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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
30. Juni/ 5. Juli 1919

10. Gewerkschaftskongreß in Nürnberg, 636 Delegierte aus 52 Verbänden vertreten 4 791 154 Mitglieder. Tagesordnung: Organisation der Arbeitnehmerinnen (Gertrud Hanna); die Richtlinien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften und Bestimmungen über die Aufgaben der Betriebsräte (Th. Leipart, R. Müller); gewerkschaftliche Unterrichtskurse (J. Sassenbach); die Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands (A. Cohen); die Satzungen des ADGB (Th. Leipart); die Sozialisierung der Industrie (P. Umbreit); Landwirtschaftliche Produktion und Ansiedelung (G. Schmidt); Regelung des Lehrlingswesens (J Sassenbach); Krieg und Volkskrankheiten (D. Rothschild); Ausbau der Sozialversicherung
(H. Müller).

Der Kongreß erhebt Einspruch gegen jede auch nur vorübergehende Beseitigung des Streikrechts der Eisenbahner, das allen Arbeitern und Angestellten Deutschlands als Errungenschaft der Revolution zusteht.

Mit 445 gegen 179 Stimmen spricht der Kongreß nach sehr lebhafter Debatte der Generalkommission sein Vertrauen aus. Der Kongreß beschließt, den Mannheimer Beschluß von 1906 aufzuheben, da die einheitliche politische Interessenvertretung der deutschen Arbeiter nicht mehr vorhanden sei und erklärt sich für die Neutralität gegenüber den politischen Parteien. Die Gewerkschaften dürften sich jedoch nicht auf die enge berufliche Interessenvertretung ihrer Mitglieder beschränken, sie müßten vielmehr zum Brennpunkt der Klassenbestrebungen des Proletariats werden, um den Kampf für den Sozialismus zum Siege führen zu helfen.
Der Kongreß verabschiedet Richtlinien über das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter und über die Aufgaben der Betriebsräte, die in allen Betrieben mit mehr als 20 Arbeitern gewählt werden sollen. Innerhalb der Betriebe seien freigewählte Arbeitervertretungen zu schaffen, die, im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und auf deren Macht gestützt, in Gemeinschaft mit den Betriebsleitungen die Betriebsdemokratie durchzuführen haben. Die Grundlage der Betriebsdemokratie sei der kollektive Arbeitsvertrag mit gesetzlicher Rechtsgültigkeit. Die Aufgaben der Betriebsräte im einzelnen, ihre Pflichten und Rechte seien in den Kollektivverträgen auf Grund gesetzlicher Bestimmungen festzulegen.

Die Bildung der Arbeitsgemeinschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden wird mit 420 gegen 181 Stimmen gebilligt.

Der Kongreß nimmt »Richtlinien über die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften« an. Darin heißt es unter anderem: Die Gewerkschaften erblicken im Sozialismus gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft die höhere Form der volkswirtschaftlichen Organisation. Die von ihnen erstrebte Betriebsdemokratie und die Kollektivverträge hätten auch in der Gemeinwirtschaft und selbst in völlig sozialisierten Betrieben die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber Betriebsleitung, Gemeinde und Staat zu vertreten. Sie seien deshalb auch im Zeitalter des Sozialismus notwendig. Die Gewerkschaften könnten ihrem Charakter nach als Vertretung reiner Arbeiterinteressen nicht selbst Träger der Produktion sein, als welche die Wirtschaftskammern zu gelten haben.

Gegen 70 Stimmen werden die Satzungen für den zu gründenden »Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund« (ADGB) angenommen. Anstelle der bisherigen losen Verbindung solle jetzt ein dauerndes ständiges Zusammenarbeiten in einem geschlossenen Bund treten. Dabei bleiben die Einzelverbände nach wie vor uneingeschränkt in ihrer Selbständigkeit. Der Zweck des ADGB sei ein ständiges Zusammenwirken der gewerkschaftlichen Zentralverbände zur Vertretung der gemeinsamen Interessen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen. Als Organisationsgebiet eines Verbandes gelte in der Regel ein Industriegebiet, doch könnten die Organisationsgebiete nicht schematisch abgegrenzt werden. Die ADGB-Führung besteht aus dem 15köpfigen Vorstand, der für die Durchführung der Beschlüsse der Kongresse und Ausschußsitzungen zu sorgen und das Zusammenwirken zwischen den Verbänden, Bezirksausschüssen, Ortsausschüssen, Arbeitersekretariaten und den übrigen Vertretungen der Arbeiterbewegung herbeizuführen bzw. aufrecht zu halten habe. Wichtige Beschlüsse des Bundesvorstandes sind vor der Durchführung den Zentralvorständen zur Begutachtung mitzuteilen oder einer Sitzung des Bundesausschusses vorzulegen.
Der Ausschuß des Bundes wird gebildet aus je einem Vorstandsvertreter - in der Regel dem Vorsitzenden - jeder angeschlossenen Gewerkschaft. Bindende Beschlüsse können nur mit Einstimmigkeit gefaßt werden; mit Stimmenmehrheit nur, wenn der Beschluß nicht in das Selbstbestimmungsrecht oder die statuarischen Einrichtungen der einzelnen Gewerkschaften eingreift, und wenn
der Beratungsgegenstand rechtzeitig vorher den Zentralvorständen mitgeteilt war. Der Ausschuß hat die zur Durchrührung von Beschlüssen der Gewerkschaftskongresse erforderlichen taktischen Maßnahmen zu beschließen, die Tätigkeit des Vorstandes zu überwachen, über die Anstellung von Beamten zu entscheiden und deren Wahl vorzunehmen.
Die Ortskartelle erhalten ein neues Statut. Sie sind die örtlichen Vertretungen des Bundes in den Städten und Gemeinden und heißen nun »Ortsausschüsse des ADGB«.
Bundeskongresse müssen alle drei Jahre stattfinden.
Die Führung von Lohnkämpfen sei eigene Aufgabe der einzelnen Gewerkschaften. Nur in Ausnahmefällen könne der Bund bei Streiks eine Unterstützung gewähren.
Der Kongreß bekennt sich zur Reichseinheit und protestiert gegen separatistische Bestrebungen.
P. Umbreit und R. Hilferding referieren über die Sozialisierung. Ein Beschluß wird nicht gefaßt.
Zum Vorsitzenden des ADGB wird C. Legien, zu seinen Stellvertretern P. Grassmann und A. Cohen, zum Kassierer H. Kube, zum Redakteur P. Umbreit, zu Sekretären A. Knoll und H. Löffler , zu Beisitzern: E. Backert, L. Brunner, C. Bruns, C. Giebel, G. Sabath, J. Sassenbach, G. Schmidt und H. Silberschmidt gewählt.



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