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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
22. Mai 1883

Der Reichstag nimmt gegen die Stimmen der Sozialdemokratie und der Linksliberalen den Gesetzentwurf über die Krankenversicherung der Arbeiter an. Das Gesetz tritt am 15. Juni 1883 in Kraft.
Alle Arbeiter, Handlungsgehilfen und "Betriebsbeamte" ab dem 16. Lebensjahr mit Ausnahme der in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten - diese werden erst 1911 in die Versicherung einbezogen - unterliegen nun der Versicherungspflicht für den Krankheitsfall, wenn ihr Lohn, bzw. ihr Gehalt eine bestimmte Summe nicht übersteigt. Das Gesetz läßt aber dafür Gemeinde-, Fabrik-, Bau-, Innungs- und Knappschaftskassen sowie eingeschriebene oder auf der Grundlage landesrechtlicher Vorschriften gebildete Hilfskassen zu. Die Beiträge werden zu zwei Drittel von den Arbeitern, zu einem Drittel von den Unternehmern erhoben. In Gemeinden, in denen mindestens 100 Personen wohnen und arbeiten, müssen Ortskrankenkassen eingerichtet werden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wählen unabhängig von einander die Mitglieder des Kassenvorstandes und der Generalversammlung, die sich zu zwei Dritteln aus Arbeitnehmern und zu einem Drittel aus Arbeitgebern zusammensetzen. Auch jeder Unternehmer muß, wenn er mehr als 50 versicherungspflichtige Personen in seinem Betrieb beschäftigt, eine Betriebskrankenkasse errichten, falls er nicht 5% des Lohnes seiner versicherungspflichtigen Arbeiter an die Ortskrankenkasse zahlt. Die Versicherung gewährt freie ärztliche Behandlung, bei schwerer Krankheit den Krankenhausaufenthalt und den Angehörigen Beihilfe, freie Arznei und Hilfsmittel. Bei Arbeitsunfähigkeit wird vom 3. Tag nach Beginn der Krankheit ein Krankengeld gewährt, das sich allerdings nicht, wie heute selbstverständlich, am Einkommen des Kranken orientiert, sondern "in Höhe der Hälfte des ortsüblichen Taglohns gewöhnlicher Tagearbeiter" liegt. Die Krankenunterstützung wird höchstens bis zu 26 Wochen - nach Einführung des Unfallgesetzes - bis zur 14. Woche gezahlt. Zusätzlich haben die Zwangskassen folgende Leistungen zu erbringen: - ein Sterbegeld in Höhe des 20fachen Lohnes, nach dem die Beiträge bemessen werden, - Wöchnerinnenunterstützung bis zu mindestens drei Wochen nach der Geburt eines Kindes. Darüber hinaus wird den einzelnen Kassen freigestellt, beispielsweise über eine Zusatzversicherung auch noch weitergehende Leistungen zu übernehmen, etwa die ärztlichen Behandlungskosten für erkrankte Familienmitglieder. Gemeinden und Kommunalverbände können die Versicherungspflicht auf andere Personengruppen beschließen. Alle zugelassenen Krankenkassen werden staatlicher Aufsicht unterstellt.
Die Sozialdemokratie hat - ohne Erfolg - die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle Arbeiter einschließlich der im Reich beschäftigten ausländischen Arbeiter ab dem 15. Lebensjahr, Krankenunterstützung ohne Karenzzeit für die gesamte Dauer der Erwerbsunfähigkeit in Höhe des ortsüblichen Tagelohnes und die Auflösung der Fabrikkrankenkassen gefordert.
In zahlreichen sozialdemokratischen Versammlungen werden nun die Arbeiter aufgefordert, den freien, selbstverwalteten Hilfskassen beizutreten. Diese Bewegung für die Hilfskassen hat den gewerkschaftlichen Organisationsprozeß eine Zeitlang beachtlich gefördert.
Ende 1885 bestehen 18.942 Krankenkassen mit rund 4.295.000 Mitgliedern. Von diesen sind 13,7% in Gemeindekassen, 35,7% in Ortskrankenkassen, 29,4% in Betriebskrankenkassen und 17% in Hilfskassen versichert. Ende 1889 betragen die Anteile 16,5%, 40,4%, 26,4% und 13,1%. Von den Krankenkassen erstrecken sich nur etwa 100 über ganz Deutschland. Ein Drittel von ihnen sind gewerkschaftliche Hilfskassen.
Auf die gesetzliche Regelung der Krankenversicherung in den 80er Jahren reagiert man in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zunächst mit mißtrauischer Reserviertheit, da diese Politik in den Augen der Partei- und Gewerkschaftsführer nichts anderes als der Versuch des Obrigkeitsstaates ist, die Arbeiter durch sozialpolitische Gesetze für sich zu gewinnen. Doch auf die Dauer können diese Maßnahmen von der Arbeiterbewegung nicht ignoriert werden, zumal die gewerkschaftlichen Kranken- und Sterbekassen mit den Orts- und Betriebskrankenkassen, welche die eigentlichen institutionellen Träger der staatlichen Krankenversicherung sind, bald nicht mehr konkurrieren können. Vom Zwangsbeitritt zu einer Orts- und Betriebskrankenkasse werden nämlich nur diejenigen Arbeiter befreit, die einer eingeschriebenen Hilfskasse angehören, deren Versicherungsleistungen ebenso hoch sind, wie die der beiden anderen Kassenformen, was zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung der Arbeiter führt. Außerdem müssen diese Hilfskassen auch noch auf den Finanzierungsanteil der Arbeitgeber verzichten. Die Anpassung ihrer Kassen an die veränderten Gegebenheiten vollziehen die Verbände, die eine eigene Krankenunterstützung haben, erst dann, als sie erkennen, welche Machtpositionen der organisierten Arbeiterschaft in den Selbstverwaltungsorganen der Ortskrankenkassen offenstehen. Die allmähliche Abkehr vom Versicherungsmodell der eingeschriebenen Hilfskassen erfolgt aber auch unter dem Druck der Behörden, die, vor allem in Preußen, dazu übergehen, die Gewerkschaften rechtlich als Versicherungsanstalten zu behandeln und ihre Unterstützungseinrichtungen einer strengen Staatsaufsicht zu unterwerfen.
Mit der Stabilisierung der lokalen und regionalen Gewerkschaftszusammenschlüsse verlagern sich deren Aktivitäten auch wieder stärker auf offensive Aufgaben, und die Bedeutung der sozialen Selbsthilfeeinrichtungen, die Ausgangspunkt des gewerkschaftlichen Wiederaufbau waren, tritt in den Hintergrund.



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