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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
22./28. Oktober 1893

Der SPD-Parteitag in Köln diskutiert intensiv und kontrovers den Tagesordnungspunkt "Die Gewerkschaftsbewegung und ihre Unterstützung durch die Parteigenossen". In seinem Geschäftsbericht betont der Parteivorstand: "Die sozialdemokratische Partei hat sich von jeher und auch sofort, als sie in Deutschland wieder offen auftreten konnte, auf dem Parteitag in Halle, mit aller Entschiedenheit für die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation und für starke Organisationen ausgesprochen. Diesen Standpunkt zu verlassen, dazu dürfte heute weniger als jemals Anlaß vorliegen ..."
Ausdrücklich warnt der Parteivorstand vor einer Überschätzung des ökonomischen Kampfes und fordert, "daß über dem Kämpfen und Streben um bessere Arbeitsbedingungen die letzten Ziele der sozialdemokratischen Bewegung, die Beseitigung der Klassenherrschaft und die Umwandlung der Produktionsmittel aus kapitalistischem in gesellschaftliches Eigentum, nicht vergessen werden" dürfe.
Der Diskussion liegen zwei Resolutionen zugrunde, die beide den Parteigenossen als Pflicht auferlegen, für die Gewerkschaften einzutreten und für ihre Stärkung zu sorgen. Während aber die eine Resolution es als Pflicht eines jeden Parteigenossen ansieht, einer Gewerkschaftsorganisation anzugehören, überläßt die andere diese Verpflichtung dem Ermessen jedes Einzelnen.
Die erste Resolution vertritt C. Legien. In dieser Resolution wird als Aufgabe der Gewerkschaften bezeichnet, "die geschlossenen Reihen zu bilden, welche sich der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nach Kräften entgegenstemmen" und "zu Zeiten des Nachlassens der Krisen" den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen zu führen sowie "die indifferenten Arbeitermassen heranzuziehen, das Solidaritätsgefühl zu wecken und Aufklärung über die allgemeine wirtschaftliche Lage zu verbreiten".
In seinem Referat betont C. Legien den Nutzen der Gewerkschaftsbewegung für die Partei. Niemals sei von den Gewerkschaftsführern behauptet worden, daß die gewerkschaftliche Organisation etwas anderes sei als "ein Palliativmittel ... innerhalb der heutigen bürgerlichen Gesellschaft".
Die Gewerkschaftsbewegung sei "das beste Agitationsmittel" und "Vorschule für die politische Bewegung", indem sie "auch die indifferentsten Arbeiter in die Bewegung hineinzieht" und ihre Mitglieder zu Opferwilligkeit, Disziplin, Solidarität und Kampfesmut erziehe.
"Die politische Organisation stellt an ihre Zugehörigen nicht die Anforderungen wie die gewerkschaftliche. Die erstere findet ihren Hauptausdruck in der Beteiligung an den Wahlen. [...] Im Gegensatz dazu verlangt die gewerkschaftliche stets und steigend materielle Opfer von ihren Mitgliedern, sie fordert, daß er beim Lohnkampf mit seiner ganzen Existenz, mit seiner ganzen Person für die Gesamtheit eintritt." Für C. Legien sind Partei und Gewerkschaften gleichberechtigt Bewegungen, "die nebeneinander hergehen müßten".
Die Gewerkschaften haben sich in der Generalkommission eine Gesamtvertretung geschaffen, in ihr soll sich das gewerkschaftliche Leben konzentrieren; sie ist verpflichtet, alles, was in der Parteibewegung vorgeht und für die Gewerkschaften nachteilig sein könnte, zurückzuweisen und dagegen zu polemisieren".
Auf die Kritik an der Arbeitsnachweiskonferenz antwortet C. Legien: "Wir wollen auch nicht vergessen, daß wir den gebildeten Kreisen, die nicht mit uns sympathisieren, aber die Frage studieren wollen, auch auf diesem Wege Gelegenheit geben wollen, sich zu informieren."
A. Bebel wendet sich dagegen, "die Partei mit aller Gewalt zur Agitationsschule für die Gewerkschaften zu machen".
Aus der Feststellung der Züricher Gewerkschaftsresolution, daß die gewerkschaftliche Organisation allein ohnmächtig sei gegenüber der konzentrierten Macht des Kapitalismus und daher der politische Kampf in den Vordergrund treten müsse, zieht A. Bebel den Schluß: "Wir mögen gewerkschaftlich organisiert sein wie wir wollen, wenn das Kapital einmal allgemein eine solche Macht erobert hat wie bei Krupp und Stumm, in der Dortmunder Union, in den Kohlen- und Eisenindustriebezirken Rheinlands und Westfalens, dann ist es mit der gewerkschaftlichen Bewegung aus, dann hilft nur noch der politische Kampf. Aus ganz natürlichen und selbstverständlichen Ursachen wird den Gewerkschaften ein Lebensfaden nach dem anderen abgeschnitten."
Nach der Auffassung von A. Bebel ist "in Deutschland durch die sozialpolitische, zumal die Versicherungsgesetzgebung, dieser Zweig der gewerkschaftlichen Tätigkeit entzogen und ihr damit ein Lebensnerv durchschnitten worden, der gerade in England und bei den deutschen Buchdruckern zur Blüte beigetragen hat." Weitere wichtige Gebiete sind ihnen durch die Gewerbeordnung entzogen worden... Mit jeder Erweiterung der staatlichen Befugnisse wird das Feld der gewerkschaftlichen Betätigung noch mehr eingeengt.
Der Parteitag lehnt schließlich die von C. Legien vertretene Resolution in namentlicher Abstimmung mit 168 gegen 29 Stimmen ab und nimmt darauf einstimmig die von I. Auer, A. Bebel, W. Liebknecht und anderen vorgelegte Resolution an. Sie bekräftigt die Gewerkschaftsbeschlüsse des Hallenser Parteitages und empfiehlt die "Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation zur Führung der wirtschaftlichen Kämpfe und den Parteigenossen die kräftigste Unterstützung der Gewerkschaftsbewegung durch Anschluß an die bestehenden Organisationen oder Neugründung an Orten, wo solche nicht bestehen". Eine prinzipielle oder taktische Änderung der Stellung der Partei zur Gewerkschaftsbewegung sei nicht notwendig, erklärt der Parteitag und wiederholt "den Ausdruck der Sympathie mit der Gewerkschaftsbewegung". Der Parteitag beschließt mit Mehrheit: "Gemäß den Beschlüssen der Internationalen Arbeiter-Kongresse von Paris (1889) und Zürich (1893) begeht die deutsche Sozialdemokratie den 1. Mai als das Weltfest der Arbeit, gewidmet den Klassenforderungen des Proletariats, der internationalen Verbrüderung, dem Weltfrieden. Zur würdigen Feier des 1. Mai erstreben wir die allgemeine Arbeitsruhe. Da aber deren Durchführung bei der gegenwärtigen Wirthschaftlage in Deutschland zur Zeit nicht möglich ist, empfiehlt der Parteitag, daß nur diejenigen Arbeiter und Arbeiter-Organisationen, die ohne Schädigung der Arbeiter-Interessen dazu im Stande sind, neben den anderen Kundgebungen den 1. Mai auch durch die Arbeitsruhe feiern."
Die Partei- und Gewerkschaftsmitglieder sollen ihre Parteipflicht nicht durch die Zugehörigkeit zu Landsmannschaften oder Mitgliedschaften in sogenannten Vergnügungsvereinen, Klubs usw. vernachlässigen.
Ein Antrag, die Einstellung von weiblichen Fabrikinspektoren gesetzlich zu verankern, wird an die Reichstagsfraktion überwiesen.



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