Internationale seien unfähig, die sozialdemokratischen Arbeiter für eine revolutionäre Politik zu gewinnen und die Arbeiterklasse aus der Krise zu führen, wegen der »Preisgabe der Einheitsfrontpolitik, die sich auf die verhängnisvolle Theorie vom Sozialfaschismus stützt«, dem RGO-Kurs und der »Politik des kleinbürgerlichen Nationalismus«.

Die in der Revolution siegreiche Arbeiterklasse dürfe die bürgerliche Staatsorganisation nicht übernehmen, sondern müsse dieses »Herrschaftsorgan der Bourgeoisie« zertrümmern und ihren eigenen Staat aufbauen. Die sozialdemokratische Vorstellung, die politische Macht auf parlamentarisch-demokratischem Wege zu erreichen, ist nach der Prinzipienerklärung »an sich eine Illusion« und erst recht angesichts der »Zerstörung des Parlamentarismus« und der »Aufrichtung der offenen Diktatur« unter dem Brüning-Regime.

Der Parteitag bekennt sich einmütig zur Diktatur des Proletariats, die sich auf die durch eine revolutionäre Partei geführte Rätemacht der arbeitenden Massen stützen soll.

Nach dem angenommenen Aktionsprogramm ist es Aufgabe der Arbeiterklasse, die politischen Positionen und die Bewegungsfreiheit, die ihr die Überreste der bürgerlichen Demokratie noch gewähren, im außerparlamentarischen Kampf zu sichern, auszuweiten und zum Angriff auf die bürgerliche Diktatur auszunutzen. Dazu werden eine Reihe von Gegenwartsforderungen aufgestellt: z. B. die Wiederherstellung der demokratischen Freiheiten für das Proletariat, Notmaßnahmen gegen die Verelendung der Arbeiterschaft und gegen die Ausbeutung der Mittelschichten durch das Großkapital, Gesetze gegen die »Kulturreaktion«, Hilfsmaßnahmen für die Kommunen und die Jugend. »Diese Forderungen können in ihrer Gesamtheit im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft nicht verwirklicht werden. Sie sind vielmehr geeignet, die Arbeiterklasse in Kämpfe zu führen, die sie zusammenschweißen, mit Kraftbewußtsein erfüllen und die zugleich aus der Verteidigung der proletarischen Tagesinteressen zum Kampf um die Macht überleiten.«

Neben den Gegenwartsforderungen dekretiert das Aktionsprogramm zwei Übergangslösungen: die »Arbeiterkontrolle der Produktion« und »Her mit der Arbeiterregierung«. Zweck dieser Übergangslösung soll sein, die durch Tageslosungen ausgelösten Teilkämpfe der Arbeiterklasse in den Kampf um die Macht überzuleiten.

Der Faschismus wird in der Prinzipienerklärung gar nicht und im Aktionsprogramm nur in wenigen Sätzen charakterisiert. Der Faschismus sei das Produkt der fortschreitenden »Niedergangskrise« des Kapitalismus. Die Bourgeoisie sehe durch die - im Verlaufe des zunehmenden Massenelendes wachsende - Gefahr einer »revolutionären Machtentfaltung« der Arbeiterbewegung ihre Herrschaftsposition bedroht und neige deshalb dazu, die politische Macht dem »verselbständigten Staatsapparat unter der diktatorischen Leitung eines Abenteurers« anzuvertrauen.

Der Sieg des Faschismus würde die Arbeiterklasse für lange Zeit fesseln, ihren eigenen Sieg weit hinausschieben.

Mit der Einheitsfront-Taktik will die SAP das politisch zersplitterte Proletariat in Tageskämpfen zusammenführen und im Kampf gegen das kapitalistische System auf das Ziel der revolutionären Machteroberung hinlenken.

Das Hauptaugenmerk in der Einheitsfrontpolitik richtet der Parteitag auf die Arbeit in den »großen überparteilichen Massenorganisationen«: Gewerkschaften, Sport- und Freidenkerorganisationen. Die Gewerkschaften bilden trotz ihrer »reformistischen« Führung »das letzte große Bollwerk der Arbeiterklasse«, deren Erhaltung, Stärkung und Revolutionierung »die entscheidende Vorbedingung eines erfolgreichen Abwehr- und Angriffskampfes gegen die Sozialreaktion und gegen Faschismus« sei; daher werden alle SAR-Mitglieder verpflichtet, in diesem Sinne in den freien Gewerkschaften mitzuwirken. Aufgabe der SAP sei es z. B., die Mitglieder der »Eisernen Front« davon zu überzeugen, daß diese neue Organisation den Sieg des Faschismus nicht verhindern könne, weil sie sich auf die Verteidigung des gegenwärtigen Staates beschränke und den Kampf gegen den Faschismus nicht gleichzeitig gegen die Brüning-Regierung und gegen den Kapitalismus überhaupt führe. Ohne auf gewerkschaftliche Einzelstreiks zu verzichten, gelte es vor allem, durch die Propagierung geeigneter Losungen die reinen Gewerkschaftskämpfe auf das politische Gebiet überzuleiten. Um ein einheitliches und geschlossenes Auftreten der Partei zu gewährleisten, werden die SAP-Mitglieder verpflichtet, innerhalb ihrer Gewerkschaften Fraktionen zu bilden und alle oppositionellen Gewerkschaftler in einem »möglichst breiten linken Flügel« zusammenzufassen.

Ähnlich sollen die Mitglieder der SAP in den anderen proletarischen Massenorganisationen taktieren, mit dem Ziel, »die Kampfkraft dieser überparteilichen Massenorganisationen aufs äußerste zu steigern und sie dabei von der reformistischen Führung zu lösen und bereit zum revolutionären Kampfe zu machen.

Die wichtigste Veränderung im neuen Organisationsstatut ist die Beseitigung des Verhältniswahlrechts zu allen Parteiinstanzen. Weiterhin wird die Anweisung des vorläufigen Statuts, bei allen Abstimmungen der Delegierten »nach der Zahl der von den Delegierten vertretenen Mitglieder abzustimmen« dahingehend eingeschränkt, daß jetzt nur noch »auf Verlangen« nach dieser Methode verfahren werden soll.
Statt 50 % der Mitgliederbeiträge und 100 % der Eingänge aus Sonderleistungen verbleiben den Ortsvereinen nun nur noch 30 bzw. 50 %.
Nicht im Statut, aber in der Prinzipienerklärung bekennt sich die SAP zum Prinzip des »demokratischen Zentralismus«. Er »besteht in der Einheitlichkeit der grundsätzlichen Auffassungen, in der Initiative und Verantwortung der Führung, in einem Organisationsaufbau, der die beständige Kontrolle und Beeinflussung aller leitenden Organe bis zum Parteivorstand und ihrer politischen
und organisatorischen Entscheidungen durch die Mitglieder und die unteren Organisationen sichert, sowie in der disziplinierten Durchführung aller Aktionen«.
Nachdem 27 Delegierte und Gäste erklärt hatten, die mit Mehrheit angenommene Prinzipienerklärung als Ganzes und in allen Einzelheiten nur als Diskussionsgrundlage für das endgültige Programm zu betrachten, legt K. Zöllig, ein Mitunterzeichner dieser Erklärung, dem Parteitag folgende Schlußresolution des Parteivorstandes vor, die gegen einige Stimmen angenommen wird:
»Die Annahme der Prinzipienerklärung bezweckt, einheitliche Willensbildung und Kampfentschlossenheit bei allen politischen Aktionen herbeizuführen. Da diese nur aus der freien Diskussion der Parteigenossen erwachsen kann, gelten Beschlüsse nicht als Dogmen, sondern als Grundlage geschlossenen Handelns.«
Zu Parteivorsitzenden werden bei 91 gültigen Stimmen M. Seydewitz (85) und K. Rosenfeld (88); zu Beisitzern für den geschäftsführenden Vorstand: Edith Baumann (81), Gertrud Düby (60), K. Frank (78), Kate Frankenthal (69), P. Freilich (73), W. Hauschildt (74), F. Küster (56), H. Müller (76), H. Seigewasser (72), A. Siemsen (69), B. Thomas (65), J. Walcher (78) und R. Kleineibst (48) gewählt.
Beisitzer für den erweiterten Vorstand werden: R, Agricola (83), E. Eckstein (82), W. Elsner (73), W. Fabian (83), L. Hacke (85), F. Herkenrath (84), A. Portune (78), F. Vogel (82), K. Zöllig (71). Weitere Stimmen werden für Maria Sevenich, F. Sternberg, G. Ledebour und K. Zweiling abgegeben.



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