Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. -
[Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) in Brüssel, auf dem 456 Delegierte 38 Parteien aus 31 Ländern vertreten. Tagesordnung: Die weltpolitische Lage und die internationale Arbeiterbewegung (F. Turati); der Militarismus und die Abrüstung (J.-W. Albarda); das Kolonialproblem (S. Olivier); die wirtschaftliche Situation der Nachkriegszeit und die ökonomische Politik der Arbeiterklasse (M. Hillquit).
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
5./11. Aug. 1928
Der Kongreß stellt fest: »Der Kampf des internationalen Proletariats um seine Befreiung und um den Frieden kann nur wirksam werden auf dem Boden der politischen Freiheit.
Die Demokratie, an die gegebenen Klassenverhältnisse gebunden, ist für die Arbeiterklasse nicht Selbstzweck. Sie bildet aber ein wichtiges Mittel, um im Gefolge der politischen Gleichheit die soziale Gleichheit zu verwirklichen. Die Arbeiterklasse wird dieses Ziel um so früher erreichen, je konsequenter sie im Rahmen der bürgerlichen Demokratie ihren Kampf führt, durch Ausnützung der politischen Rechte und Freiheiten ihre Machtpositionen erweitert und so die Bedingungen für die Herstellung der proletarischen Demokratie schafft.
Mit aller Kraft erheben wir uns gegen die Diktatur einer Sekte oder eines Mannes, welche Gestalt immer diese Diktatur annehme. Wir erheben uns gegen den Faschismus, der die Freiheit im Innern unterdrückt und den Frieden nach außen bedroht und so eine Gefahr bildet, nicht nur für das Volk, das er knechtet, sondern auch für die demokratischen Nationen, deren Entwicklung ihn beengt. Die Internationale muß den Arbeitern auch sagen, daß diese gefährliche und gewalttätige politische Reaktion begünstigt wird durch die Haltung des Bolschewismus, der in allen Ländern die Arbeiterklasse spaltet und dadurch die Parteien und die Regierungen der Bourgeoisie stärkt, ihre Herrschaft verlängert und verschärft.
Wir, die in der SAI vereinigten Parteien, sind nach wie vor entschlossen, die Sowjet-Republik gegen jede Feindseligkeit kapitalistischer Regierungen und gegen jeden konterrevolutionären Angriff zu verteidigen und von allen Staaten zu fordern, daß sie friedliche und normale Beziehungen zu ihr unterhalten. Aber gleich den Arbeitern der ganzen Welt rufen wir auch die Arbeiterklasse der Sowjet-Union auf, sich mit uns zu vereinigen auf der Grundlage einer proletarischen Weltpolitik, die nicht begründet ist auf die Hoffnung eines neuen Krieges, sondern auf der Erkenntnis der Notwendigkeit, die Demokratie zu verteidigen, wo sie bedroht ist, sie wieder herzustellen, wo sie zerstört worden ist und sie zu einem Instrument der Befreiung der Arbeiterklasse zu machen.«
Der Kongreß betont, daß das Ziel der SAI die vollständige Abrüstung ohne Unterschied zwischen Siegern und Besiegten sei. Diese Forderung kann nur verwirklicht werden durch die gemeinsamen und energischen Bestrebungen der organisierten Arbeiter, durch die unablässige Aufklärung der Arbeiter über die Ursachen und Gefahren der Rüstungen und durch den gesteigerten politischen und wirtschaftlichen Kampf des Proletariats gegen die herrschenden Klassen. Die SAI fordert, daß alle internationalen Konflikte dem obligatorischen Schiedsverfahren oder einem anderen Verfahren friedlicher Beilegung unterworfen werden.
Die Sozialisten lehnen die politische Beherrschung der Kolonialvölker grundsätzlich ab. Sie betrachten die Beseitigung der kolonialen Herrschaftsform als eine Voraussetzung einer internationalen Völkergemeinschaft.
Auf internationalem Gebiet habe die Arbeiterklasse eine dreifache Aufgabe zu erfüllen. Sie müsse danach streben, die Hindernisse der Entwicklung des internationalen Warenaustausches allmählich abzubauen, die internationale Angleichung der Arbeitsbedingungen durch Entwicklung der internationalen Arbeiterschutzkonventionen zu erreichen und verlangen, daß dem Völkerbund ein internationales Wirtschaftsamt unter entscheidender Mitwirkung der organisierten Arbeiterschaft angegliedert werde.
Der Kongreß stellt mit Entrüstung fest, daß neun Jahre nach der Washingtoner Konferenz das Achtstundenabkommen noch immer nur durch eine kleine Minderheit der Regierungen ratifiziert ist.
Der Kongreß widersetzt sich mit der größten Entschiedenheit jedem Versuch, das Achtstundenabkommen abzuschwächen. Solche Versuche können nur als Angriff gegen den kulturellen und politischen Aufstieg der Arbeiterklasse betrachtet werden.
Die SAI beschließt ferner: »In Erwägung, daß die Anwendung der Todesstrafe als Strafe für gemeine Verbrechen sich als unnötig und zwecklos erweist, weil statistisch bewiesen ist, daß diese Art Verbrechen in den Ländern, wo die Todesstrafe beseitigt ist, nicht zahlreicher vorkommen als da, wo sie noch besteht, daß aber das Bestehen der Todesstrafe in gewissen Ländern noch immer Gelegenheit bietet für reaktionäre Regierungen, unter gewissen Umständen sie auch gegenüber politischen Gegnern anzuwenden, daß im allgemeinen die Todesstrafe als eine Barbarei und eine Kulturschande anzusehen ist, daß aber in den meisten Ländern die
Todesstrafe noch häufig vollzogen wird, auch in Fällen, wo der Sachverlauf keine volle Klarheit ergibt, so daß Justizirrtümer immer wieder vorkommen und das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes schwer beleidigen, fordert der Kongreß die Vertreter der sozialistischen Parteien auf, in allen Ländern, wo die Todesstrafe noch besteht, alles zu tun, was in ihren Kräften steht, damit diese barbarische Strafe aus dem Strafverfahren verschwinde.«
Zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees der SAI wird A. Henderson (Großbritannien) gewählt. Dem Exekutivkomitee gehören aus Deutschland an: A. Crispien, J. Stelling und O. Wels.