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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
10./15. Juni 1919

Parteitag der SPD in Weimar. 434 stimmberechtigte Teilnehmer, davon 370 Delegierte. Tagesordnung: Die Aufgaben der Partei in der Republik (Ph. Scheidemann und E. Bernstein); Rätesystem und Reichsverfassung (H. Sinzheimer und M. Cohen-Reuß).
Im Vorstandsbericht wird behauptet, Deutschland sei zum »freiesten Staat der Welt« geworden, nachdem die Arbeiterklasse in der Novemberrevolution die politische Macht erobert habe. In der Diskussion zum Vorstandsbericht werden die Schuldfrage, Demokratisierung, Vereinigungsfrage und die Stellung zu den Freikorps besprochen sowie G. Noske und W. Heine heftig angegriffen.
Ph. Scheidemann bezeichnet den Bruderkampf in der Arbeiterschaft als das schwerste Hindernis auf dem Wege zum Siege des Sozialismus. Es fehle nicht an Zeichen, daß die reaktionären Mächte sich wieder regten. Er möchte das nicht überschätzen.
Wenn die Reaktion es doch versuche, sich zu erheben, solle sie für alle Zeiten abgefertigt werden. Der Belagerungszustand werde in dem Augenblick aufgehoben, in dem Spartakus auf den inneren Krieg verzichte.

Der Parteitag erklärt seine Bereitschaft, über die Vereinigung mit der USPD auf der Grundlage des Erfurter Programms zu verhandeln, sobald die USPD den Grundsatz der Demokratie rückhaltlos anerkenne und jede Gemeinschaft mit der mit den Mitteln des Putschismus und unter Verwerfung aller demokratischen Grundsätze wirkenden KPD aufgegeben habe.

Den Parteimitgliedern in der Regierung wird das Vertrauen ausgesprochen, wenn auch der Parteitag an ihnen Kritik übt. Der Parteitag stellt die uneingeschränkte Selbständigkeit der Partei gegenüber der Regierung und den in ihr wirkenden Parteimitgliedern fest. Er erklärt, daß Parteigenossen, die Regierungsämter innehaben, der Partei verantwortlich seien.

Über die Sozialisierungsfrage kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen R. Wissell, E. David und R. Schmidt. Von der parlamentarischen Vertretung und den Regierungsmitgliedern wird die Durchführung der Sozialisierung gefordert, wo sie möglich sei; wo noch nicht, sei an die Stelle der reinen Privatwirtschaft eine zugunsten der Volksgemeinschaft planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Gemeinwirtschaft einzu-
richten. Für die allmähliche Überführung von Produktionsmitteln in das Eigentum der Gesamtheit empfehle sich die Beteiligung des Reiches. Die Arbeiterschaft müsse gleichberechtigt neben dem Unternehmertum mitbestimmend und mitverantwortlich an dem Wirtschaftsleben mitwirken. Zu diesem Zweck seien regionale und fachliche Organisationen der deutschen Wirtschaft auf paritätischer Grundlage ins Leben zu rufen, die unter Hinzuziehung von Vertretern der organisierten Verbraucher als Selbstverwaltungskörper zugleich Organe der Gemeinwirtschaft seien.

In der Rätefrage stimmt der Parteitag mit knapper Mehrheit für H. Sinzheimers Auffassung, d. h. für die Errichtung einer eigenen neben der Staatsverfassung bestehenden Wirtschaftsverfassung, in der die gesellschaftlichen Kräfte selbst unmittelbar wirken, und
lehnt M. Cohen-Reuß's Vorschlag ab, die Betriebsräte zu Ständekammern weiter zu entwickeln.

Der Parteitag tritt für ein zuverlässig arbeitendes Berufsbeamtentum ein. Die wohlerworbenen Rechte der Beamten seien zu gewährleisten, das freie Koalitionsrecht der Beamten dürfe nicht eingeschränkt werden. Gleichzeitig soll durch Regierungen und Parlamente dafür gesorgt werden, daß alle politischen Beamten beseitigt werden, die innerlich noch auf dem Boden des alten Regimes und illoyal zur Regierung stünden.

Die Beschwerden der Parteimitglieder über die Haltung der Freiwilligenkorps und ihrer Führer wird vom Parteitag »gewürdigt«.
Er stellt aber auch fest, daß die sozialdemokratischen Arbeiter an der Unzufriedenheit nicht unschuldig seien, weil zu wenige Arbeiter in diese Korps eingetreten und damit die einseitige Zusammensetzung dieser Truppen verschuldet hätten. Der Parteitag fordert die völlige Neutralität dieser Truppen in allen politischen Fragen. Er erwartet eindeutige und feste Maßnahmen gegen jeden Mißbrauch der militärischen Gewalt. Er erhofft dies vor allem durch die weitestgehende Demokratisierung des Offizierskorps und durch den Eintritt der Parteimitglieder in die Reichswehr. Die Fraktion der Nationalversammlung wird beauftragt, sofort ein Gesetz zu verlangen, welches die Abschaffung der Todesstrafe festsetzt.

Der Parteitag bedauert es aufs tiefste, daß es den Parteigenossen im bayerischen Ministerium nicht gelungen sei, die Hinrichtung E. Levinés zu verhindern und fordert sie auf, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß E. Toller das gleiche Schicksal erspart bleibe.
Die Parteigenossen in den Gemeindeverwaltungen sollen für die Beschaffung von Schrebergartenstellen für die minderbemittelten Bewohner der Städte sorgen.

Der Parteitag verabschiedet ein neues, strafferes Organisationsstatut. Die Grundlage der Organisation bildet der sozialdemokratische Bezirksverband, der vom Vorstand nach politischer Zweckmäßigkeit abgegrenzt wird. Der Bezirksverband gliedert sich in Ortsvereine, die durch den Bezirksverband in Unterbezirke zusammengelegt werden können. Zur Durchführung der Organisationsarbeit kann das Gebiet jedes Ortsvereins in Agitationsgruppen gegliedert werden. Daneben sind für industrielle Betriebe, private und staatliche Werke und Anstalten Organisationseinrichtungen zu treffen. Die Bezirksverbände haben die Parteigeschäfte selbständig nach eigenen Statuten zu führen, die mit dem Organisationsstatut der Gesamtpartei nicht in Widerspruch stehen dürfen. Mindestens 25 % aller Mitgliedsbeiträge sind vierteljährlich an die Zentralkasse abzurühren. Zur Deckung der Unkosten zentraler Einrichtungen für die Parteipresse haben alle Parteiunternehmungen geschäftlicher Art jährlich 20 % ihres Reingewinns an die Zentralkasse zu überweisen.

Der Parteivorstand hat das Recht, auf Antrag der beteiligten Organisationen, bei Differenzen, die bei Aufstellung von Reichstagskandidaten entstehen, zu entscheiden. Der Parteiausschuß besteht aus je einem Vertreter der Bezirksverbände.

Die Jugend von 14 bis 18 Jahren sei allerorts unter Aufhebung der bisherigen Jugendausschüsse in Vereinen zusammenzufassen, die sich zu Bezirksorganisationen und übers Reich zu einem Verband der deutschen Arbeiterjugendvereine zusammenschließen sollen. Der Parteitag verpflichtet die Organisationen, die Bestrebungen der Jungsozialisten tatkräftig zu unterstützen. Insbesondere seien dort, wo sich genügend jüngere Parteimitglieder fänden, im Rahmen der Parteiorganisation jungsozialistische Gruppen zu errichten. Der Mittelpunkt zur Förderung der jungsozialistischen Bestrebungen wird der Zentralbildungsausschuß, Publikationsorgan die »Arbeiterbildung«.
Zu Parteivorsitzenden werden bei 376 gültigen Stimmen gewählt:
H. Müller (373) und O. Wels (291), zu Kassierern F. Bartels (373) und O. Braun (361), zu Sekretären Ph. Scheidemann (352), H. Molkenbuhr (373), W. Pfannkuch (369), H. Schulz (347), Marie Juchacz (371), A. Ritter (372),O. Frank (369) und Elfriede Ryneck (358).
In die Kontrollkommission werden bei 325 gültigen Stimmen gewählt: F. Brühne (311), A. Brey (296), R. Fischer (318), M. Grunwald (310), K. Hengsbach (309), P. Löbe (315), H. Müller / Lichtenberg (301), K. Pinkau(294) und Helene Grünberg (262).
In den Bildungsausschuß werden gewählt: H. Cunow, F. Diederich, H. Heimann, K. Hense, K. Korn, P. Löbe, K. Schreck, H. Schulz, Klara Bohm-Schuch; Vorsitzender wird H. Schulz; Geschäftsführer R. Weimann.

Die »Zentralstelle der arbeitenden Jugend« löst sich auf. An ihre Stelle tritt »Der Hauptvorstand des Verbandes der Arbeiterju gendvereine Deutschlands«. A. Albrecht wird dessen Sekretär. Dem Hauptvorstand gehören fünf vom Berliner Arbeiterjugendverein und fünf vom Parteivorstand gewählte Vertreter an: Marie Juchacz, F. Bartels, J. Sassenbach, H. Schulz, R. Weimann. Vorsitzender wird H. Schulz, Stellvertreter W. Rüdiger.


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