Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag: 22./27. Aug. 1925

Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) in Marseille, 422 Delegierte aus 31 Ländern vertreten 40 Parteien. Tagesordnung u. a.: Die internationale sozialistische Friedenspolitik; der Achtstundentag; die Arbeitslosigkeit.
Der Kongreß beschäftigt sich vor allem mit der Sicherung des Friedens. Gewisse Bestimmungen der Friedensverträge und die Ungelöstheit gewisser nationaler Fragen, darunter vor allem das Minderheitsproblem, bildeten eine starke Gefahr für den Frieden. Bedauerlicherweise habe die nationale Souveränität in den siegreichen Ländern nicht die Einschränkung erfahren, welche die Solidarität der Völker erfordere. Der Völkerbund werde erst dann die ihm zugedachte Mission voll erfüllen können, wenn ihm alle Nationen mit gleichen Rechten und Pflichten angehörten.
Der Kongreß bekräftigt die Forderung der sozialistischen Arbeiterbewegung nach dem achtstündigen Arbeitstag und dem freien Samstagnachmittag für alle Arbeiter.
Der Kongreß stellt ferner fest, daß eine Reihe von Wirtschaftszweigen so gesundheitsschädlich und gefährlich sind, daß die achtstündige Arbeitszeit zu lang ist; er fordert in solchen Fällen, schon aus Gründen der Menschlichkeit, eine wesentliche Verringerung der Arbeitszeit unter acht Stunden.
»Die Verwirklichung des Sozialismus erfordert die aktive Teilnahme der Massen an der Neugestaltung der Gesellschaft. Da diese Massen zur Hälfte von Frauen gebildet werden, ist es von grundlegender Bedeutung, daß die sozialistischen Parteien aller Länder die Organisierung der Frauen in der sozialistischen Arbeiterbewegung mit allen Kräften betreiben. Um dieses Ziel zu erreichen, muß jede sozialistische Partei die restlose Befreiung der Frauen als eine der wichtigsten Aufgaben ihrer Politik betrachten. Die Befreiung der Frau hat die volle politische, ökonomische und soziale Gleichberechtigung von Mann und Frau, insbesondere das gleiche aktive und passive Wahlrecht zur Voraussetzung.«
Der Kongreß fordert die sozialistischen Parteien auf, von ihren Regierungen eine Verbesserung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose zu verlangen, jener Krankheit, die ihre Verheerungen fast ausschließlich in den Reihen der Arbeiterklasse anrichtet und deren Entwicklung in vielen Ländern vor allem durch die Unterernährung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und durch eine weitere Verschlechterung der Wohnungsverhältnisse der Arbeiterschaft begünstigt wurde. Der Kongreß betont, daß der Kampf gegen die Tuberkulose nicht nur ein medizinisches, sondern vor allem ein wirtschaftliches und soziales Problem ist.
Die in der SAI zusammengeschlossenen Parteien sehen in dem konsequenten und systematischen Kampf gegen den Alkoholismus einen notwendigen Bestandteil des Befreiungskampfes des Proletariats. Da der Sieg über die herrschende Gesellschaftsordnung nur durch die Revolution der Gehirne errungen werden kann, muß die soziale Befreiung der Menschheit durch die Trinksitten, die immer aufs neue Millionen von Arbeiterhirnen betäuben, verzögert werden.

Zum Vorsitzenden der SAI wird A, Henderson (Großbritannien) gewählt, in den Vorstand A. Crispien, H. Müller und O. Wels