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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
1. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1975.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
12./18. Okt. 1890

Der erste Parteitag der Sozialdemokratie nach Aufhebung des Sozialistengesetzes tagt in Halle mit 413 Delegierten und 17 ausländischen Gästen.

Tagesordnung: Die Organisation der Partei (I. Auer); das Programm der Partei (W. Liebknecht); die Parteipresse (l. Auer und A. Bebel); die Stellung der Partei zu Streiks und Boykotts (K. Grillenberger und K. Kloß).

Die Agitation bei den allgemeinen Wahlen und die Tätigkeit der gewählten Abgeordneten im Reichstag sind nach A. Bebels Überzeugung das Allerwesentlichste und das wirksamste Agitationsmittel für die großartige Entwicklung der Partei unter dem Sozialistengesetz gewesen. Die Partei habe alle Ursache, die bisherige Taktik auch fernerhin beizubehalten.

Der Parteitag nimmt ein neues Organisationsstatut an: Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ist jede Person, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt. Aus vereinsrechtlichen Gründen wird die Organisation auf dem Vertrauensmännersystem aufgebaut. Der Arbeiterwahlverein in den Wahlkreisen und Städten ist meistens die lokale Organisation. Die Vertrauensmänner müssen in öffentlichen Versammlungen gewählt werden.

Oberste Vertretung der Partei ist der Parteitag. Mitglieder des Reichstages und der Parteileitung haben in ihm in allen die parlamentarische und die geschäftliche Leitung der Partei betreffenden Fragen nur beratende Stimme. Die Parteileitung besteht aus zwölf Personen: Zwei Vorsitzenden, zwei Schriftführern, einem Kassierer und sieben Kontrolleuren. Sitz der Parteileitung ist Berlin. Zum offiziellen Parteiorgan wird das »Berliner Volksblatt« bestimmt, mit der Auflage, vom 1. Januar 1891 unter dem Titel »Vorwärts - Berliner Volkszeitung, Central-Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« zu erscheinen. Der Parteivorstand wird beauftragt, dem nächsten Parteitag den Entwurf eines revidierten Parteiprogramms vorzulegen.

Streiks und Boykotts werden als unumgängliche Waffen der Arbeiterklasse anerkannt, dazu sollen sich die Arbeiter gewerkschaftlich organisieren, möglichst in zentralen Verbänden. Der Parteitag empfiehlt allen Parteigenossen kräftige Unterstützung der gewerkschaftlichen Bestrebungen. Die parlamentarischen Vertreter werden beauftragt, dafür einzutreten, daß das volle Koalitions- und Vereinsrecht erreicht wird.

Erste und oberste Aufgabe der Parteipresse muß sein, die Arbeiter aufzuklären und zum Klassenbewußtsein zu erziehen; bei Gründung von neuen Parteiblättern Vorsicht walten zu lassen und zu prüfen, ob die Existenz aus eigenen Mitteln gegeben ist und vor allem, daß die notwendigen geistigen, technischen und administrativen Kräfte zur Leitung eines Blattes vorhanden seien. In die Wahlagitation sei einzutreten für den Reichstag, die Landtage oder die Gemeindevertretungen, wo immer Erfolgsaussichten bestehen.

Der 1. Mai ist dauernd ein Feiertag der Arbeiter.

Die Reichstagsfraktion soll wie bisher die prinzipiellen Forderungen der Sozialdemokratie gegenüber den bürgerlichen Parteien und dem Klassenstaat rücksichtslos vertreten, ebenso aber auch die auf dem Boden der heutigen Gesellschaft möglichen Reformen erstreben, ohne über die Bedeutung dieser positiven gesetzgeberischen Tätigkeit für die Klassenlage der Arbeiter in politischer wie ökonomischer Hinsicht Illusionen zu wecken.

Während der Beratungen kommt es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit Delegierten der in Opposition zur sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stehenden »Jungen«.

In den Parteivorstand werden bei 368 gültigen Stimmen gewählt: als Vorsitzende: P. Singer (368), A. Gerisch (357), als Schriftführer: I. Auer (368), R. Fischer (364), als Kassierer: A. Bebel (367), W. Liebknecht wird als Chefredakteur des offiziellen Parteiorgans bestätigt und nimmt als solcher mit beratender Stimme an den Parteivorstandssitzungen teil. Als Kontrolleure werden gewählt: E. Dubber (359), F. Herbert (339), F. Ewald (336), A. Kaden (326), A. Jacobey (294), G. Schulz (168), C. Behrend (159).

Kurz nach dem Parteitag wird die Parteibuchhandlung »Vorwärts« zur Förderung des Vertriebes und der Neuherausgabe der Parteiliteratur gegründet.


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net edition fes-library | Juni 2001