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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
25./26. April 1910

Der außerordentliche Kongreß der Gewerkschaften in Berlin behandelt nur einen einzigen Tagesordnungspunkt: die Reichsversicherungsordnung. Der Kongreß kritisiert die in dem Entwurf zur Reichsversicherungsordnung enthaltenen Verschlechterungen der Arbeiterversicherung.
In der Krankenversicherung sind - unter Wegfall aller übrigen Krankenkassenformen - gemeinsame Orts- und Bezirkskrankenkassen zu schaffen. Die Gewerkschaften wenden sich gegen die Absicht, nach der Arbeitnehmer und Arbeitgeber nun je die Hälfte der Beiträge zahlen sollen. Damit sei ein Zurückdrängen des Einflusses der Gewerkschaften auf die Selbstverwaltung der Kassen verbunden.
Der Kongreß verlangt eine Erhöhung der Einkommensgrenze, das Recht der Krankenkassen auf dem Gebiete der Krankheitsverhütung tätig zu sein, die Gewährung einer ausreichenden Unterstützung an Schwangere und Wöchnerinnen - Gewährung von Stillgeld - und die Gleichstellung der landwirtschaftlichen, staatlichen, kommunalen und seemännischen Arbeiter, der Dienstboten, Hausgewerbetreibenden mit den gewerblichen Arbeitern.
Die Unfallversicherung ist auf alle gegen Lohn oder Gehalt Beschäftigten ohne Rücksicht auf die Höhe des Lohnes oder Gehaltes und auf die selbständigen Unternehmer, auf die im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt Tätigen auszudehnen.
Der Begriff des Betriebsunfalles ist auf jene Unfälle auszudehnen, die auf dem Wege nach und von der Arbeit eintreten. Gleich den Unfällen sind die Gewerbe- und klimatischen Krankheiten zu entschädigen.
In der Invalidenversicherung ist der Kreis der versicherungspflichtigen Personen, insbesondere auf die Klein- und Hausgewerbetreibenden auszudehnen.
Die Altersrente ist bei Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren. Erleichterung der Aufrechthaltung der Anwartschaft. Wegen unterlassener Beitragsleistung der Arbeitgeber dürfen die Renten nicht versagt werden; gesetzlicher Anspruch der Versicherten und ihrer Angehörigen auf rechtzeitige Einleitung eines Heilverfahrens bei drohender Invalidität. Den Versicherten ist größere Anteilnahme an der Verwaltung einzuräumen
Der Kongreß protestiert entschieden gegen das Bestreben, die allgemeine Versicherung erneut in eine Sonderversicherung für die Privatangestellten zu zersplittern.
"Der Kongreß fordert: die Gewährung der Witwenrente an alle Witwen der Versicherten; die Zahlung der Waisenrenten in allen Fällen ohne Rücksicht auf die Frage der Bedürftigkeit, unter Gleichstellung der unehelichen und ehelichen Kinder; die Höhe der Renten soll in jedem Falle die Gewähr bieten, daß die Rentenbezieher nicht der öffentlichen Fürsorge anheimfallen, Ausbau der freiwilligen Zusatzversicherung, daß sie auch für die Hinterbliebenen nutzbar wird; Gleichstellung der Hinterbliebenen eines Ausländers mit denen der Inländer, und zwar auch dann, wenn ihr Wohnsitz sich im Auslande befindet."
Die Wahl der Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber muß in direkter und geheimer Wahl auf Grund des Verhältniswahlsystems erfolgen. Aktives und passives Wahlrecht sollen alle Versicherten erhalten, ohne Unterschied des Geschlechts und der Staatsangehörigkeit.
Unter Beibehaltung des Grundcharakters des Knappschaftswesens soll dies durch die Reichsversicherungsordnung geregelt werden.
Der Kongreß beschließt: "Für den Fall, daß die in dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung vorgesehene Halbierung der Beiträge und der Vertretung für die Krankenversicherung Gesetz werde sollte, verpflichten sich die ... Gewerkschaften, dahin zu wirken, daß die Gewerkschaftsbeiträge um denjenigen Betrag erhöht werden, den die Arbeiter infolge der geminderten Beitragszahlung zur Krankenversicherung ersparen."
Die christlichen Gewerkschaften und die Gewerkvereine hatten eine Einladung der Generalkommission zu einem gemeinsamen Kongreß abgelehnt, da sie gemeinsam mit der Gesellschaft für soziale Reform Stellung zur Reichsversicherungsordnung nehmen wollten.



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