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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
7. Februar 1891

Angesichts der schlechten finanziellen Situation veröffentlicht die Generalkommission einen Aufruf "An die Mitglieder der Gewerkschaften":
"Während des Sozialistengesetzes erklärten sämtliche Vertreter der Gewerkschaften, daß diese im Wesentlichen als Vorschule der politischen Bewegung und als Stützpunkt für dieselbe zu gelten haben. Auch heute steht außer allem Zweifel, daß gerade die Gewerkschaften mit ihren Lohnkämpfen es sind, welche den indifferenten Arbeiter zum Klassenbewußtsein und somit zur politischen Erkenntnis und Thätigkeit bringen.
Nach Ablauf des Sozialistengesetzes aber dürfte es angebracht erscheinen, darauf aufmerksam zu machen, daß zwischen der Aufgabe der politischen Bewegung und derjenigen der Gewerkschaften bei der heute bestehenden Vereinsgesetzgebung ein wesentlicher Unterschied besteht. Sicher ist, daß wir, wenn ein volles Vereinigungsrecht in Deutschland vorhanden wäre, entschieden dafür sorgen würden, daß in den gewerkschaftlichen Organisationen gleichzeitig die politischen Fragen zur Erörterung kommen. Der Unterschied zwischen der politischen Thätigkeit, wie die Arbeiterpartei sie entwickelt, und der Aufgabe der Gewerkschaften liegt darin, daß die erstere eine Umgestaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsorganisation anstrebt, während die letztere in ihren Bestrebungen, weil die Gesetze uns hierin Grenzen ziehen, auf dem Boden der heutigen bürgerlichen Gesellschaft steht.
Während also die erstere darauf hinausgeht, abgesehen von den Vortheilen, welche den Arbeitern durch die Arbeiterschutzgesetzgebung, welche die Partei anstrebt, geboten werden, in späterer Zeit durch die Umgestaltung der Produktionsweise allen Mitgliedern der Gesellschaft ein sorgenfreies Dasein zu verschaffen, suchen die letzteren (Gewerkschaften) auf dem Boden des heutigen Klassenstaates die Lage der Arbeiter zu verbessern. Nun liegt einem klar vor Augen, daß die besitzende Klasse, und im besonderen Falle das kapitalträchtige Unternehmerthum, noch eine nicht zu unterschätzende Macht bildet und liegt andererseits mit dieser Erkenntnis die Verpflichtung vor, daß wir, wenn wir überhaupt Vortheile haben wollen, die Macht unserer Organisationen so stärken, daß sie dem Unternehmerthum gewachsen sind. Dies dürfte, wenn wir bedenken, daß die große Zahl der organisirten Arbeiter ohne Rücksicht auf das Gewerbe stets solidarisch zusammensteht, während in allen Kämpfen es sich nur um die Unternehmer eines bestimmten Gewerbes handelt, sicher nicht schwer sein.
Die wirthschaftlichen Kämpfe gestalten sich immer mehr zu einer Machtfrage. Die Macht des Unternehmerthums wächst mit der Vergrößerung des Kapitals und tritt besonders während der wirthschaftlichen Krisen zu Tage. Die Macht des Arbeiters liegt in der Organisation. Diese muß er so gestalten, daß sie eine möglichst große Zahl der Berufsgenossen umfaßt, und dann muß versucht werden, die einzelnen Berufsorganisationen zu einem festen Ganzen zu verbinden. Schon die gewaltige Zahl der zu einer Organisation verschmolzenen Arbeiter wird dem Unternehmerthum Respekt einflößen; dann aber bedeutet die Zahl der Mitglieder auch die finanzielle Leistungsfähigkeit, weil jeder einzelne seinen Beitrag in eine Kasse zahlt. Demnach liegt unsere Macht in der Größe unserer Organisation.
Wir dürfen uns aber durchaus nicht verhehlen, daß wir von einer solchen die Macht besitzenden Organisation noch entfernt sind, entfernter aber sind wir noch von der wahren Bethätigung des Solidaritätsgefühls und der Opferfreudigkeit, wie sie unseren noch so mächtigen Gegnern gegenüber absolut erforderlich ist.
Es genügt nicht, pomphafte Aufrufe zu erlassen und an die Solidarität der Genossen zu appelliren, sondern wir müssen uns daran gewöhnen, regelmäßig mehr zu leisten. Deswegen möchten wir allen Gewerkschaften empfehlen, höhere Beiträge zu erheben.
Dasselbe muß auch bei der Unterstützung der Streiks eingeführt werden. Jeder verloren gegangene Kampf verschlechtert die Arbeitsverhältnisse und stärkt die Macht des Unternehmerthums nicht nur in dem in Frage kommenden Gewerbe, sondern im Großen und Ganzen. Deswegen muß darnach hingestrebt werden, daß die Beitragsleistungen in den einzelenen Gewerkschaften höhere werden, sowie die Leistungen an Ertragsteuern bei Streiks nicht so minimal wie bisher bleiben."



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