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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
1878

In einer veränderten und erweiterten Fassung der Musterstatuten der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine wird "die internationale Verbindung aller Gewerkvereine" aufgenommen.

In den "Christlich-sozialen Blättern" fordert Rudolf Meyer seine christlich-konservativ gesinnten Parteifreunde auf, die Bildung von Gewerkvereinen in Angriff zu nehmen, solange nicht die Regierung nach christlichen Grundsätzen ordnend in das Leben der Arbeiterwelt eingreift, d.h., "solange der Staat nicht wieder ein christlicher Staat geworden ist".
R. Meyer erhofft von diesem selbständigen Schritt, da er ohne parlamentarische Hilfe getan wird, keine restlose Klärung der Arbeiterfrage.
Von den Mitgliedern der Gewerkvereine wird das Bekenntnis zu einer christlichen Konfession gefordert. "Schleuderarbeiter" dürfen nicht aufgenommen werden; gute durchschnittliche Arbeitsfähigkeit ist unerläßliche Bedingung. Die einzelnen Gewerke sollen eine Stellenvermittlung anbahnen, das Wanderwesen fördern, Krankenkassen einrichten. Im Verein darf keine Politik getrieben werden; damit ist durchaus zu vereinbaren, daß jedes Mitglied seine staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen hat. Den Streik will auch R. Meyer nicht grundsätzlich ausschließen.
"Solange das liberale Ökonomiesystem herrscht, ist er die einzige Waffe der Arbeiter, und es ist deshalb notwendig, daß diese Waffe auch der christlich-konservativen Gewerkvereine recht scharf geschliffen sei."
Die Gewerkvereine sollen aber keinen von Hause aus feindlichen Stand zum Arbeitgeber einnehmen. Sei dieser zu Verhandlungen bereit und unterbreite er annehmbare Vorschläge, so werde man in jedem Fall die friedliche Vereinbarung dem Streik vorziehen. R. Meyer schließt seinen Aufsatz mit den Worten: "Es ist ein Unglück, daß heute nur die unchristlichen und revolutionären Arbeiter Deutschlands organisiert sind, die loyalen und christlichen Arbeiter nicht. Tun wir dies in christlich-konservativen Gewerkvereinen!"

Der Präsident des 1876 gegründeten Reichsgesundheitsamtes legt dem Reichstag für die Haushaltsberatungen eine Denkschrift vor, die von dem Grundsatz ausgeht, daß es nicht mehr genüge, Krankheiten von Fall zu Fall heilen zu wollen, sondern daß "die mit der fortschreitenden Umgestaltung der sozialen Zustände der Menschen enge verbundene Verschlechterung der allgemeinen Gesundheitsverhältnisse dringend dazu auffordere, die Entstehungs- und Verbreitungsursachen der vermeidbaren Krankheiten möglichst genau zu erforschen und in möglichst wirksamer Weise zu bekämpfen". Die Ergebnisse der Forschungsarbeit müssen in die Praxis umgesetzt werden. Dazu müsse das Reichsgesundheitsamt eine zentrale Institution des Reiches werden, die die beschlossenen Maßnahmen einleiten, die Durchführung beaufsichtigen und damit Aufsichtsbehörde für sämtliche Einrichtungen des Gesundheitswesens werden müsse. Für die Reichsregierung solle das Reichsgesundheitsamt beratendes Organ bei der Abfassung von Gesetzen und Verordnungen werden. Grundvoraussetzung sei eine umfassende Medizinalstatistik. Auch die Rekrutierungsstatistiken sollten reformiert werden, um genaue Erkenntnisse des Gesundheitsstandes der Bevölkerung zu erhalten.
Zu diesem Programm veröffentlicht A. Bebel eine ausführliche Kritik, "Das Reichs-Gesundheitsamt und sein Programm vom socialistischen Standpunkt aus beleuchtet". A. Bebel stimmt dem Programm zu, bezweifelt aber, ob es jemals durchgeführt werde. Denn das Programm sei in seinen Auswirkungen revolutionär. Dies gelte vor allem für die Medizinalstatistik. So würden durch die Untersuchungen über die Ausbreitung der Volks- und Wanderseuchen, besonders der Cholera, "weittragende sociale Fragen angeregt, die eine förmliche Revolution in der Wohn-, Nähr-, Arbeits- und sonstigen Lebensweise der Menschen bedingen".
Indes hatte sich die Erkenntnis der Bedeutung sozialhygienischer Maßnahmen besonders in der Seuchenbekämpfung so weit durchgesetzt, daß das Programm im Reichstag angenommen wird. Bebels Vorschlag, daß das Reichsgesundheitsamt nicht nur beratendes Organ der Gesetzgebung sein dürfe, sondern sich zu einem umfassend organisierten Ministerium mit Verwaltungs- und Leitungsfunktionen entwickeln müsse, wird allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg in Ansätzen verwirklicht.



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