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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
31. Aug./ 4. Sept. 1931

Kongreß des ADGB in Frankfurt a. Main. 307 Delegierte. Tagesordnung: Die Umwälzungen in der Wirtschaft und die 40-Stunden-Woche (E. Lederer); öffentliche und private Wirtschaft (M. Brauer); Entwicklung und Ausbau des Arbeitsrechts (C. Nörpel).
Reichsarbeitsminister A. Stegerwald (Zentrum) erklärt in seiner Begrüßungsansprache, neben dem Staat und der Wirtschaft stehe auch gegenwärtig die deutsche Sozialpolitik vor der größten Krise seit ihrem Bestehen.
Der Kongreß stellt fest: »Die Politik der Reichsregierung verrät in steigendem Maße die Tendenz, durch Abbau der sozialen Gesetzgebung und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen eine Entlastung der öffentlichen Haushalte und verstärkte Kapitalbildung in der privaten Wirtschaft zu erzielen. Gegen diese einseitige Heranziehung der Arbeiter zu schwersten und vielfach die nackte Existenz gefährdenden Opfern muß der Kongreß um so mehr Einspruch erheben, als er der festen Überzeugung ist, daß auf diesem Wege die gegenwärtige Krise niemals überwunden werden kann. Nicht minder scharf muß das sich allenthalben deutlich zeigende Bestreben der Regierung verurteilt werden, den Einfluß der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften auf dem Gebiete der sozialen und wirtschaftlichen Verwaltung und der kollektiven Regelung der Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen. Der Kongreß weist entschieden den Versuch zurück, die Krise zur Entrechtung der Arbeiter auszunutzen.
Die Gewerkschaften treten heute wie stets für Aufrechterhaltung und Ausbau der sozialen Gesetzgebung, insbesondere der Sozialversicherung ein. In der Versicherung für Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Alter und Invalidität sehen sie auch jetzt noch einen entscheidenden Bestandteil des Arbeitsverhältnisses. Die Erhaltung und ausreichende Sicherung dieser Einrichtungen ist nicht minder wichtig als die Sanierung der öffentlichen Haushalte. Sie verlangen des weiteren die Gewährleistung verstärkten Einflusses der Gewerkschaften in allen sozialen und wirtschaftlichen Körperschaften, sie fordern im Interesse sozialer Gerechtigkeit die Beseitigung der unerträglichen Härten und Rechtsbeschränkungen, deren sich insbesondere die Notverordnung vom 5. Juni 1931 schuldig gemacht hat.«
Der Kongreß beauftragt den Bundesvorstand, die Forderungen nach der gesetzlichen allgemeinen 40stündigen Arbeitswoche weiterhin mit größter Entschiedenheit zu vertreten.
Der Kongreß erblickt in der Verstärkung der Einflußnahme der öffentlichen Hand auf die einzelnen Wirtschaftszweige die Möglichkeit gemeinwirtschaftlichen Handelns schon im kapitalistischen Wirtschaftssystem und den geeigneten Weg für die Umwandlung der kapitalistischen Profitwirtschaft in eine planmäßige Bedarfsdeckungswirtschaft.

Sicherung und Ausbau des kollektiven Arbeitsrechts ist eine der wichtigsten Aufgaben der Gewerkschaften, die, gestützt auf die geschlossene Macht der Arbeiterklasse, erfüllt werden muß.
Die Schaffung des Arbeitsgerichtsgesetzes bedeutete einen großen Fortschritt für die Vereinheitlichung und die Durchführung des Arbeitsrechts. Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbehörden hat jedoch die berechtigten Erwartungen der Arbeiterschaft nur zum Teil erfüllt.
Mit Nachdruck fordert der Kongreß den Ausbau des Arbeitsrechts. Die Vereinheitlichung des Arbeitsvertragsrechtes und die Erweiterung des Arbeitsschutzes muß endlich mit dem ernsten Willen baldiger gesetzlicher Neuregelung in Angriff genommen werden. Zur unbedingten Sicherung der Tarifverträge fordert der Kongreß eine sofortige Ergänzung der Tarifvertragsordnung, wonach jeder Verzicht auf tarifliche Rechte unter allen Umständen als rechtsunwirksam gilt.
In der grundsätzlichen Frage des Schlichtungswesens bestätigt der Kongreß erneut die Auffassung der Gewerkschaften, daß die Schlichtung eine staatspolitische Aufgabe ist und daß der von der Arbeiterklasse erstrebte soziale demokratische Staat die Pflicht hat, bei der Schaffung von Tarifverträgen Hilfe zu leisten. Gegen den systematischen Lohnabbau mit Hilfe des Schlichtungswesens und gegen die Eingriffe in das Tarifrecht durch die Reichsregierung mit Hilfe des Artikels 48 der Reichsverfassung erhebt der Kongreß den schärfsten Protest.
Im Berufsausbildungsgesetz ist der Vorrang des Tarifvertrages eindeutig sicherzustellen und die gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften bei der Regelung der Lehrlingsausbildung zu gewährleisten.
Weiter fordert der Kongreß erneut den gesetzlichen Urlaubsanspruch von mindestens 12 Tagen für die erwachsenen Arbeiter und Arbeiterinnen und mindestens 18 Tagen für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen unter Weiterzahlung des Lohnes. Dabei ist durch Einbeziehung der Mitwirkung der Gewerkschaften Vorsorge zu treffen, daß dieser Rechtsanspruch unabhängig von einem Wechsel des Arbeitsverhältnisses gegeben ist.
In den ADGB-Bundesvorstand werden gewählt: Th. Leipart (Vors.); P. Graßmann u. W. Eggert (stellvertr. Vors.);F. Spliedt u. H. Schlimme (Sekretäre); P. Umbreit (Redakteur); Beisitzer: O. Becker, N. Bernhard, C. Bruns, A. Janschek, H. Mahler, G. Reichel, K. Schrader, F. Tarnow.



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net edition fes-library | Juni 2001