Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. -
[Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Reichskonferenz der SPD in Berlin. Mit Ausnahme von Hessen-Kassel sind alle Bezirke vertreten. Das Hauptreferat hält O. Wels: Die SPD habe seit 1918 Gewaltiges geleistet. Sie habe nichts zu verleugnen oder abzuschwören. Schließlich aber habe sie die Weltwirtschaftskrise vor eine Aufgabe gestellt, der sie ebensowenig gewachsen gewesen war wie bisher irgendeine andere Macht der Welt. Die Masse der leidenden Menschen habe die nüchterne, sachliche, nur schrittweise zu Erfolgen führende Politik der SPD nicht verstanden. Daraus habe sich die große Chance für den Nationalsozialismus ergeben, den die SPD unterschätzt habe. Wir Sozialdemokraten stehen zu den Ideen des Rechtsstaates, zu der staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichberechtigung, zu den Ideen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Echter Sozialismus ist Verwirklichung des Humanitätsideals, ist nicht denkbar ohne geistige Freiheit, und eine Partei, die aufhören würde, für das gleiche Recht aller Staatsbürger ohne Unterschied der Konfession und der Rasse zu kämpfen, würde den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschland nicht mehr tragen dürfen.
2. Vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. 3., unveränd. Aufl. 1980.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
26. April 1933
»Es ist verständlich, daß jetzt zu allererst nach dem Warum und Wieso dieses Unglücks gefragt wird und daß die Ursachen auch gesucht werden im persönlichen Versagen Einzelner. Wo persönliches Versagen festgestellt werden kann, müssen die Konsequenzen gezogen werden. Doch wäre es kurzsichtig, die Ursachen nur in Fehlern einzelner Personen zu suchen. Wer die Dinge so betrachtet und wer glaubt, alles wäre heute in bester Ordnung, wenn man seinem Rat gefolgt wäre, der unterschätzt die tiefen Kräfte, die diesem Weltgeschehen zugrunde liegen. Es war die Arbeiterklasse selbst, die den ungeheuren Problemen der Zeit noch nicht gewachsen war, und die sich spaltete, als Einheit mehr geboten war denn je.«
»Die Tatsachen der Machtpolitik können unser taktisches Verhalten beeinflussen, aber niemals können sie etwas an unserer Gesinnung ändern, es sei denn, daß sie uns in unserer Gesinnung bestärkten. Eine geistige Unterwerfung und Anpassung darf es für uns nicht geben.
Ich kann mir nicht denken, daß die Kameraden in den Gewerkschaften in diesem entscheidenden Punkte anderer Meinung sein könnten als wir. Wir haben in den großen Fragen der Weltanschauungen zusammengestanden und damit der Arbeiterklasse gemeinsam gedient. Sollte sich da daran etwas ändern, so würde das für jeden von uns ein erschütterndes Erlebnis sein, aber an unserer Überzeugung ändern würde es nichts.
Es wäre ein hoffnungsloses Unternehmen, wenn man das Leben der Organisation durch Preisgabe der Idee zu erkaufen versuchte. Ist die Idee preisgegeben, dann stirbt auch die Organisation. Aber wird die Organisation durch Kräfte von außen zerschlagen, dann bleibt immer noch in Millionen Köpfen und Herzen die Idee, und sie sichert auch die Wiedergeburt der Organisation.
Noch niemals hat ein Regierungssystem ewig gedauert.
Die Sozialdemokratie kann auf den ideologischen Widerstand gegen die heute herrschende Gedankenrichtung nicht verzichten, das wäre ein Verzicht nicht nur zugunsten des jetzt herrschenden Systems, sondern auch ein Verzicht zugunsten des Kommunismus. Weder von dem einen, noch von dem anderen kann die Rede sein. Mögen einzelne auch versagt haben, die Geschichte unserer Zeit wird von einem stillen Heldentum der Zehntausende erzählen.«
Die Debatte über den Stand der Organisation zeige, daß trotz »Gleichschaltung« die Dinge in den einzelnen Gebieten Deutschlands sehr verschieden liegen. In manchen Gegenden sei die Organisation fast völlig zerstört, in anderen noch ziemlich intakt. Die Konferenz nimmt eine Resolution an, in der es heißt: »Die Sozialdemokratie beharrt bei der Überzeugung, daß es ohne geistige Freiheit und staatsbürgerliche Gleichberechtigung einen wirklichen Sozialismus nicht gibt.
Gesinnungsloses Überläufertum verfällt mit Recht der allgemeinen Verachtung. Durch unerschütterliches Festhalten an ihren Grundsätzen und Ausnutzung der gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten zu ihrer Betätigung dient die Sozialdemokratische Partei Deutschlands der Nation und dem Sozialismus.«
Der Parteivorstand stellt seine Ämter zur Verfügung. Das geschieht, um der »Partei nach einer so furchtbaren Katastrophe die Möglichkeit eines Führerwechsels zu geben«. Der neugewählte Parteivorstand setzt sich zusammen aus O. Wels und H. Vogel als Vorsitzende, ferner S. Crummenerl, Marie Juchacz, K. Litke, Anna Nemitz, Elfriede Ryneck, E. Stahl, F. Stampfer, J. Stelling, M. Westphal, S. Aufhäuser, K. Böchel, G. Dietrich, P. Hertz, F. Künstler, P. Löbe, E. Ollenhauer, E. Rinner, W. Sollmann. O. Frank, K. Hildenbrand und J. Moses unterliegen bei der Wahl. R. Breitscheid, A. Crispien, W. Dittmann und R. Hilferding sind bereits emigriert.