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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
3./4. Juni 1900

Auf dem 2. Kongreß der christlichen Gewerkschaften in Frankfurt a. Main vertreten 65 Delegierte Zentral- wie Lokalorganisationen, Gewerkschaftskommissionen und Arbeiterschutz-Vereine.
Der Kongreß diskutiert lebhaft die These einer Broschüre "Christliche Gewerkvereine", daß die Verschiedenheit der Weltanschauung zwischen christlichen und sozialistischen Gewerkschaften für das Zusammengehen in wirtschaftlichen Fragen kein Hindernis zu bieten brauche und daß, sobald die sozialistischen Gewerkschaften sich von ihren politischen Tendenzen frei gemacht hätten, für die christlichen kein Grund mehr vorliege, die Bezeichnung "christlich" beizubehalten vielmehr eine Verschmelzung zu "paritätischen" oder "neutralen" Gewerkschaften stattfinden müsse. Dieser sog. "Gladbacher Richtung" unter Führung des Generalsekretärs des Volksvereins August Pieper steht die Kölner Richtung gegenüber, die verlangt, daß der Kongreß zu den "paritätischen Gewerkschaften" Stellung nehmen solle. Die Mehrheit u.a. auch A. Brust betont nachdrücklich, daß die christlichen Gewerkschaften nur als eine Übergangsstufe angesehen werden dürften und nicht bloß das Zusammenarbeiten mit anderen Organisationen, sondern die völlige Verschmelzung mit ihnen zu rein wirtschaftlichen Interessenvertretungen das Ziel sein müsse.
Auf Vorschlag von J. Giesberts wird beschlossen, die Frage der paritätischen Gewerkschaften an den Ausschuß mit der Maßgabe zu verweisen, in dem zu gründenden Korrespondenzblatte einen Meinungsaustausch darüber herbeizuführen.
Der Kongreß hält "an dem Beschluß des ersten Kongresses bezüglich der Centralisation der christlichen Gewerkschaften fest, wobei den damals bestehenden lokalen Verbänden für einzelne Berufe, sowie auch den Arbeiterschutzvereinen der breiteste Spielraum gelassen wurde. Die Centralisation der christlichen Gewerkschaften hat im letzten Jahr gute Fortschritte gemacht und soll damit in Zukunft fortgefahren werden. Wo in Ländern schon zentrale Organisationen für bestimmte Berufe bestehen, sind diesen die Arbeiter zuzuführen und keine Sonderorganisationen mehr zulässig. Wo solche doch noch nach dem zweiten Kongreß gegründet wurden, sind sie vom Verband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands und deren Kongressen ausgeschlossen."
Zur Taktik erklärt der Kongreß: "Die christlichen Gewerkschaften verwerfen den Streik nicht prinzipiell, sehen aber darin das letzte Mittel zur Durchführung ihrer Aufgaben. Die christlichen Gewerkschaften sehen in dem Lohnkampfe keinen Klassenkampf, vielmehr ein berechtigtes Bestreben der Arbeiterschaft, ihre Arbeitskraft zu einem günstigen Preise zu veräußern und suchen Letzteres möglichst zu erreichen durch friedlichen Ausgleich mit den Arbeitgebern. Da erfahrungsgemäß die durch heftige Lohnkämpfe errungenen Vorteile bald wieder verloren gehen, ist tunlichst auf Abschluß fester Vereinbarungen (Lohntarife) zwischen der Arbeiterorganisation und den einzelnen Arbeitgebern oder deren Organisation zu dringen, ev. Einsetzung von Schiedsgerichten zu veranlassen, bestehend aus Vertretern beider Parteien. Um planlose, unvorbereitete Streiks zu verhüten, ist in den Gewerkschaften ein bestimmtes Streikreglement einzuführen, welches die Unterstützung eines Streiks abhängig macht von der Genehmigung des Vorstandes der Gewerkschaften. Ausstände, welche von prinzipieller Bedeutung sind für die christlichen Gewerkschaften oder sonst einen in allgemeinen Verhältnissen liegenden wichtigen Grund haben, sind nach vorheriger Prüfung und Beschlußfassung der Gewerkschaftskommission von der Gesamtheit der christlichen Gewerkschaften zu unterstützen.
Eine der wichtigsten Aufgaben der christlichen Gewerkschaften ist die Unterstützung der Mitglieder in Notfällen, insbesondere in Krankheits- und Sterbefällen, sowie bei Reise und bei Arbeitslosigkeit. Durch solche auf Gegenseitigkeit beruhende Unterstützung wird das Solidaritätsgefühl und Standesbewußtsein der Arbeiter gehoben und gleichzeitig ein Bindemittel für die Gewerkschaften erzielt, dem häufigen Wechsel der Mitglieder vorzubeugen.
Die Einführung von Arbeitslosenunterstützung ist noch eine Frage der Zukunft, deren Durchführung sich in nächster Zeit in den christlichen Gewerkschaften wohl kaum ermöglichen läßt. Nichtsdestoweniger ist es bei der hohen Bedeutung dieser Frage Pflicht der christlichen Gewerkschaften, das Interesse für dieselbe in der Arbeiterschaft zu wecken und ev. statistische Unterlagen für spätere Durchführung derselben zu beschaffen.
Eine angemessene Verkürzung der Arbeitszeit ist das wichtigste Erfordernis, um den Arbeitern die Teilnahme an dem Aufschwunge der Kultur, die Pflege des Familienlebens und die Erfüllung seiner religiösen Pflichten zu ermöglichen. Aus diesem Grund ist 1. ein gesetzlicher Maximalarbeitstag von 10 Stunden für alle Berufe zu erstreben; 2. innerhalb dieser Grenze, entsprechend der Schwere der einzelnen Berufe, durch besondere Gesetze oder durch die Gewerkschaften eine Verminderung der Arbeitszeit auf 9 oder 8 Stunden zu erstreben; 3. für besonders gesundheitsschädliche Betriebe sind gesetzliche Bestimmungen herbeizuführen über die Dauer der Arbeitszeit und entsprechenden Wechsel der Arbeit."
Während des Kongresses vereinigen sich die beiden bestehenden christlichen Bauarbeitergewerkschaften zum "Gewerkverein christlicher Bauhandwerker und verwandter Berufe".
Da die auf dem ersten Kongreß gewählte Gewerkschaftskommission ihren gestellten Aufgaben nicht mehr gerecht werden konnte, wird eine neue Kommission eingesetzt, aus der fünf Mitglieder für einen Gewerkschaftsausschuß zu wählen sind. Die Verbände sollen bestimmte, der Mitgliederzahl entsprechende Beträge an die Kommission zahlen. Im Organ der Stuttgarter christlichen Gewerkschaften sollen zwanglos "Gewerkschaftliche Mittheilungen" erscheinen.
Leitsätze zu Unterstützungsleistungen, zur Taktik bei Lohnbewegungen werden der Gewerkschaftskommission überwiesen.

Der Verbandstag des Zentralverbandes der Glaser in Stuttgart lehnt einen Anschluß an den Holzarbeiterverband ab.


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