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Meine Sammlung / Kurt Hirche
In: Revolutionäre des Geistes : illustrierte Zeitschriften, Flugblätter und Publikationen des deutschen Expressionismus aus der "Sammlung Professor Dr. Kurt Hirche, Bonn" ; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Galerie der Friedrich-Ebert-Stiftung / [Konzeption und Realisierung: Dagmar Clasen]. - Bonn, [1994], S. 6 - 14
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Kurt Hirche
Meine Sammlung

Meine Sammlung, die mit ihrem vollen Namen Sammlung Prof. Dr. Kurt Hirche, Bonn heißt, ist das Ergebnis lebenslanger Liebe zu Büchern, Schriften und Bildern. Schon als Schüler der siebenklassigen preußischen Volksschule hatte ich einen Heißhunger auf Bücher und dem tausendfachen Leben, das mir aus ihnen entgegenquoll. Mich bewegten die Schicksale, Erlebnisse und Gestalten, von denen in ihnen die Rede war. Mit einigen konnte ich mich identifizieren.





Kurt Hirche in der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1994
Foto: Karl Debus



Natürlich spielten die Abenteuergeschichten eine besondere Rolle und erregten meine Phantasie. Ich verschweige nicht, daß ich mich auch auf Schmöker stürzte und mich die Hefte mit ihren grellbunten Umschlägen, in denen Westernhelden wie Buffalo Bill und Old Shatterhand oder Detektive wie Nat Pinkerton ihre aufregenden Abenteuer bestanden, zeitweilig in ihren Bann schlugen. Ein glückliches Geschick sorgte dafür, daß dieser Ausflug in die Gefilde der Schauergeschichten und Schundromane eben nur ein Abstecher blieb. Immerhin ermöglichte er mir später, als in den zwanziger Jahren das Schund- und Schmutzgesetz verkündet wurde, in Zeitschriften der Jugendbewegung einigermaßen sachverständig über die gewollten Vorzüge und die großen Nachteile dieses Gesetzes kritisch zu schreiben.

Die Menschen, denen ich es in meinen Kindheitsjahren am meisten zu verdanken habe, daß ich den Weg zum »guten Buch« nicht verfehlte, waren mein Vater und die Bibliothekarin der Magdeburger Arbeiter-Zentralbibliothek, Trude Thape. Mein Vater war einer jener hunderttausend klassenbewußten Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, die Bildung sehr hoch bewerteten und die damals in der Arbeiterbewegung geflügelten Worte Bildung macht frei und Wissen ist Macht nicht als leere Formeln, sondern als Aufforderung betrachteten, durch mehr Wissen den Kampf um eine bessere Gesellschaftsordnung zu gewinnen.

Mein Vater las als aktiver Gewerkschaftsfunktionär nicht nur sozialkritische Literatur, sondern auch Bücher, die als Roman, Erzählung oder in der Literaturbeilage der »Volksstimme« über den Lebensweg bekannter Arbeiterführer berichteten. August Bebel verehrte er und sprach mit meiner Mutter häufig über sein bekanntestes Werk »Die Frau und der Sozialismus«. Und mir rühmte er als leuchtendes Beispiel für den Aufstieg eines Arbeiters Bruno Bürgels Buch »Vom Arbeiter zum Astronomen«. Dies, wie auch eine Reihe von »Aufstiegsschilderungen« verschiedener Art, habe ich mit innerer Anteilnahme gelesen. Sie haben in mir das Verlangen geweckt, es jenen einmal gleichtun zu können, denen es gelungen ist, in dieser Klassengesellschaft voranzukommen.

Einen nachhaltigen Einfluß auf meine stets hellwache Leselust hat aber auch meines Vaters Vorliebe zur Literatur der Klassiker und Sozialen Dichter ausgeübt. Es kam häufig vor, daß er uns aus Theaterstücken vorlas. Schiller, Ibsen, Sudermann und Hauptmann wurden von ihm bevorzugt. Der »Biberpelz« lag ihm besonders, weil er hier unseren schlesischen Dialekt besonders gut anbringen konnte. In der kleinen Küche eng um den Tisch gedrängt - meine Mutter meist am Herd mit der Arbeit beschäftigt -, saßen meine beiden Schwestern und ich mucksmäuschenstill, wenn er die verschiedenen Stimmen imitierte und ab und zu Erläuterungen hinzufügte. So habe ich schon in frühen Jahren so manches der damals viel gespielten Bühnenwerke kennengelernt, die meinen Drang nach mehr Wissen über die Welt der Dichter nährten.

Wenn meine Sammlung auch einen beachtlichen Bestand an Theaterliteratur enthält, so ist das nicht zuletzt auf diese Kindheitserinnerungen zurückzuführen. Zwar konnte ich damals noch keine eigenen Bücher kaufen und meine erste kleine Sammlung enthielt nur die dünnen Blätter der Magdeburger Volksbühne, denen sich die seltenen Jahrgänge und verwandte Schriften später hinzugesellten, doch das Herz eines heutigen Theaterkritikers dürfte wohl höher schlagen, wenn er nun bei mir das gesamte Theaterwerk von Alfred Kerr, die Schriften von Alfred Polgar und Julius Bab vorfindet, zu Tairoffs klassischem Werk greifen oder sich in anderen bei mir vorhandenen Theaterwerken an der Quelle informieren kann wie etwa bei Piscators Veröffentlichungen.

Doch ich bin dem Entstehen meiner Sammlung schon vorausgeeilt und greife zurück auf meine letzten Schuljahre und meine Lehrjahre in Magdeburgs größtem Fuhr- und Speditionsunternehmen. Ich habe die Bibliothekarin Trude Thape erwähnt, in deren Wirkungskreis ich über Jahre ständiger Gast war. Sie betreute den wissbegierigen Arbeiterjungen mit freundlichem Zuspruch und wies ihn auf die frühen Arbeiterdichter hin, führte ihn in die Gedankenwelt des wissenschaftlichen Sozialismus ein und riet ihm ab, sofort das »Kapital« von Karl Marx zu lesen, ehe er sich mit anderen Schriften marxistischer Verfasser vertraut gemacht habe. Ich folgte ihrem Rat und hatte ohnehin einige Zeit mit Kautskys »Ökonomische Lehren von Karl Marx« und Gorters »Historischem Materialismus« zu tun, ehe ich mich in der Folgezeit mit vielen anderen sozialkritischen Theoretikern herumplagte, deren Lehren ich keineswegs nur nachbetend annahm, sondern kritisch bewertete, und über die ich ein eigenes Bild der sozialen Ökonomie zu erarbeiten suchte.

Trude Thape, deren mir befreundeter Bruder Ernst Thape Jahre später in Halle/S, als Minister für Volksbildung eine Rolle spielte, konnte mich nur einige Jahre beraten, da sie nach Berlin ging und den Vorwärts-Redakteur Franz Klühs heiratete, dessen Buch »Einführung in den Sozialismus« heute noch in meinem Besitz ist. Aber ich hatte bereits das Laufen im dichten Blätterwald der sozialistischen und anti-sozialistischen Literatur gelernt und mir einige Erkenntnisse erarbeitet.

Sobald ich mein erstes Taschengeld als Handlungslehrling und dann mein Gehalt als Handlungsgehilfe verdiente, benutzte ich jede Mark, die ich abzweigen konnte, um mir die Bücher jener Meister der sozialistischen und wirtschaftlichen Theorie zu kaufen, mit deren Thesen ich mich auseinanderzusetzen versuchte. So sind in etwa anderthalb Jahrzehnten alle wesentlichen Schriften von Marx und Engels, von Kautsky, Bernstein und Bebel, von Kampfmeyer und Franz Mehring in meinen Besitz gelangt. Es erfüllt mich mit einem gewissen nostalgischen Stolz, daß ich die Erstausgaben von Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie und anderer ihrer Schriften, Hilferdings »Finanzkapital« und die dreibändige vollständige »Sozialdemokratische Bibliothek« aus Zürich habe wie auch Erstausgaben früher Schriften von August Bebel, Herkners »Arbeiterfrage« und darüber hinaus auf eine große Reihe der »Internationalen Bibliothek« rückblicken kann, die nicht nur wegen ihrer dunkelroten Einbände auch äußerlich demonstrieren, wess' Geistes ihre Herkunft ist.

Aber nun drängte es mich, die den marxistisch-sozialistischen Kern dieser Literatur begleitenden Schriften zu sammeln wie etwa die von Martin Buber herausgegebene Reihe »Die Gesellschaft«, die 20 Hefte der Dokumente der Menschlichkeit (München) und die Reihe Öffentliches Leben des Neuen Geist-Verlages, die ein Hauptsprachrohr des Internationalen Jugendbundes-Nelson-Bund war. Ohnehin brachte es mein Studium der Volks- und Betriebswirtschaft mit sich, daß ich mein Interesse mehr und mehr auf die Grundwerke der Sozialökonomie richtete.

Einer meiner Lehrer war Werner Sombart, der damals gerade die beiden Schlußbände seines sechsbändigen Werkes »Der moderne Kapitalismus« vorgelegt hatte, die ich mit Rabatt erwerben konnte. Was ihn als Dozent wie als Skribent auszeichnete, war seine Fähigkeit, auch komplizierte ökonomische Vorgänge gut verständlich darzulegen. Ich war mit vielem, was er über die sozialistische Theorie geschrieben hatte, nicht einverstanden, erwarb aber im Laufe der Zeit die meisten seiner zahlreichen Veröffentlichungen, die einen nicht zu übersehenden Block in meiner Sammlung bilden. Neben ihnen befinden sich dort auch Franz Oppenheimers »Theorie der reinen politischen Ökonomie« und Friedrich Wiesers soziologisches Hauptwerk »Das Gesetz der Macht«, mehrere Bände des »Grundrisses der Sozialökonomie«, ein Dutzend »Ausgewählte Lesestücke zum Studium der Politischen Ökonomie« und zahlreiche andere Werke, die vor 1933 erschienen sind und noch heute Beachtung beanspruchen können wie etwa H. de Mans »Psychologie des Sozialismus« und Karl Mannheims »Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbruchs«.

Insgesamt mögen es, als das Dritte Reich ausbrach, mehrere hundert Titel aus dem Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gewesen sein, die ich in Schränken und Kartons aufbewahrte. Obwohl sie den größten Teil der damaligen Privatbibliothek des Studenten Hirche bildeten, betrachtete ich sie mehr oder minder nur als notwendige Hilfsmittel für mein Studium. Was mich mehr bewegte waren die Blätter, Zeitschriften und Dichtungen der Jugendbewegung, die ich um mich sammelte und von denen mir bis heute die ersten bescheidenen Blätter der Hamburger Jungsozialisten, die Schrift Jungsozialismus (1921) und die ersten Jahrgänge der Jungsozialistischen Blätter, geblieben sind. Und bewegt haben mich die frühen Verse und Schilderungen der Arbeiterdichter Barthel, Bröger, Engelke, Lersch, Petzold, Zech und der Werkleute auf Haus Nyland, deren seltene Zeitschrift Quadriga einen Ehrenplatz im Block meiner arbeiterjugendbewegten Literatur einnimmt. Die von meinem Mentor August AIbracht herausgegebene Reihe »Junge Arbeiterdichtung«, die bei mir fast vollständig vorhanden ist, enthält auch das Bändchen »Jüngste Arbeiterdichtung«, das Kurt Bröger betreute, und in dem ich mit einem Gedicht vertreten bin.

Ich hatte auch schon einige Schriften der »bürgerlichen« Jugendbewegung, insbesondere der Freideutschen Jugend, besaß einige kulturpolitische Bücher und mehrere Ausgaben der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse und der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, weil mich Freud und seine Lehre ungemein interessierte. Insgesamt ist zu sagen, daß ich bis zum 30. Januar 1933 immerhin schon einen Buchbestand besaß, der sich von den durchschnittlichen Heimbüchereien anderer Bürger unterschied, weil er kaum Romane und Tagesliteratur enthielt, aber noch keineswegs den Anspruch erheben konnte, eine »Sammlung« zu sein.

Dieses Prädikat ist ihr erst später zugewachsen, und einen großen Schritt dazu hat mir das »Dritte Reich« ermöglicht. Es gehört zu den kleinen Treppenwitzen der Geschichte, daß sich in jener Zeit, die mit Bücherverbrennungen begann, mein eigener Buchbestand etwa ab 1938 vermehrte. Ich hatte nach Jahren der Verfolgung und Arbeitslosigkeit in Berlin eine Anstellung in einem Sozialpolitischen Forschungsdienst und damit die Möglichkeit bekommen, Bücher nicht nur in Bibliotheken zu lesen, sondern zu kaufen - und zwar verhältnismäßig billig zu kaufen, weil den Menschen schon in jenen letzten Vorkriegsjahren, und erst recht nachdem der Krieg ausgebrochen war, der Sinn nach anderen Dingen als nach Büchern stand. Und ich hatte darüber hinaus das Glück, daß mein Büro in der Potsdamerstraße lag, in der mehrere Antiquariate ihr Domizil hatten, mit deren Inhabern ich bald in guten, allmählich sogar in vertrauten Kontakt kam.

Kann man es einem Antiquar, dessen Bestände nach 1933 von braunen Buchverbrennern gefilzt worden waren und der Überprüfungen zumindest befürchten mußte, kann man es ihm verdenken, daß er kein Freund der Nazis war? Und muß man ihn nicht loben, daß er bereit war, vertrauten Kunden - so auch mir - jene Bücher zu verkaufen, die auf dem Index der NSDAP standen?

Es muß nachträglich auch ein Lob für die vielen alteingesessenen Antiquare Deutschlands ausgesprochen werden, die es im Tausendjährigen Reich wagten, Bestände an »unerwünschter« Literatur nicht zu vernichten - und ein besonderes Lob gebührt denen, die es riskierten, »Verbotenes« zu verkaufen und damit weiter zu verbreiten. Das war nicht nur eine läßliche Sünde, sondern buchstäblich eine Todsünde, weil der Ertappte damit rechnen mußte, gleichgültig ob er nun Käufer oder Verkäufer war, daß ihm Sabotage, Zersetzung der Volkskraft oder andere verabscheuungswürdige Delikte vorgeworfen wurden und der Tod als mögliche Bestrafung nicht ausgeschlossen werden konnte.

Um so mehr gedenke ich der damaligen Antiquare der Potsdamerstraße Heybutzki und Kapieske und einiger anderer, deren Namen ich vergessen habe, daß sie dieses Risiko jahrelang auf sich nahmen. Heybutzki verkaufte mir neben seltenen Büchern auch ein großformatiges Ölbild von Max Pechstein »Selbstbildnis mit Tod«, das mir dann leider wieder verloren ging. Und der biedere, liebenswerte bejahrte Kapieske hatte den Mut, mir ein Zeichen zu geben, wenn er von der Gestapo oder einer anderen Nazistelle eine neue Ladung »beschlagnahmter Bücher« erhalten hatte. Die Nazikulturwächter beschlagnahmten vor allem nach der Reichskristallnacht das Eigentum jüdischer Mitbürger oder Ausreisewilliger. Insofern dabei Bücher oder Schriften anfielen, verscherbelten sie diese an »vertrauenswürdige« Antiquare mit der Auflage, »Verbotenes« auszusondern und zu vernichten. So bin ich in jener Zeit im Keller von Kapieske gestanden, wenn er damit beschäftigt war, das »Volksschädliche« zu zerreißen, um ihm zuvor Werke von Arnold und Stefan Zweig, von Hasenclever, Werfel oder Kraus für meine Bibliothek abzuzweigen.

So wuchs meine Sammlung vor allem in den letzten Kriegsjahren, als Bomben Berlin zerstörten und die Menschen an ihr Überleben, aber kaum an den Erwerb von Büchern dachten, beachtlich an. Da die Antiquare die heiße Ware schnell loswerden wollten und mich als ständigen Käufer schätzten, bekam ich von ihnen außer verbotenem Schrifttum auch seltene Werke, von denen sie sich in normalen Zeiten wohl nur gegen hohes Aufgeld getrennt hätten. So konnte ich die zehn Bände der »Anthropopytheia« nebst ihren zehn Ergänzungsbänden preiswert erwerben. Die von dem Volkstumsforscher Friedrich S. Krauss herausgegebenen Privatdrucke sind noch jetzt eine Rarität. Was heute an kultur- und sittengeschichtlichen Büchern auf den Markt kommt, stützt sich zu einem wesentlichen Teil auf jene schon vor 1914 erschienenen Werke, ohne daß dieser Umstand dem Leser freilich verraten wird.

Dasselbe gilt auch für das große Lebenswerk des sozialistischen Forschers Eduard Fuchs, insbesondere für seine sechsbändige Sittengeschichte, die ich damals ebenso meiner Sammlung einverleiben und mit seinen Karikaturenwerken (»Der Krieg in der Karikatur«, »Die europäischen Völker in der Karikatur«, »Das Weib in der Karikatur« usw.) später noch ergänzen konnte. Da sich auch andere kulturgeschichtlich seltene Werke hinzugesellten, die Bombardierungen Berlins immer bedrohlicher wurden, entschloß ich mich, meine wertvollsten Bücher in Kisten und Kartons zu verpacken und »auf die Dörfer« zu verlagern. Mehrere Kisten erhielten meine Schwestern in Altenkirchen (Westerwald) und Oyterburg (Altmark), andere wanderten ins Schwäbische und vier gingen in das kleine Örtchen Dennach im Schwarzwald, wo ich in einem Gasthof mehrmals Ferien verbracht hatte.

Viel Mühe, Ärger und auch Sorge waren mit dieser Verlagerung verbunden. Als der Krieg vorüber war und ich daran gehen konnte, das Ausgelagerte nach Berlin zurückzuholen, stellte sich heraus, daß ich mir meine damalige Sammlung lückenlos erhalten hätte, wenn ich sie nicht verlagert hätte. Ich bin zwar dreimal bombenbeschädigt worden und konnte zeitweilig nicht mehr in meine Wohnung, aber der Keller war unbeschädigt geblieben, und ich hätte dort meinen gesamten Bücherschatz ebenfalls unbeschädigt wieder vorfinden können, als ich aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Die Bücher aus dem Schwäbischen kamen arg verstockt zurück, die aus der Altmark waren auf dem Transport beraubt und empfindlich beschädigt worden, und als ich nach Dennach kam, um meine dortigen Bücher abzuholen, erlebte ich eine böse Überraschung. Das Örtchen gehörte zur französischen Besatzungszone; und als die Franzosen im Gasthof bei Mutter Pfrommer einzogen und im Keller mehrere Fässer mit Rotwein entdeckten, ließen sie ihren Ärger darüber, daß sich in den Kisten neben den Fässern lediglich Bücher und keine Kostbarkeiten befanden, an den Fässern aus, zerschlugen einige und ließen das rote Naß über meine Bücherschätze laufen, so daß ich nur einen kleinen Teil retten und heimführen konnte.

So hatte meine Bibliothek, als ich 1945 einen neuen Abschnitt meines Lebens begann, schon eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. Ich hätte sie zu diesem Zeitpunkt wohl kaum schon eine »Sammlung« genannt, weil sie, grob geschätzt, nur vier Zehntel dessen ausmachte, was meine heutige Sammlung titelmäßig darstellt, und weil ich eigentlich nun erst systematisch zu sammeln anfing und Schwerpunkte setzte. Dies bedeutet zunächst, daß ich weitaus mehr als die Hälfte meiner Bestände nach 1945 erworben habe und davon wiederum den größten Teil in der Zeit von 1945 bis etwa 1955. Dies war mir möglich, weil die Menschen alles, was sie im Dritten Reich und im Krieg entbehrt hatten, ersetzen und »leben« wollten, und die Antiquariate Berlins in dieser Zeit aus Kellern und Böden und versteckten Lagern all jene Bücher und Schriften hervorholen und ohne Angst vor Verfolgung zeigen konnten, die ich für meine Sammlung suchte. Und was suchte ich?

Verständlicherweise wiederum vieles, was vorher verboten war. Dazu gehörte auch alles, was mit dem Namen Freud zusammenhing. Von den etwa 80 Titeln meiner Sammlung, die sich mit Psychoanalyse, Psychologie und Philosophie beschäftigen, sind die meisten in den ersten Nachkriegsjahren bei mir gelandet und im persönlichen Geisterstreit mit dem großen Wiener Arzt, Aufrührer und Verwirrer auch weitgehend von mir durchforstet worden. Sicher ist, daß nur ein kleiner Teil jener heute schon fast unübersehbaren Literatur über die umkämpften Großmeister Freud, Adler, Jung, Stekel und Reich und über die philosophieverwandten Mauthner, Mannheim, Bloch, Nelson usw., sich in meinen Bücherschränken einfanden.

Aber ich habe damals wie heute immer versucht, nicht alles, was interessant wäre, zu erwerben, sondern nur maßgebliche Werke. Das ist mir bei Freud, Adler, Stekel gelungen, dessen zehnbändiges Werk »Störungen des Trieb- und Affektlebens« mancher Arzt und Freudadept gern in seinem Besitz hätte. Das gilt auch für Fritz Mauthners Vierbandwerk »Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande« und neben seinem sprachkritischen Werk auch für sein »Wörterbuch der Philosophie« und Blochs »Geist der Utopie« sowohl in seiner ersten Fassung von 1917 als auch für die endgültige von 1923.

Zu dem ehemals »Verbotenen«, das ich erwarb, gehörten weitere der schon erwähnten kultur- und sittengeschichtlichen Werke von Eduard Fuchs, gehören neben anderen Alfred Kinds vierbändiges Kompendium »Die Weiberherrschaft«, Magnus Hirschfelds »Sittengeschichte des Weltkriegs« und Hans Lichts dreibändige »Sittengeschichte Griechenlands« (jeweils mit den als Privatdruck erschienenen Ergänzungsbänden) sowie seltene kulturgeschichtliche Ausgrabungen von Franz Blei (Der Amethyst, Die Opale), Engbischs »Geschichte der erotischen Literatur« und eine Reihe weiterer Werke wie etwa Ostwalds »Kultur- und Sittengeschichte Berlins« und ein frühes Großwerk »Der nackte Mensch in der Kunst aller Zeiten und Völker« von Wilhelm Hausenstein - alles Bücher, aus deren Schatz die heutigen Verfasser erotischer Literatur schöpfen.

Vielleicht fragt ein Leser, warum ein ausgewiesener Volks- und Betriebswirt Wert darauf gelegt hat, in seiner den Gesellschaftswissenschaften gewidmeten Bibliothek nicht nur wirtschafts- und sozialpolitische Schriften zu vereinen, sondern auch einen beachtlichen Block kultur- und sittengeschichtlicher Werke. Ich kann als Antwort nur geben, daß ich mich stets darum bemühte, ohne Scheuklappen zu denken. Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einerseits, Kultur- und Sittengeschichte und Philosophie, Psychologie und Dichtung andererseits sind keine abgeschotteten Bereiche, sondern sich gegenseitig befruchtende Manifestationen gesellschaftlichen Wissens und Wollens; wer nur in ökonomischen Kategorien denkt und zu wenig beachtet, welchen Einfluß »Sitte« und »Kultur«, Massenbewegungen und Moralvorstellungen ausüben können, kann leicht in die Irre gehen.

Darum habe ich versucht, meine relativ bescheidene Sammlung immer auch um seltene Stücke zu bereichern wie es etwa die zehn von A. R. Meyer bei Cassirer herausgegebenen Bände des »Venuswagens« darstellen. Ihr erster Band enthält das in offiziellen Ausgaben nicht zu findende Versgedicht »Venuswagen« von Schiller, zu dem Lovis Corinth Originallithographien geschaffen hat, deren Kühnheit den Staatsanwalt veranlaßte, das Buch zu beschlagnahmen. Hierzu gehören auch Josef Feinhals' heitere Tischgespräche »NON OLET«, der von Alfred Kind herausgegebene »Hermaphroditus« und die »Apophoreten« und Albert Wesselskis »Mönchslatein«.

Vor allem kam es mir darauf an, die Lücken in meinen Beständen von Arbeiterdichtung und Jugendbewegung zu füllen. Auch hier darf ich sagen, daß die bekanntesten ihrer jugendbewegten Künder wie Wyneken, Blüher, Heimann, Stefan George, Gundolf und andere mit ihren wichtigsten Werken bei mir vertreten sind wie auch die Jahrgänge der Freideutschen Jugend, der Freien Schulgemeinde, Der Anfang und der Neue Anfang, in deren Blättern der junge Benjamin noch unter dem Pseudonym Ardor seine ersten Beiträge veröffentlichte. Ich lehnte in meinem Innern die aristokratische und auf Gefolgschaft bedachte Haltung von Stefan George schon vor 1933 ab, bis sich auch für die Öffentlichkeit erwies, daß er ebenso wie Jünger und Möller van der Brück das Entstehen des Dritten Reiches begünstigt hatte.

Nicht vergessen möchte ich in diesen Hinweisen auf Einzelstücke meiner Sammlung, daß sie ein komplettes Exemplar der wichtigsten Jugendbewegungs-Zeitschrift Junge Menschen enthält, deren von Walter Hammer gestalteter weltoffener Inhalt noch heute ungemein lesenswert ist. Kaum bekannt ist, daß Hammer als Soldat 1917 die Feldzeitung seines Infanterieregiments herausgegeben hat, die noch keinen jugendbewegten Ton verrät, wohl aber vom Sieg des deutschen Gedankens spricht, dem er damals auch in gleichem Geiste mit einem Heftchen Soldatendeutsch Respekt zollte. Hammers Kriegsflugblätter waren als Beilage in einer Schrift »Münchhausen an der Ostfront« enthalten, in der Unteroffizier A. Paul Weber lustige Zeichnungen beisteuerte, die von seinem späteren kritischen Stil noch nichts erahnen lassen - insgesamt ein Konvolut in meiner Sammlung, das zur Nachdenklichkeit Anlaß gibt.

In Berlin, wo ich bis Anfang 1953 weilte, hatte ich auch das Glück, einige Zeitschriften in Antiquariatskellern zu finden, die zu den besten zählen, die kurz vor dem ersten Weltkrieg und in den ersten Jahren der Weimarer Republik erschienen. Dazu gehört ein komplettes Exemplar der Zeitschrift Der Neue Merkur, die bei höchstem Niveau nur Originalbeiträge zu Politik und Kultur veröffentlichte, die heute noch lesenswert sind. Dazu gehören auch der zuerst von Wilhelm Herzog, dann von Alfred Kerr herausgegebene Pan, der ein radikales, kritisches antiwilhelminisches Blatt war, und das Forum, das ab 1914 erschien und wegen seiner linksgerichteten Haltung bald verboten wurde. Und hier sind - auch aus meinen Beständen - die komplette Monatsschrift für Kunst, Literatur und Musik Faust zu erwähnen, vor allem aber Die Weißen Blätter, die ab 1913 erschienen und zum Sammelpunkt der Antikriegsliteratur wurden und deshalb in die Schweiz emigrieren mußten.

Durch sie alle wurde mein Sammelinteresse mehr und mehr auf die vielen expressionistischen oder dem Expressionismus nahestehenden Zeitschriften hingelenkt. Mir wurde bewußt, daß linke und expressionistische Literatur und expressionistische Graphik eine Einheit bilden, und Felixmüller, Meidner, Schmidt-Rottluff, Kirchner, Jansen, Richter-Berlin u.a. in ihren Graphiken nur ausdrückten, was Benn, Hasenclever, Werfel, Heynicke, Becher, Kanold, Wolfenstein und Kläber in ihren Dichtungen zu verkünden suchten. Und als mir in Düsseldorf eine größere Zahl des Sturm in die Hände fiel und mir dasselbe in München mit der Aktion geschah, entschloß ich mich, eben diesen und ihnen verwandten Zeitschriften mein Sammlerinteresse verstärkt zuzuwenden. Wenn ich damit insgesamt guten Erfolg hatte, ist das wesentlich darauf zurückzuführen, daß ich ab Mitte der 50er Jahre durch meine gewerkschaftliche Tätigkeit, durch staatliche und private Ehrenämter, Reisen und zahlreiche Vorträge häufig Gelegenheit hatte, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch im Ausland herumzukommen, wobei ich jede freie Minute benutzte, um in Antiquariaten zu stöbern. Was ich in heimischen Gefilden nicht fand, fiel mir in London bei zwei von Emigranten geführten Buchhandlungen, in Paris, bei einem ausgewanderten deutschen Juden, oder in Bukarest, Prag, Brüssel und Wien in die Hände.

Es würde zu weit führen, wenn ich diese, sich über Jahrzehnte erstreckende Suche im einzelnen schildern und beschreiben wollte; wieviel Mühe es macht, um einige Nummern einer begehrten Zeitschrift zu finden, und so will ich nur noch den Versuch unternehmen, einen groben, lückenhaften Gesamtüberblick über die Sammlung Prof. Dr. Kurt Hirche, Bonn, zu geben, die ich - wie noch zu erwähnen sein wird - der Friedrich-Ebert-Stiftung verschrieben habe. Bis Ende 1992 hat die Stiftung etwa 1500 Titel schriftlich registriert und in Verwahrung genommen. Ich schätze, daß etwa die gleiche Zahl noch bei mir oder als Sonderposten bei der Stiftung vorhanden ist. Eine Bibliothek von rund 3000 Titeln wird gewiß von sehr vielen Privatbibliotheken zahlenmäßig weit übertroffen. Andererseits darf sie wegen ihrer vielseitigen, mit Seltenheiten gespickten Zusammensetzung, die sie wohl von den meisten Privatbibliotheken unterscheidet, auch öffentliche Beachtung erfordern.

Das zahlenmäßige Bild bekommt zudem sofort ein anderes Gesicht, wenn ich darauf hinweise, daß die Zeitschrift Der Sturm, die als ein Titel auf der Liste erscheint, in 395 Einzelnummern erschienen ist, die zu 80% in meinem Besitz sind. Von der Zeitschrift Die Aktion, die ich zu 90% besitze, sind über 600 Hefte erschienen und mein Querschnitt-Bestand umfaßt über 200 Nummern. Zwar gibt es unter meinen etwa 100 kultur- und kunstpolitischen Zeitschriften auch solche, die nur wenige Hefte umfassen, aber insgesamt muß man davon ausgehen, daß sich der Umfang meiner Sammlung durch die Zeitschriften auf etwa 5000 »Stück« erhöht.

Entscheidend scheint mir aber nicht die Zahl, sondern die besondere Qualität und Seltenheit meiner Sammlungsstücke zu sein. Meine drei Jahrgänge der expressionistischen Zeitschrift Das Neue Pathos sind jeweils nur in 120 (bzw. 250) Exemplaren erschienen und komplett, wie bei mir, extrem selten. Dasselbe gilt für die bei Hegner schon vor dem Weltkrieg verlegten Neuen Blätter, für das während des ersten Weltkriegs verlegten Sprachrohrs des Dresdener Expressionismus Menschen, für die Hefte der Kieler Schönen Rarität, für die Münchner Blätter für Dichtung und Wahrheit, das Zeit-Echo und Oscar Kanehls Wiecker Boten.

Und wenn ich schon etwas ins Schwärmen geraten bin, kann ich nicht an den zeichensetzenden Schöpfungen der Berliner Expressionisten und Dadaisten vorbeigehen, die mit den Heften der Neuen Jugend begannen, sich in den drei berühmten Dada-Heften, in Jedermann sein eigener Fußball, den großformatigen Herausforderungen der Pleite, im Blutigen Ernst und anderen bei mir vorhandenen Dada-Heften fortsetzten. Einzelheiten kann der interessierte Leser meinem Katalog des Malik-Verlages entnehmen.

Einen wesentlichen Beitrag zum künstlerischen Expressionismus hat der Steegemann-Verlag in Hannover mit seinen Silbergäulen geleistet, deren 145 Nummern sich in meinem Zeitschriftenhimmel munter tummeln, darunter auch Schwitters »Kathedrale« und seine erste »Anna Blume«. Und in diesem Zusammenhang kann der Berliner Bibliomane und Verleger Lyrischer Flugblätter Alfred Richard Meyer nicht fehlen, der in seinen nur in kleinen Auflagen gedruckten Heften den neuen Dichtern und Graphikern Gelegenheit bot, ihre heute von Sammlern meist vergeblich gesuchten Werke zu zeigen. Sie sind in meinen Beständen reichlich vertreten wie auch Przygodes Bände Die Dichtung, des Hamburgers Lorenz Rote Erde und Mynonas rare Zeitschrift Der Einzige.

Dieser Versuch eines Überblicks über einen Teil meiner Zeitschriftensammlung soll den Leser nicht zu der Annahme verleiten, daß meine Bestände überstark von den Leitsternen Expressionismus, Arbeiterdichtung, Jugendbewegung und Kunst beherrscht seien. Das ist, wie ich schon früher andeutete, nicht der Fall, da ich sie insgesamt immer als eine politisch geprägte Sammlung angesehen habe. Um das zu verdeutlichen, will ich sogleich die große verlegerische Leistung von Franz Pfempfert hervorheben, der sich nicht nur mit seiner unübertroffenen Zeitschrift Aktion ein Denkmal gesetzt hat, sondern mit den über 50 Bänden Der Rote Hahn (die sich ebenfalls in meinem Besitz befinden) seiner Aktionsbibliothek der Aeternisten und anderen Schriften Musterbeispiele fortschrittlicher politischer Dichtung geliefert hat. Und ich will auf Pohls Die Neue Bücherschau, die Linkskurve, die Moskauer Zeitschriften Das Wort, die Internationale Literatur und die Literatur der Revolution hinweisen, die allesamt außer ihrer literarischen Bedeutung in ebenso starkem Maße politische Publikationen waren wie die in der West-Emigration entstandenen Zeitschriften, an deren Spitze ich aus Amsterdam Die Sammlung, Klaus und Thomas Manns Züricher Zeitschrift Maß und Wert sowie die Prager Neuesten Deutschen Blätter hervorhebe, die bei mir in großer Vollständigkeit vorhanden sind.

Auch ein Teil der nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Büchermarkt erschienenen Zeitschriften, von denen einige bereits selten geworden sind, wie etwa Die Wandlung in Heidelberg, Plan in Wien, Sinn und Form in Berlin, Lancelot, Das Goldenen Tor, Die Fähre, Silberboot und Perspektiven sowie Ost-West von Kanthorowiz, haben neben ihrem literarischen Anspruch auch politische Bedeutung. Der kultur- und sozialpolitisch Denkende wird also in meiner Sammlung auf seine Kosten kommen.

Mag sein, daß mich ein gewisser Besitzerstolz veranlaßt hat, mehr in die Einzelheiten zu gehen, als ich in der Abfassung dieser Beschreibung ursprünglich gedacht hatte, so daß ich nun feststellen muß, daß ich wichtige Bereiche noch gar nicht erwähnt habe, wie beispielsweise meinen Bestand an Werken der Karikatur, des Humors und der Satire - zu dem die politischen Holzschnittwerke Daumiers ebenso gehören wie Gustav Kahns »Fürsten Europas in der Karikatur« und »Das Weib in der Karikatur«, Conrings »Das deutsche Militär in der Karikatur«, Wendels »Der Sozialismus in der Karikatur« und viele andere mehr.

Ebenfalls noch nicht erwähnt wurden die großen kunstgeschichtlichen Werke wie der Genius, die Bände des Ganymed, des Hyperion und die von 1921 bis 1924 edierten Jahrbücher der jungen Kunst, die mit ihren originalgraphischen Beilagen und kulturpolitischen Beiträgen noch heute eine Fundgrube für Lernende und Lehrende darstellen. Sie sind es nicht zuletzt gewesen, die mich dazu veranlaßt haben zu überlegen, wie ich dafür sorgen konnte, daß die Sammlung nicht nur ein Dasein in Schränken und Regalen führt, sondern auch einer interessierten Öffentlichkeit bekannt wird.

Im Winter 1981/82 kam ich deshalb mit der Leitung des Städtischen Kunstmuseums Bonn, dessen Ausstellungen ich mehrfach besucht hatte, ins Gespräch. Ich erbot mich, dem Museum aus meiner Sammlung seltene Schriften und Graphiken des Expressionismus für eine Ausstellung zur Verfügung zu stellen und fand offene Ohren. Nachdem sich Alfred M. Fischer - ein Deutsch-Amerikaner und wichtiger Mitarbeiter des Leiters - einen Einblick in meine Bestände verschafft hatte, verständigten wir uns darauf, zunächst eine Ausstellung über den Sozialsatiriker George Grosz ins Auge zu fassen, von dem ich reichlich Bestände aus seiner frühen Schaffensperiode besaß.

Fischer machte sich mit Feuereifer ans Werk und am 9. Juli 1982 konnte die Sammlung Dr. Kurt Hirche mit der Ausstellung »Der Sozialsatiriker George Grosz« im Haus an der Redoute, Bad Godesberg, erstmals an das Licht der Öffentlichkeit treten. Sie erweckte großes Interesse und zog mehrere Tausend Besucher an; was nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, daß Fischer einen 236 Seiten umfassenden Katalog erstellte, mit einem klugen Vorwort versehen hatte und mehrere hundert Grosz-Zeichnungen abbildete, von denen einige vorher nie gezeigt worden waren, da sie zumeist in Zeitschriften zu finden sind, die häufig von Kunsthistorikern übersehen werden.

Peter M. Grosz, der Sohn von George Grosz, bedankte sich bei mir schriftlich und beglückwünschte mich zu meiner »herausragenden Grosz-Sammlung« und der Ausstellung. Der Katalog selbst ist sehr schnell zu einer gesuchten Rarität geworden.

Schon bei den Vorbereitungen zu dieser ersten Präsentation aus meiner Sammlung waren sich Fischer und ich einig, daß ihr bald eine über die expressionistischen Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion folgen sollte, deren von 1910 bis 1932 erschienenen Nummern ich zum größten Teil besitze. Mein Wunsch, beide Zeitschriften gemeinsam zu zeigen und gesellschaftskritisch gegenüberzustellen - ein Wunsch, der bis heute unerfüllt blieb -, ließ sich aus Platzgründen nicht erfüllen. Wir gaben daher einer Ausstellung über Die Aktion den Vorzug, weil diese im Unterschied zum Sturm in der Öffentlichkeit wenig bekannt, in ihrer Aussagekraft für eine fortschrittliche, freie Kunst wohl aber noch bedeutsamer ist.

Die Ausstellung wurde vom 7. Dezember 1984 bis 13. Januar 1985 wiederum im Haus an der Redoute, Bad Godesberg, unter dem Titel »DIE AKTION - Sprachrohr expressionistischer Kunst« gezeigt. Mit großer Mühe und Hingabe hatte Alfred M. Fischer für sie einen 320 Seiten umfassenden Katalog erarbeitet, der mit seinen mehreren Hundert vorzüglichen Abbildungen zugleich eine umfassende Dokumentation der künstlerischen Leistung dieser sozialrevolutionären Zeitschrift darstellt. Auch zu diesem Katalog, der inzwischen ebenfalls vergriffen ist, schrieb Fischer ein einfühlsames Vorwort.

Auch diese Ausstellung fand in der Öffentlichkeit gute Beachtung und veranlaßte das Karl-Marx-Haus in Trier, die Ausstellung im Frühjahr 1985 in die alte Römerstadt zu holen und in seinen Räumen zu zeigen.

Inzwischen war die Leitung des Städtischen Kunstmuseums auf Katharina Schmidt übergegangen. Zusammen mit ihrem Mitarbeiter Klaus Schrenk verschaffte sie sich Einblick in die Möglichkeiten meiner Sammlung. Schnell begeistert entschloß sie sich, eine Ausstellung in größerem Rahmen vorzubereiten, die im Bonner Kunstverein vom 3. Dezember 1986 bis 18. Januar 1987 gezeigt und von Oberbürgermeister der Stadt eröffnet wurde. Unter dem Titel »Expressionistischen Druckgraphik Sammlung Dr. Kurt Hirche« ermöglichte sie einen breiten Einblick in die verschiedenen Strömungen des bildnerischen Expressionismus, denn außer zahlreichen Exponaten des Sturm hatte ich die seltenen Zeitschriften Die Schöne Rarität, Das Tribunal, die Münchner Blätter für Dichtung und Graphik und andere bisher kaum gezeigte Blätter und Schriften zur Verfügung gestellt. In einem großformatigen Katalogheft wurden zwei Sondernummern der Schönen Rarität und der nur in vier Nummern erschienene Düsseldorfer Zeitschrift Das Ey faksimiliert dargestellt.

Im März und April 1987 wurde die Ausstellung in teilweise veränderter Gestalt im Clemens-Sels-Museum in Neuß und von Ende November bis Januar 1988 im Karl-Marx-Haus in Trier gezeigt. Größere Teile dieses Kontingents wurden auch im Rahmen der Städtebund-Ausstellungen von Nordrhein-Westfalen in den Städten Werdohl, Paderborn und St. Augustin präsentiert.

Ein viertes Mal nutzte das Städtische Kunstmuseum meine Sammlung vom 22. April bis 29. Mai 1988 für die Ausstellung »Meisterwerke expressionistischer Druckgraphik« im Haus an der Redoute. Sie brachte vor allem Exponate aus der nur in 150 Exemplaren gedruckten Zeitschrift für expressionistische Graphik und Literatur Der Anbruch, die bislang noch in keiner Ausstellung gezeigt worden waren. Hinzu kamen Blätter aus der extrem seltenen satirischen Zeitschrift Der Blutige Ernst sowie weitere Graphiken. Auch diese sehr beachtete Präsentation übernahm das Karl-Marx-Haus in Trier.

Meine schon bis in die Fünfziger Jahre zurückreichenden vielfältigen Beziehungen zur Friedrich-Ebert-Stiftung hatten sich in den letzten Jahren vertieft. Nachdem die Stiftung schon aus Anlaß meines 75. Geburtstages am 30. Oktober 1979 eine Auswahlbibliographie meiner Schriften erstellt und mir in einer Feierstunde mit Freunden und Interessenten ermöglicht hatte, eine kleine Teilpräsentation meiner Bestände zu zeigen, hatte ich meine Sammlung vertraglich abgesichert der Friedrich-Ebert-Stiftung nach meinem Tode vermacht. Die politischen Ereignisse im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands veranlaßten mich, der Stiftung eine Ausstellung in ihren Räumen vozuschlagen, da sich in meiner Sammlung besonders viele kultur- und kunstpolitische Schriften und Blätter aus Sachsen und Thüringen befinden.

In freundschaftlichem Zusammenwirken mit dem Leiter der Bibliothek der sozialen Demokratie, Horst Ziska wurde die Ausstellung »Arbeiterbildung und Kultur in Sachsen und Thüringen« - Seltene Bücher und Schriften aus der Sammlung Dr. Kurt Hirche, Bonn« vorbereitet und in der Galerie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 12. Dezember 1990 bis 4. Januar 1991 vorgestellt. Für den 68-seitigen großformatigen Katalog hatte ich die Abhandlung »Kulturwille und Arbeiterdichtung vor 1933 in Sachsen und Thüringen« verfaßt. Er enthielt neben Beiträgen von Franz Walter und Reiner Noltenius ein Verzeichnis der 155 Exponate, die Zeugnis ablegen von den vielen kulturellen Bestrebungen der Arbeiterbewegung jener Zeit.

Das Interesse dieser Ausstellung war recht groß. Für das Frühjahr 1991 hatte sie sich - wieder einmal - das Karl-Marx-Haus in Trier gesichert. Dann trat die Leitung der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg an mich heran, sie auch in Heidelberg zu präsentieren.

Zu Heidelberg hatte ich schon als junger Student eine besondere Beziehung; ich hatte am Grabe Eberts gestanden, als es noch keine Gedenkstätte für ihn gab. Die Antiquare der Stadt, die ihre Keller und Böden in kleinen Nebengassen unterhielten, sahen mich zeitweilig häufig als ihren Gast. Aber nicht nur bei ihnen, sondern später auch anderswo (in Hannover konnte ich einen ganzen Jahrgang des Saturn erwerben) fand ich Belegstücke des Heidelberger Expressionismus. Als sich die Friedrich-Ebert-Gedenkstätte meine Ausstellung erbat, konnte ich ihnen mitteilen, daß ich sie mit zahlreichen Exponaten aus der Heidelberger Expressionismusgeschichte ergänzen könnte. Was ich bei der Suche in meinen Schränken und Kisten fand, war so überraschend, daß ich mich entschloß, eine Abhandlung über »Arbeiterbewegung, Heidelberg und der Expressionismus« zu schreiben. Sie ist Bestandteil des Kataloges, den die Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg zu ihrer unter dem Titel »Expressionismus und Arbeiterkultur« vom 15. Januar bis 16. Februar 1992 gezeigten Ausstellung vorlegte.

Die Ausstellung zeigte Heidelberg von einer auch für ihre Oberen und für Universitätslehrer neuen Seite und veranlaßte die Stadtverwaltung, eine junge Kunsthistorikerin mit der weiteren Erforschung der Heidelberger Expressionismusgeschichte zu betrauen.

Schon während die Heidelberger Aktivitäten liefen, hatte Die Deutsche Bibliothek, Deutsche Bücherei Leipzig gebeten, die Ausstellung zu übernehmen. Ich stimmte gern zu und bereicherte die Exponate um weitere Schriften und Graphiken aus Leipzig, Dresden, Erfurt und Jena. Unter dem Titel »Expressionismus und Arbeiterkultur« erblickte sie erstmals in einer Stadt das Licht der Öffentlichkeit, die ich als junger Sparkassenangestellter letztmalig Ende der Zwanziger Jahre betreten hatte.

Im Februar 1993 hatte mir die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen »als Auszeichnung für hervorragendes wissenschaftliches Wirken« den Titel »Professor« verliehen und so wurde auch meine Ausstellung erstmals als »Sammlung Prof. Dr. Kurt Hirche« ausgewiesen. Einer meiner Neffen, Dieter Pasemann, hat den Katalog mit einem in die Gegenwart führenden Vorwort versehen. Die vom 19. März bis 22. Mai 1993 gezeigte Ausstellung erfuhr in Presse und Funk ein erfreuliches Echo.

Es würde zu weit führen, wollte ich hier die Fälle im einzelnen erwähnen, in denen Akademien, Museen und Sammler sich Leihstücke aus meiner Sammlung für ihre Ausstellungen erbaten. Mit besonderer Freude hat es mich erfüllt, daß ich 1989 der Städtischen Kunsthalle Recklinghausen zu ihrer, aus Anlaß der 43. Ruhrfestspiele veranstalteten, großen Ausstellung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« dienlich sein konnte. Mit über 140 Exponaten zu den verschiedensten Aspekten dieser großartigen Ausstellung war ich der größte Leihgeber. (Der deutsche Gewerkschaftsbund, dessen hervorragender Funktionär ich fast zwei Jahrzehnte war, hat davon keine Kenntnis genommen und auch frühere Ausstellungen ignoriert. Ich erlebte die Wahrheit des alten Spruches, wonach ein Prophet nichts im eigenen (Gewerkschafts-) Vaterland gilt.)

Ich bin am Ende meines Versuches angelangt, Außenstehenden zu vermitteln, wie meine Sammlung zustande gekommen ist. Das geschriebene Wort kann das nur mangelhaft tun. Um so mehr freue ich mich, daß mir die Friedrich-Ebert-Stiftung die Gelegenheit gibt, wesentliche Teile meines Sammlungsbemühens in einer Ausstellung zu zeigen. Ich bin überzeugt, daß sie den Besucher nicht enttäuschen wird.


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