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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
Juli 1944

Ein Kreis früherer Funktionäre der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), darunter W. Brandt, A. Enderle und S. Szende, veröffentlichen in Schweden eine Programmschrift; »Zur Nachkriegspolitik der deutschen Sozialisten«. Im Vorwort wird gesagt, man sei sich darüber im klaren, daß die Siegerstaaten weit stärker als nach Abschluß des ersten Weltkrieges die Entwicklung des kommenden Deutschland bestimmen würden, sei aber auch davon überzeugt, »daß auch in Deutschland selbst sich Kräfte regen werden, die ein freiheitliches, friedliches Deutschland aufbauen wollen. «
Die Verfasser treten in der kritischen Abschlußperiode der deutschen Republik für die Einheitsfront der Arbeiterschaft ein. Sie gehörten in den Jahren vor Kriegsausbruch zu denjenigen, die sich für die Schaffung einer sozialistischen Einheitspartei und für die Sammlung aller demokratischen Hitlergegner einsetzten.
Die Verfasser fordern jetzt die Wiederherstellung aller demokratischen Rechte und die Unschädlichmachung der Finanz-, Militär - und Wirtschaftskreise, die Hitler an die Macht geholfen hätten. Die Alleinschuld des deutschen Volkes wird ebenso entschieden abgelehnt wie der Vansittartismus.
Man hofft auf die Erhaltung der deutschen Einheit im Rahmen der Vereinigten Nationen und erkennt die Notwendigkeit von Reparationen an, obwohl man sich gegen eine bedingungslose Erfüllungspolitik wendet. Die Verfasser fordern die Bestrafung der Kriegsverbrecher, die Wiederherstellung der demokratischen Grundrechte, Sofortmaßnahmen zur Verhinderung sozialen Elends und die Demokratisierung der Verwaltung sowie auf außenpolitischem Gebiet die Abstandnahme von allen hitlerischen Annexionen, die Auslieferung der Kriegsverbrecher, die Solidarität mit den nach Deutschland verschleppten Kriegsgefangenen, Hilfe beim Wiederaufbau Europas und Aufnahme in die Vereinten Nationen.

Die nationale Souveränität soll zugunsten einer kollektiven Sicherheit reduziert werden. Alle Teilungs- und Aussiedlungspläne werden zurückgewiesen, möglich sei höchstens eine Gebietsregulierung mit Polen. Jede Demontage wird abgelehnt, am Wiederaufbau der durch deutsche Einwirkung zerstörten Gebiete soll aber mitgewirkt und alle Opfer der Naziherrschaft und ihres Rassenwahnsinnes entschädigt werden. Zwangsweise Verpflichtung auch von Kriegsgefangenen zu Wiederaufbauarbeiten wird abgelehnt. Die Ziele der Vereinigten Nationen, eine europäische Föderation unter Beteiligung der Sowjetunion und Großbritannien sollen unterstützt werden. »Wir betrachten es als eine Selbstverständlichkeit, daß eine gesamteuropäische Lösung ohne Rußland und England nicht möglich ist. Als Sozialisten haben wir ein besonderes Interesse daran, mit der Sowjetunion in engen, freundschaftlichen Beziehungen zu stehen. Solche Beziehungen sind eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Zukunft des deutschen Volkes und für die Stabilisierung des Friedens in Europa.« Die Verfasser treten für das parlamentarische System ein und lehnen ein Rätesystem ab.

Eine sozialistische Einheitspartei soll nicht auf die Arbeiterschaft beschränkt bleiben, sondern auch die städtischen und ländlichen Mittelschichten erfassen. Im Programm wird ferner gefordert: Für die Gewerkschaften der Aufbau »von unten« her, aber unter direkter zentraler Leitung; eine parteipolitisch ungebundene Einheitsgewerkschaft und die Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben, vornehmlich durch ihre direkten Vertreter, die Betriebsräte; Für den Wirtschaftsaufbau die unmittelbare Enteignung des Großgrundbesitzes, der Banken, Versicherungen, Gas-, Wasser - und Elektrizitätswerke und der Verkehrsbetriebe sowie ein planwirtschaftlicher Aufbau. Die Wirtschaftsmonopole sollen gebrochen und Kleinbauern und kleinere Gewerbetreibende für die Genossenschaftsidee gewonnen werden. Man wendet sich gegen Zwangsmaßnahmen mit Ausnahme der Enteignung und eine befürchtete Bürokratisierung, zu deren Bekämpfung man weitgehende Dezentralisierung empfiehlt. Wiederholt wird die Bedeutung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer betont.

Im Programm wird gefordert »eine Erneuerung des deutschen Erziehungswesens im Geiste demokratischer Pädagogik und des realen Humanismus«, zu der vor allem ein Schulaufbau gehöre, »der jedem Jugendlichen die gleichen, seiner Befähigung angemessenen Bildungsmöglichkeiten sichert, ohne Rücksicht auf das Einkommen, die gesellschaftliche Stellung und die Konfession seiner Eltern«, Staat und Kirche sollen getrennt werden.


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net edition fes-library | Juni 2001