Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. -
[Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Die SPD-Reichstagsfraktion veröffentlicht Richtlinien zur Krisenbekämpfung:
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
23. Juni 1930
»Die unsozialen gesetzgeberischen Maßnahmen der Regierung Brüning haben die Finanz- und Wirtschaftsnot nicht zu beseitigen vermocht. Die von dieser Regierung aufgestellten neuen Pläne führen zu weiteren ungerechten Belastungen und bedrohen das Wirtschaftsleben aufs neue mit Verminderung der Massenkaufkraft.
Eine Senkung des Einkommens der Arbeiter, Angestellten und Beamten kann die Wirtschaft nicht beleben, sondern muß die Krise verschärfen.
Die gegenwärtige Wirtschaftslage erfordert einen allgemeinen Abbau der Preise.
Die wichtigste Aufgabe ist die Schaffung neuer Arbeitsgelegenheiten. Die produktive Erwerbslosenfürsorge und der Kleinwohnungsbau ist zu fördern durch Bereitstellung größerer Mittel aus der Hauszinssteuer.
Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit macht die beschleunigte Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes unter Sicherung des Achtstundentages und stärkster Einschränkung der Überstundenarbeit erforderlich.
Die sozialen Verpflichtungen des Reiches müssen unangetastet bleiben.
In der jetzigen Not ist äußerste Sparsamkeit bei allen öffentlichen Körperschaften unumgängliche Pflicht.
Vor allem müssen die Ausgaben für militärische Zwecke erheblich gesenkt werden, ebenso die für den auswärtigen Dienst, für die hohen Pensionen und Gehälter und andere persönliche und sachliche Zwecke, die mit dem Ernst der Wirtschafts- und Finanzlage nicht im Einklang stehen. Soweit mit diesen Mitteln eine volle Deckung des Haushalts nicht zu erreichen ist, muß sie durch neue
Einnahmen herbeigeführt werden.
Entsprechend ihrer bisherigen Stellung verlangt die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, daß in erster Linie die leistungsfähigen Volksschichten herangezogen werden. Am besten und gerechtesten kann das durch einen allgemeinen Zuschlag zur Einkommensteuer auf die höheren Einkommen geschehen, dessen Höhe auf 10 Prozent festzusetzen wäre.
Um den Zusammenbruch der Gemeindefinanzen durch die noch immer wachsenden Wohlfahrtsausgaben zu verhindern, müssen den Gemeinden die Ausgaben für die Krisenfürsorge abgenommen werden. Um zu vermeiden, daß wirtschaftsschädliche Steuerquellen erneut angespannt werden, ist eine nach der Ausstattung der Gaststätten zu staffelnde Schankverzehrsteuer einzuführen. Die als Bürgerabgabe bezeichnete Kopfsteuer ist abzulehnen.
Die Steuer- und Wirtschaftspolitik des Reiches muß dem Doppelzweck dienen, die Finanzen durch Sparsamkeit und gerechte Verteilung der unvermeidlichen Lasten in Ordnung zu bringen und die Wirtschaftskrise zu überwinden, was nur unter Aufrechterhaltung der Lebenshaltung und der Konsumkraft der breiten Massen möglich ist.
Eine Politik, die gegen diese Gesichtspunkte verstößt, wird die sozialdemokratische Reichstagsfraktion auf das entschiedenste bekämpfen.«