Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Auf dem 5. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands in Köln vertreten 208 Delegierte rund 1,2 Millionen - darunter 70.000 weibliche - Organisierte in 64 Zentralverbänden. Tagesordnung: Die Stellung der Gewerkschaften zum Generalstreik (Th. Bömelburg); die Gewerkschaften und die Maifeier (R. Schmidt); Gewerkschaften und Genossenschaften (A. v. Elm); die gesetzliche Vertretung der Arbeiterschaft in Arbeitskammern oder Arbeiterkammern (P. Umbreit und O. Hue).
Stichtag:
22./27. Mai 1905
Über die Art der Maifeier werden Verhandlungen zwischen dem Vorstand der sozialdemokratischen Partei und der Generalkommission gewünscht. Über die vorliegenden Anträge, unter anderem die Maifeier auf den Abend des 1. Mai zu legen, sind die Meinungen geteilt; es wird nicht abgestimmt. Die Entscheidung wird den Parteitagen und den internationalen Kongressen überlassen.
Im Mittelpunkt der Beratungen steht das Massenstreikproblem, nachdem in Belgien und Schweden durch Massenstreiks das allgemeine Wahlrecht erkämpft worden war.
Th. Bömelburg, der Vorsitzende des Maurerverbandes, lehnt in seinem Referat den politischen Massenstreik als Kampfmittel der Gewerkschaften ab und fordert, selbst die Diskussion in der Gewerkschaftsbewegung zu beenden: "Ungeheuere Opfer hat es gekostet, um den augenblicklichen Stand der Organisation zu erreichen, um aber unsere Organisation auszubauen, brauchen wir in der Arbeiterbewegung Ruhe."
Der Kongreß hält gegen 7 Stimmen alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich. Er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten. Th. Bömelburg erklärt, für die deutschen Gewerkschaften sei es im Augenblick viel wichtiger, die Organisation weiter auszubauen.
Die Aufgaben der Gewerkschaftskartelle, die die gemeinsamen gewerkschaftlichen Interessen ihres Ortes zu vertreten haben, werden festgelegt. Die selbständige Anwendung der gewerkschaftlichen Kampfmittel (Streik, Boykott) wird ihnen entzogen. Für Heimarbeiter wird die Einbeziehung in die Sozialversicherung gefordert.
Der Kongreß lehnt erneut einen gemeinsamen Streikfonds ab, weil ein Streik im allgemeinen nicht Sache der Allgemeinheit, sondern der betreffenden Organisation sei und diese deshalb auch die Mittel durch entsprechende Mitgliedsbeiträge zu beschaffen habe. In außerordentlichen Fällen bei unerwartet großen Streiks oder Aussperrungen wird die Generalkommission ermächtigt, auf Antrag der betroffenen Gewerkschaft unter Zustimmung der anderen Zentralvorstände finanzielle Mittel auch durch Sammlungen zu beschaffen. Die Gewährung solcher Hilfe wird an ein Mitbestimmungsrecht der Generalkommission über die Leitung des Kampfes und alle taktischen Maßnahmen bis zu seiner Beendigung geknüpft, der Generalkommission die Entscheidung über die Verwendung der Gelder übertragen und die Kontrolle darüber der Vorständekonferenz vorbehalten.
Die Gewerkschaften erblicken in der Organisation des Konsums durch Genossenschaften ein Mittel zur Erhöhung der Lebenshaltung und der genossenschaftlichen Erziehung des Volkes und empfehlen, daß die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen die Genossenschaftsbewegung in Deutschland auf das tatkräftigste unterstützen. Die Genossenschaften sollen die gewerkschaftlichen Arbeitsnachweise nutzen und die gewerkschaftlichen Tarife und Forderungen anerkennen. Differenzen sollen eventuell durch Schiedsgerichte beseitigt werden. Zur Debatte steht auch die gesetzliche Vertretung der Arbeiterschaft in Arbeitskammern oder Arbeiterkammern. Die Mehrheit der Delegierten entscheidet sich für das Letztere.
Die Agitation unter den Arbeiterinnen soll von den Gewerkschaften mit mehr Energie und Ausdauer betrieben werden.
Der Bundesrat soll die Alters- und Invalidenunterstützung auf die Heimarbeiter ausdehnen und die Gärtnereiangestellten unter die Gewerbeordnung stellen. Die Generalkommission soll im Sinn der Beschlüsse des Heimarbeiterschutz-Kongresses wirken. Nach Bedarf soll ein weiterer Kongreß einberufen werden.
Der Kampf für die Beseitigung des Kost- und Logiszwanges soll verstärkt fortgesetzt werden.
Die Generalkommission und die Zentralvorstände sollen neue Richtlinien für die Regelung von Grenzstreitigkeiten ausarbeiten.
Die Generalkommission wird beauftragt, der Frage von gewerkschaftlichen Unterrichtskursen näher zu treten.
Als Mitglieder der Generalkommission werden die 1902 gewählten bestätigt. Die Kommission wird um O. Schumann und A. Drunsel erweitert.
Nach diesem Kongreß kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern über das Problem des politischen Massenstreiks und über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften.