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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
1908

Im ganzen Jahr hält die wirtschaftliche Rezession an. Anfang 1909 schreibt das "Correspondenzblatt" über 1908:
"Ein ernstes Jahr liegt hinter uns, das der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung wenig Gutes gebracht hat. Schwer lastet der Druck der Wirtschaftskrisis, der sich seit Ende 1906, seit ihrem ersten Hervortreten auf dem Arbeitsmarkt, in rapider Weise gesteigert hat, auf der Arbeiterschaft, und die Wirkungen dieses Druckes spiegeln sich in der gesamten Entwickelung der Arbeits- und Arbeiterverhältnisse wider, - in dem Beschäftigungsmangel, in der Arbeitslosigkeit, in dem Stand der Arbeitsbeziehungen, in den Lohnbewegungen und Streiks, in der Stagnation der gewerkschaftlichen Organisation und in der sozialpolitischen Gesetzgebung -, in letzterer allerdings, wie schon früher beobachtet werden konnte, in umgekehrter Weise."
In diesem Jahr stagniert die Mitgliederzahl der meisten Gewerkschaften oder ist sogar rückläufig.
Im Jahrbuch des Zentralverbandes der Maurer - er verliert in diesem Jahr über 15.000 Mitglieder - heißt es dazu: "Die Krisis hat uns wieder einmal gelehrt, daß zu Zeiten guter Konjunktur doch noch allzuviele Kollegen der Organisation angehören, die von dem Wesen der Arbeiterbewegung so gut wie gar nichts in sich aufgenommen haben. Sie zahlen mit knapper Not ihre Beiträge, führen auch wohl hier und da einmal das große Wort, aber sobald sie sich der ständigen Kontrolle wackerer Kollegen enthoben fühlen, dann ade Organisation und Solidarität. Kommt dann noch längere Arbeitslosigkeit hinzu, und die Organisation kann das Elend nicht abwenden, dann verzweifeln viele an dem doch kommenden endlichen Erfolg. Anstatt zu helfen, daß die Organisation, die einzige Schutzwehr gegen die Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, die Krisis gut überstehe, damit sie bei Beginn des neuen Lebens allen Kollegen eine noch viel stärkere Stütze als zuvor sein kann, reißen die Mißmutigen und Unverständigen die Mauern ein, die sie später doch wieder aufbauen müssen, wenn sie sich dem Unternehmertum nicht auf Gnade oder Ungnade ergeben wollen."

Von 60 sozialdemokratischen Gewerkschaften mit 1.831.731 Mitgliedern haben 48 Verbände mit 1.314.243 Mitgliedern (71%) die Arbeitslosenversicherung am Ort und 47 Verbände mit 1.551.092 Mitgliedern (84,6%) die Arbeitslosenversicherung auf Reise eingeführt. Von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen haben 15 mit 101.867 Mitgliedern, von den Christlichen Gewerkschaften 14 mit 192.443 Mitgliedern die Arbeitslosenunterstützung.

Auch in diesem Jahr schließen sich kleinere Gewerkschaften größeren Verbänden an.
So die Krankenkassenbeamtenverbände den Bureauangestellten, die Formstecher und Fotographen dem Lithographenverband, die Wäschearbeiter dem Schneiderverband und der durch die staatlichen Verfolgungen in Ansätzen stehengebliebene "Verband der Eisenbahner" dem Handels- und Transportarbeiterverband, wo er eine einflußreiche "Reichssektion der Eisenbahner" bildet.

In seinem sozialpolitischen Programm stellt der "Verein deutscher Arbeitgeberverbände" fest: "Tarifverträge sind für die Entwicklung der Industrie im allgemeinen verderblich und im speziellen für solche Industrien, die für den Weltmarkt arbeiten, schon darum undurchführbar, weil sie den Export unmöglich machen würden. Wo indessen eine Einigung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern hinsichtlich des Abschlusses von Tarifverträgen erfolgt, muß sie unter allen Umständen den Charakter einer freiwilligen Vereinbarung tragen."

Die im Herbst 1904 eingesetzte gewerkschaftliche Kommission zur Untersuchung des Kost- und Logiswesens veröffentlicht ihre Ergebnisse: Richard Calwer: Das Kost- und Logiswesen im Handwerk. Ergebnisse einer von der Kommission zur Beseitigung des Kost- und Logiszwanges veranstalteten Erhebung.

Die Gewährung von Urlaub hat sich in den Staatsbetrieben Preußens durchgesetzt. Doch dieses Recht ist noch an zahlreiche Bedingungen geknüpft. Das Mindestalter für eine Feriengewährung ist oft auf 35 Jahre festgesetzt, und die Dauer der Ferienzeit steigert sich erst nach 20, z.T. sogar 30 Dienstjahren auf die sinnvolle Länge von 10 bis 12 Tagen im Jahr. Weder ist ein Anspruch auf eine Erholungszeit garantiert, noch wird auf die Klauseln verzichtet, daß ein Urlaub nur gewährt werden kann, wenn dienstliche Gründe nicht entgegenstehen und zufriedenstellende Leistungen sowie eine gute Führung vorliegen. In anderen deutschen Staaten gibt es ähnliche Vereinbarungen.

Die Lithographen und die Transportarbeiter gründen als erste Gewerkschaften eigene Jugendsektionen. Ihrem Beispiel folgen die Metallarbeiter, die Holzarbeiter, die Textilarbeiter, die Bauarbeiter und die Sattler.
Von 1895 bis 1907 hatte sich der Anteil der in Industrie und Handel hauptberuflich beschäftigten Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren von 1,3 Millionen auf 1,76 Millionen erhöht.

Hans Böckler, Bezirksleiter des Deutschen Metallarbeiterverbandes an der Saar, ruft die Metallarbeiter auf: "Ihr müßt uns helfen, das Vorurteil gegen die Freien Gewerkschaften im Saargebiet zu besiegen! Ihr wißt ja, Unternehmer und Behörden bieten alles auf, uns mundtot zu machen. Kein Wirt darf uns bei Strafe schwerer wirtschaftlicher Schädigung ein Lokal zur Verfügung stellen. Unsere Flugschriften müssen wir bei Nacht verbreiten. Unternehmer, Zivil- und Militärbehörden, Bürgermeister, Polizisten und Gendarmen stellen sich unseren Agitationen entgegen. Dreißig Zeitungen schmähen und verleumden uns jeden Tag, ja selbst die Gotteshäuser werden entweiht, selbst dort werden wir von unseren Gegnern beschimpft. In Roden und Freilautern haben die verhetzten Mitglieder christlicher Vereine unsere Versammlungen gesprengt und uns den Saal abgetrieben. Selbst Arbeiter ... kämpfen in ihrem Irrtum gegen uns, zum Schaden der Arbeiter."

Auch in diesem Jahr kommt es wieder zu zahlreichen Aussperrungen, so vor allem der Metallindustriellen in Stettin und in der Krefelder Textilindustrie.

Die Arbeitgeber haben neben den beiden Rückversicherungsgesellschaften der Arbeitgeberzentralen 8 rückversicherte und 3 nicht rückversicherte Gesellschaften, ferner 8 Reichs-, 11 Landes- und 7 Ortsverbände mit Streikversicherung, sowie 4 Reichs-, 1 Landes- und 4 Bezirksverbände, bei denen die Streikversicherung nicht statuarisch geregelt war, sondern nur von Fall zu Fall gewährt wurde. Die beiden Rückversicherungsgesellschaften umfassen einen Bereich von 775.825 beschäftigten Arbeitern. Die Streikvergütungen betragen 5-25 Prozent der Lohnsummen der Streikenden. Die Streikversicherung der Unternehmerverbände dient hauptsächlich dazu, die kleineren Gewerbetreibenden an die Organisation zu fesseln und sie der Disziplin der letzteren zu unterstellen, um Sperren gegen streikende Arbeiter wirksam durchzuführen. Sie trägt zweifellos dazu bei, die Kämpfe hartnäckiger und erbitterter zu gestalten, hat aber die Kampfesfähigkeit der Gewerkschaften nicht einschränken können.

Für rund 30% der tarifgebundenen Arbeiter gilt eine Arbeitszeit von 54 und weniger Stunden. Nur 8,4% aller in diesem Jahr abgeschlossenen Tarifverträge gelten für Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten.
Der Anteil der in Betrieben mit über 50 Beschäftigten tarifgebundenen Personen an der Gesamtzahl der tarifgebundenen Personen beträgt 15,1%.



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