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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
26./31. Mai 1929

SPD-Parteitag in Magdeburg, 397 Delegierte. Tagesordnung: Bericht der Wehrkommission (W. Dittmann); die Internationale (A. Crispien); die Frau in Politik und Wirtschaft (Marie Juchacz); Arbeitersport und Sozialdemokratie (K. Schreck).
In der allgemeinen Debatte werden die Koalitionsfrage (wobei H. Vogel erklärt, niemand in der Partei denke an eine Verleugnung des Klassenkampfes) und der Panzerschiffbau lebhaft diskutiert. H. Vogel schlägt vor, über die vorliegenden Anträge zu diesem Problem zur Tagesordnung überzugehen, da ein Beschluß, der die SPD-Minister zwinge, mit der Fraktion gegen die 2. Rate zu stimmen, bedeuten würde, daß die SPD morgen nicht mehr in der Regierung wäre. Mit 256 gegen 138 Stimmen wird H. Vogels Vorschlag gutgeheißen.
O. Wels und R. Breitscheid stellen fest, daß die SPD an der Arbeitslosenversicherung nicht rütteln lasse: »Wir sind bereit zur Abstellung nachweisbarer Mißstände und sind auch bereit, einer mäßigen Erhöhung der Beiträge zuzustimmen. Das ist aber auch die Grenze unseres Entgegenkommens. ... bei Überschreitung dieser Grenze müßten wir in die Opposition treten.«
Als Koalitionsfrage wird auch eine Steuerreform zugunsten einer Entlastung des Besitzes und die Zollpolitik genannt.
Ein Antrag von S. Aufhäuser und Toni Sender wird, soweit er an der Regierungsbeteiligung und dem Verhalten der SPD-Minister Kritik übt, abgelehnt, soweit er dringendste Tagesforderungen formuliert u. a. die gesetzliche Festlegung des Achtstundentags, die Aufrechterhaltung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung, den Ausbau der Invalidenversicherung, die Vorlage des Tarifvertragsgesetzes und keine Ermäßigung der Steuern der Besitzenden bei einer Herabsetzung der Reparationen, der Fraktion überwiesen.
Der Parteitag fordert die Räumung der besetzten Gebiete am Rhein, die bedingungslose Rückgabe des Saargebietes und – um den deutschen Ostgebieten zu helfen - Beendigung des Handelskrieges mit Polen.
Der Parteitag nimmt in namentlicher Abstimmung mit 242 gegen 147 Stimmen die Richtlinien zur Wehrpolitik an. Gegen die Richtlinien stimmen unter anderem H. Fleißner, P. Hertz, Marie Juchacz, P. Levi, R. Lipinski, K. Schumacher und A. Siemsen.
Die SPD lehnt nach wie vor jede kulturkämpferische Unduldsamkeit ab, fühlt aber im Hinblick auf ihre Grundsätze und Vergangenheit auch die unbedingte und gern erfüllte Verpflichtung, für volle Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und des künstlerischen Schaffens einzutreten.

Über sämtliche zur Konkordatsfrage vorliegenden Anträge wird zur Tagesordnung übergegangen.

Der Parteitag ersucht die Reichstagsfraktion, sich für eine baldige Erledigung des Berufsausbildungsgesetzes einzusetzen und dafür einzutreten, daß folgende Forderungen erfüllt werden:
Die reichsrechtliche Neuregelung der Berufsausbildung muß alle Lehrlinge, Arbeiter und Angestellten in Handwerk, Handel, Industrie, Land- und Hauswirtschaft erfassen.
Es hat den Ländern die lückenlose Einführung und Durchführung der gesetzlichen Berufsschulpflicht (Artikel 145 RV) innerhalb der gesetzlichen Arbeitszeit und ohne Lohneinbuße zur Pflicht zu machen.
Es hat Sicherungen für Regelung der Arbeitszeit, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsfürsorge für alle Jugendlichen zu schaffen.
Bei der Durchführung des Gesetzes ist die Gleichberechtigung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zweifelsfrei zu sichern.
Der Parteitag stellt fest, die Frau sei in Deutschland zwar politisch gleichberechtigt, aber wirtschaftlich und sozial unfrei geblieben. 11,5 Millionen Frauen stünden im Erwerbsleben, davon seien 3,7 Millionen verheiratet. Insbesondere diese letzteren aus dem Erwerbsleben zu verdrängen, erscheine vielen als ein Mittel zur Behebung der Erwerbslosigkeit. Die Verdrängung der Frau aus dem Betrieb, ihr Ersatz durch den Mann sei zahlenmäßig wie arbeitstechnisch unmöglich und widerspräche auch dem von der SPD aufgestellten Grundsatz des Rechtes der Frau auf Erwerbsarbeit.
Der Parteitag erwartet von der Reichstagsfraktion, daß sie durch eine Reform der Reichsversicherungsordnung die Vereinheitlichung der Krankenversicherung herbeiführt.

Im Interesse der Freizeitbewegung aller Hand- und Kopfarbeiter beschließt der Parteitag, dafür einzutreten, daß nicht nur Uferstraßen und Promenaden, sondern alle zur Erholung geeigneten Ufer und, im Interesse der Volksgesundheit, Wälder unter besonderen Schutz gestellt werden.

»Sport und Körperpflege sind für die Arbeiterklasse von besonderer sozial-kultureller Bedeutung. Sie sind vor allem für die Jugend geeignet, die Gesundheit zu fördern und die Energien zu vermehren, die zur Führung des Lebenskampfes eine Voraussetzung bilden. Die Widerstandskraft gegenüber jeglicher Bedrückung wird so ebenso gesteigert, wie das Wirken für größte menschliche Freiheit. Diese wird um so eher erreicht, wenn die Sozialisten und Arbeitersportler noch mehr als bisher sich gegenseitig stützen und gemeinsam die Macht der Sozialdemokratie stärken. Der Parteitag erblickt eine wichtige Aufgabe in der Förderung und Unterstützung der Arbeitersportbewegung, für deren Gleichberechtigung es in den Kommunen, Ländern und im Reich einzutreten gilt.
Der Verbrauch alkoholischer Getränke ist in den letzten Jahren wieder im Anwachsen begriffen. Der Alkoholgenuß schädigt die Gesundheit der erwerbstätigen Bevölkerung, steigert ihre wirtschaftliche und soziale Not, hemmt den kulturellen wie den politischen Aufstieg der Massen.
Um die Alkoholgefahr wirksam bekämpfen zu können, muß insbesondere für die Jugend jeglicher Anreiz zum Trinken beseitigt werden.
Der Parteitag erwartet daher von der Reichstagsfraktion, daß sie in das Reichsschankstättengesetz einen verstärkten Jugendschutz gegen den Alkoholismus einzubauen versucht.«
Der Parteitag beschließt, eine Diskussions-Wochenschrift zu billigem Preis für die Parteimitglieder herauszugeben und eine Agrarpolitische Zentrale beim Parteivorstand einzurichten.
Bei der Parteivorstandswahl werden 386 Stimmen abgegeben. Es erhalten: O. Wels 306, A. Crispien 273 als Vorsitzende; F. Bartels 356 und K. Ludwig 309 als Kassierer; W. Dittmann 253,J. Stelling 312, H. Vogel 324, Marie Juchacz 320 und M. Westphal 306 als Sekretäre; K. Hildenbrand 249, J. Moses 236, Anna Nemitz 252, Elfriede Ryneck 239, H. Schulz 254, O. Frank 221, F. Stampfer 259, E. Stahl 247 Stimmen als Beisitzer.

Bei der Wahl der Kontrollkommission erhalten W. Bock 365, K. Hengsbach 292, M. Treu 237, P. Lobe 334, Lore Agnes 247, A. Brey 309, H. Müller/Lichtenberg 246, P. Schönfelder 263, S. Crummenerl 220 Stimmen. W. Bock wird Vorsitzender.
Für H. Müller und R. Hilferding wird ein Platz im Parteivorstand offengelassen, für den Fall, daß sie ihre Ministerämter niederlegen.



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