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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
14./20. Juli 1889

An dem von der deutschen Sozialdemokratie unterstützten internationalen Arbeiterkongreß am 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille in Paris nehmen rund 400 Delegierte, darunter 82 Deutsche, teil, darunter sind etwa 30 Gewerkschaftsfunktionäre. Zu diesen gehören 10 Verbandsvorsitzende, u.a. C. Legien, "Vertrauensmänner" bzw. Leiter von Kontrollkommissionen.
In den Debatten spielt die deutsche Fachvereins- bzw. Gewerkschaftsbewegung eine große Rolle. In seinem längeren Bericht über die deutsche Arbeiterbewegung betont A. Bebel, daß der anfänglich in Parteikreisen vorhandene Irrtum, die gewerkschaftliche Bewegung sei für die Entwicklung des Sozialismus ein Hindernis, überwunden sei. Nur durch das Eintreten für praktische Maßregeln zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen könne bei der Masse der Arbeiter das Klassenbewußtsein geweckt werden. Zu den mündlich vorgetragenen "Spezialberichten" gehören auch zwei von deutschen Gewerkschaftsführern: Der Delegierte der westfälischen Bergarbeiter, Dieckmann, berichtet über den Bergarbeiterstreik und der Vertreter der deutschen Glasarbeiter, Horn, über die Lage der deutschen Glasarbeiter. Und in der Debatte über den "achtstündigen Normalarbeitstag" setzt sich K. Kloß als "Delegierter der deutschen Tischler" sehr vehement für die Forderung nach gesetzlichen Arbeiterschutzbestimmungen ein. Gerade in Deutschland, wo die Arbeiterklasse in ihrer politischen Wirksamkeit sehr behindert werde, könne das Eintreten für Arbeiterschutzgesetze wie auch für die Bildung von Fachvereinen sehr erzieherisch wirken und das "Klassenbewußtsein wachrufen".
Emma Ihrer bringt in ihrer Rede zum Ausdruck, "daß die Organisation der Arbeiterinnen eine unumgängliche Vorbedingung zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen ist". Sie weist darauf hin, daß allein die Organisation den Arbeiterinnen die Möglichkeit gibt, das Ziel gleicher Lohn für gleiche Arbeit zu erreichen. Leider seien noch viel zu wenig Frauen organisiert. "Es ist also Pflicht aller Socialisten, den Frauen bei dem Werk ihrer Organisation zu helfen. Der Einwurf, daß die Frauen noch zu saumselig sind, um die Wichtigkeit eines Zusammengehens zu begreifen, ist nicht stichhaltig. Auch die Arbeiter waren nicht überall auf der Höhe der Entwicklung, die sie heute bekunden; auch für sie hat es vieler Anstrengungen bedurft, damit sie zur politischen Reife und zur Organisation gelangten. Die Arbeiterinnen allerwärts zeigen die besten Anlagen, um in dem Lauf der Arbeiterbewegung einzutreten, aber es muß der Boden besät werden." Vom Kongreß erhofft sie sich, "daß dieser... das Resultat haben wird, an der Organisation der Proletarier-Frauen mitzuwirken und in allen größeren Städten gewerbliche Gruppen von Arbeiterinnen entstehen zu lassen".
Für Clara Zetkin ist bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung Frauenarbeit notwendig. Die Unterdrückung der Frau könne nur durch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit beseitigt werden. Unerläßliche Bedingung dafür aber ist die Arbeit.
Auf Antrag des Franzosen R. F. Lavigne nimmt der Kongreß eine Resolution an: "Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem Tag die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen. In Anbetracht der Tatsache, daß eine solche Kundgebung bereits von der amerikanischen Federation of Labor auf seinem im Dezember 1888 zu St. Louis abgehaltenen Kongreß für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen. Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, ins Werk zu setzen."
Der Kongreß stimmt einer umfangreichen Resolution zum Arbeiterschutz zu, in der es u.a. heißt, "daß die Emanzipation der Arbeit und der Menschheit nur ausgehen kann von dem als Klasse und international organisierten Proletariat, welches sich die politische Macht erringt, um die Expropriation des Kapitalismus und die gesellschaftliche Besitzergreifung der Produktionsmittel ins Werk zu setzen". Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und die damit verbundene immer intensivere Ausbeutung verursache "die politische Unterdrückung, ökonomische Unterjochung und physische wie moralische Degeneration der Arbeiterklasse". Die Resolution unterstreicht die Pflicht der Arbeiter aller Länder, "mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln eine soziale Organisation zu bekämpfen, welche sie erdrückt und überhaupt jede freie Entwicklung der Menschheit bedroht", und "den zerstörenden Wirkungen der gegenwärtigen ökonomischen Ordnung tätigen Widerstand entgegenzusetzen".
Die Arbeiter müssen sich überall organisieren und für das "uneingeschränkte, vollkommen freie Vereins- und Koalitionsrecht eintreten".
Der Kongreß faßt in zwölf Punkten die wichtigsten Forderungen des Proletariats für einen wirksamen Arbeiterschutz zusammen:
"a) Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Arbeitstages für jugendliche Arbeiter,
b) Verbot der Arbeit der Kinder unter 14 Jahren und Herabsetzung des Arbeitstages auf 6 Stunden für beide Geschlechter,
c) Verbot der Nachtarbeit, außer für bestimmte Industriezweige, deren Natur einen ununterbrochenen Betrieb erfordert,
d) Verbot der Frauenarbeit in allen Industriezweigen, deren Betriebsweise besonders schädlich auf den Organismus der Frauen einwirkt,
e) Verbot der Nachtarbeit für Frauen und jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren,
f) ununterbrochene Ruhepause von wenigstens 36 Stunden die Woche für alle Arbeiter,
g) Verbot derjenigen Industriezweige und Betriebsweisen, deren Gesundheitsschädlichkeit für die Arbeiter vorauszusehen ist,
h) Verbot des Trucksystems,
i) Verbot der Lohnzahlung in Lebensmitteln sowie der Unternehmer-Kramladen (Kantinen usw.),
k) Verbot der Zwischenunternehmer (Schwitzsystem),
l) Verbot der privaten Arbeits-Nachweis-Büros,
m) Überwachung aller Werkstätten und industriellen Etablissements mit Einschluß der Hausindustrie durch vom Staat besoldete und mindestens zur Hälfte von den Arbeitern gewählte Fabrikinspektoren."
Außerdem erklärt der Kongreß: "Es ist Pflicht aller Arbeiter, die Arbeiterinnen als gleichberechtigte Mitkämpferinnen anzusehen und dem Grundsatz, gleicher Lohn für gleiche Leistungen - auch in bezug auf die Arbeiterinnen - zur Geltung zu verhelfen."
Die Delegierten erklären den Frieden als die erste und unerläßliche Bedingung jeder Arbeiterbewegung.
Die Abstimmung auf den internationalen Kongressen erfolgt nach Ländern.
Mit dem Kongreß beginnt die Geschichte der II. Internationale.



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