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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
1871

Die Zeitschrift "Arbeiterfreund" - Organ des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen - schreibt: "Streiks können nur verhindert werden, wenn es dem Arbeitgeber durch ein Übereinkommen gelinge, sich die Leistungen der Arbeiter im Voraus für einen längeren Zeitraum zu sichern, welches wiederum nur durch feste und bindende Verabredungen über den Lohn für einen längeren Zeitraum möglich ist."
Parallel zu diesem Tarifvertragsgedanken im sozialreformerischen Lager werden auch Schiedsgerichte als Konfliktregelungsinstitutionen befürwortet, um damit den "Frieden zwischen Kapital und Arbeit" zu festigen.
Mit diesen Ideen findet der Centralverein bei den Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereinen große Sympathie, nicht zuletzt deshalb weil F. Duncker seit der Gründung Mitglied des Centralvereins ist. Trotz dieser gewerkschaftsfreundlichen Ansätze entwickelt sich der Centralverein in der folgenden Zeit zu einer "Arbeitgeber-Koalition" mit sozialer Zielsetzung.

Nach der Reichsgründung erlebt Deutschland einen großen Wirtschaftsaufschwung (Gründerjahre). Allein 1871 und 1872 werden in Preußen etwa 780 Aktiengesellschaften gegründet, gegenüber 300 in der Zeit von 1790 bis 1870. Als ein wesentlicher Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung erweist sich - neben den hohen französischen Kriegsentschädigungen - die Annexion von Elsaß-Lothringen. Die lothringischen Eisenerzvorkommen bilden eine bedeutende Grundlage für die deutsche Stahlindustrie, die nach 1900 entdeckten elsässischen Kalilager begründen mit den mitteldeutschen Vorkommen Deutschlands Kalimonopol auf dem Weltmarkt.
Die weitere wirtschaftliche Entwicklung ist vor allem durch wachsende Konzernbildung, Kartelle und Syndikate gekennzeichnet.
Der Ausbau der chemischen Industrie beginnt. Die Bedeutung des Bankwesens wächst durch den erhöhten Kreditbedarf.
Die fortschreitende Industrialisierung erfordert Massen von Arbeitskräften, die vom Land in die Städte, aus den östlichen Provinzen Preußens vor allem nach Westdeutschland wandern, wo sie hoffen, u.a. im Bergbau, in der Schwerindustrie oder im Baugewerbe ihre Lebenssituation zu verbessern. Bis 1880 wandern rund dreiviertel Millionen Menschen aus West- und Ostpreußen ab, von 1881 bis 1898 sind es noch einmal eine Million. Das neugegründete Reich hat 41 Millionen Einwohner, von denen 65% auf dem Lande bzw. in Gemeinden mit weniger als 20.000 Einwohnern leben. 60% der Bevölkerung leben in Preußen. 6,6% sind Angehörige fremdsprachiger nationaler Minderheiten (u.a. 2,4 Millionen Polen).
1871 wohnen schon 17,5 Prozent aller Deutschen in Orten mit mehr als 10.000 Einwohnern. 1830 waren es erst 7,7 Prozent. Der Anteil der großstädtischen Bevölkerung - Städte mit über 100.000 Einwohnern - beträgt 5 Prozent.
Der Aufschwung der Industrie und der innerdeutsche Konkurrenzkampf verschärft die "sozialen Übel" in den Betrieben, vor allem die skrupellose Ausnutzung der Arbeitskräfte und dem "Herr-im-eigenen-Haus-Standpunkt" bei sehr vielen deutschen Industriellen, vornehmlich in der Schwerindustrie. Einige Unternehmer praktizieren aber auch - ohne auf ihren patriarchalischen Standpunkt zu verzichten - eine betriebliche Sozialpolitik durch die Schaffung von Lohn-, Pensions- und Krankenkassen und durch den Bau von Werkswohnungen.
Dank des Wirtschaftsaufschwunges können sich die Gewerkschaften wieder etwas stabilisieren. Durch zahlreiche Streiks erkämpfen sie ihren Mitgliedern einen Anteil am Wirtschaftswachstum. Zwischen 1871 und 1873 werden 622 Streiks bekannt, davon 1871 186, 1872 214 und 1873 222. Diese Streiks haben häufig zur Gründung neuer Gewerkschaften beigetragen. In zunehmenden Maße bemühen sich die Gewerkschaftsvorstände die Zahl unkontrollierter Streiks einzudämmen, da die finanzielle Unterstützung der Streikenden wegen geringer Eigenmittel häufig nicht erfolgen kann. Spenden und Solidaritätsveranstaltungen helfen allerdings zunächst, teilweise die erforderlichen Gelder zur Verfügung der Streikenden zu stellen.



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