DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

DEKORATION DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG DEKORATION


TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
6./10. Oktober 1912

Der 8. Kongreß des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften in Dresden "hält die Lösung der Arbeitslosenfrage für eine der bedeutsamsten Aufgaben der zukünftigen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Durch die Schwankungen der Wirtschftskonjunktur und die Übersichtlichkeit des Arbeitsmarktes werden fortlaufend eine Anzahl von Erwerbstätigen ohne eigenes Verschulden arbeitslos und damit ihrer einzigen Einkommensquelle beraubt. Für die Betroffenen und deren Familien, wie für die Volkswirtschaft und Allgemeinheit ist das von den nachteiligsten Folgen.
Seitens der öffentlichen Gewalten sind alle Bestrebungen zu fördern, durch die eine größere Stabilität des Arbeitsmarktes herbeigeführt werden kann.
Dringend notwendig ist ein besserer Schutz der nationalen Arbeitskraft. Der bisherigen schrankenlosen Schmutzkonkurrenz mit billigeren ausländischen Arbeitskräften sind gesetzliche Schranken zu ziehen. Die heimischen Arbeiter haben ein Recht darauf, in Deutschlands Industrie, Handel und Gewerbe zuerst Arbeit und Brot zu finden.
Die Arbeitsvermittelung ist durch Reichsgesetz zu regeln. Ferner muß die Arbeitsvermittelung der staatlichen Aufsicht unterstellt und jeder Mißbrauch verboten werden.
Öffentliche (kommunale - gemeinnützige) Arbeitsnachweise sind zu empfehlen, vorausgesetzt, daß ihre Vermittelungstätigkeit einwandfrei ist und auch den Arbeiterorganisationen ein entsprechender Einfluß eingeräumt wird. Generell abzulehnen ist jeder Zwang bei der Arbeitvermittelung, durch den die Freiheit des Arbeitsvertrages, die Freizügigkeit und fachliche Weiterbildung unterbunden werden.
Für die unverschuldet Arbeitslosen zu sorgen, ist Pflicht der Allgemeinheit und die nächste dringliche Aufgabe unserer Sozialpolitik. Eine befriedigende Lösung kann nur in einer reichsgesetzlichen Arbeitslosenversicherung auf beruflicher Grundlage gefunden werden. Die Bundesstaaten sollen die Gemeinden zur Einführung kommunaler Arbeitslosenversicherungen anhalten und bestehende Einrichtungen durch Zuschüsse aus Staatsmitteln fördern und unterstützen.
Grundsätzlich und praktisch ist bei der Arbeitsvermittelung wie bei der Arbeitslosenfürsorge die Mitwirkung der Gewerkschaften unentbehrlich, weshalb ihnen ein entsprechender Einfluß einzuräumen ist.
Angesichts der Tatsache, daß durch die Zunahme der Ausstände und Aussperrungen an Zahl und Bedeutung die wirtschaftlichen Schäden, die sie den Arbeitern, den Unternehmern und der ganzen Volkswirtschaft zufügen, eine in hohem Grade bedenkliche Ausdehnung gewonnen haben, wird es erforderlich, dem Schieds- und Einigungswesen erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Es ist zu erstreben, alle Hindernisse zu beseitigen, welche der Koalitionsfreiheit, der Bildung und Wirksamkeit von Vereinigungen zur Vertretung gemeinsamer wirtschaftlicher und beruflicher Interessen der Berufsgenossen entgegenstehen.
Die bisher zur friedlichen Beseitigung von Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis eingeschlagenen Wege sind teils durch die Gesetzgebung des Reiches - Errichtung von Gewerbegerichten und Einigungsämtern -, teils durch Selbsthilfe der Beteiligten - Tarifverträge, Einsetzung von Schlichtungskommissionen und centralen Einigungsinstanzen - eröffnet worden. Beide Wege werden auch in Zukunft in Anspruch genommen. Für alle großen Ausstände und Aussperrungen, die sich über das ganze Reich oder doch über einen erheblichen Teil desselben erstrecken, erscheint es erforderlich, alsbald in einem Reichs-Einigungsamt eine Instanz zu schaffen, die den Parteien den Weg zur Verhandlung ebnet, die friedliche Beilegung von Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis und den Abschluß von Verträgen vermittelt, die die Einrichtung von dauernden, paritätisch besetzten Organen zwecks Herbeiführung und Wahrung des Friedens im Gewerbe bezwecken.
Das gewerbliche Schieds- und Einigungswesen muß in allen Gewerben und Industrien - besonders auch in der Großindustrie - Eingang finden.
Der Kongreß erachtet es als eine Selbstverständlichkeit, daß in den Schieds- und Einigungsämtern alle Gewerkschaftsrichtungen vertreten sein müssen. Er erhebt deshalb gegen die einseitige Besetzung der Schieds- und Einigungsämter für das Buchdruck-, Chemigraphen- und Kupferdruckgewerbe mit sozialdemokratisch organisierten Arbeiterbeisitzern und gegen das Bestreben, diese verwerfliche Praxis auch auf andere Gewerbe zu übertragen, den schärfsten Protest.
Die auf dem Kongreß vertretenen Organisationen verpflichten sich, in Zukunft alles aufzubieten, um eine Monopolstellung der sozialdemokratischen Verbände im gewerblichen Schieds- und Einigungswesen zu verhindern und den christlichen Gewerkschaften den ihnen gebührenden Einfluß zu sichern.
Eine Arbeiterbewegung, die in Deutschland sich auf die Dauer neben der Sozialdemokratie behaupten will, muß der weitschichtigen sozialdemokratischen Gedankenwelt eine andere, ebenso umfassende Gedankenwelt entgegenstellen. Also bedarf die christliche Gewerkschaftsbewegung einer Ergänzung. Diese ist nur möglich dadurch, daß sich die Arbeiter zur Pflege ihrer staatsbürgerlichen und geistig-sittlichen Ideale ohne Unterschied des Berufes in konfessionellen Arbeitervereinen zusammenschließen, während die wirksame Geltendmachung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter deren umfassenden Zusammenschluß auf beruflicher Grundlage erfordert, was eine Trennung nach Konfessionen ausschließt.
Der Kongreß erklärt: Organisationsform und Charakter der christlichen Gewerkschaften haben sich in nahezu 15jähriger Praxis bewährt; die christlichen Gewerkschaften bleiben deshalb auch in der Zukunft in den seitherigen bewährten Bahnen."
Den christlichen Mitgliedern wird der Beitritt zu Konsumvereinen empfohlen; der Kongreß hält es aber für selbstverständlich, daß sie nur solchen Konsumvereinen beitreten, die einem Verband, der für die Neutralität auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete die vollste Gewähr biete, angehören.
Der Centralverband deutscher Konsumvereine kann als solcher schon wegen der engen Koalierung mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei nicht in Frage kommen.
Der Kongreß hält ein spezielles Staatsarbeiterrecht für dringend notwendig.



Vorhergehender StichtagInhaltsverzeichnisFolgender Stichtag


net edition fes-library | 1999