Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Der Norddeutsche Reichstag nimmt gegen die Stimmen der Sozialdemokraten eine neue Gewerbeordnung an, mit der noch bestehende Koalitionsverbote aufgehoben werden, gleichzeitig aber auch Strafen bei "mißbräuchlicher Anwendung" diese Rechtes angedroht werden.
Stichtag:
29. Mai 1869
Die entscheidenden Paragraphen lauten:
§ 152: "Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter werden aufgehoben.
Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt."
§ 153: "Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen oder Ehrverletzung oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetz nicht eine härtere Strafe eintritt."
Die Bestimmungen dieser neuen Ordnung beziehen sich nicht auf Seeleute, Hausangestellte und Staatsangestellte.
Erst im Jahre 1918 wird der § 153 aufgehoben. Beinahe fünfzig Jahre lang hat er wie ein Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter gewirkt und zahllose Opfer gefordert. Das Koalitionsrecht wird außerdem durch die bestehenden Vereinsgesetze wesentlich eingeschränkt.
Die Gewerbeordnung legt weiter u.a. fest:
§ 105: "Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden und ihren Gesellen, Gehülfen und Lehrlingen ist Gegenstand freier Übereinkunft."
Zum Arbeiten an Sonn- und Festtagen ist, vorbehaltlich der anderweitigen Vereinbarungen in Dringlichkeitsfällen, niemand verpflichtet. Das Truckverbot wird bestätigt.
Die Privilegien der Innungen werden radikal beschnitten. Ihre Zuständigkeiten für das handwerkliche Lehrlings- und Prüfungswesen entfallen.
§ 107: "Jeder Gewerbe-Unternehmer ist verbunden, auf seine Kosten alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind."
§ 108: "Streitigkeiten der selbständigen Gewerbetreibenden mit ihren Gesellen, Gehülfen oder Lehrlingen, die sich auf den Antritt, die Fortsetzung oder Aufhebung des Arbeits- oder Lehrverhältnisses, auf die gegenseitigen Leistungen während der Dauer desselben oder auf die Ertheilung oder den Inhalt der erwähnten Zeugnisse - die Unternehmer müssen nun Arbeitszeugnisse ausstellen - beziehen, sind, soweit für diese Angelegenheiten besondere Behörden bestehen, bei diesen zur Entscheidung zu bringen.
Insoweit solche besondere Behörden nicht bestehen, erfolgt die Entscheidung durch die Gemeindebehörde.
Die beiderseitige Kündigungsfrist beträgt 14 Tage.
Kinder unter zwölf Jahren ist Fabrikarbeit verboten. Kinder ab dem vierzehnten Lebensjahre dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie täglich mindestens dreistündigen Schulunterricht erhalten. Ihre Beschäftigung darf sechs Stunden täglich nicht übersteigen. Junge Leute über 14 Jahre dürfen vor vollendetem sechzehnten Lebensjahre in Fabriken nicht über zehn Stunden täglich beschäftigt werden."
§ 129: "Zwischen den Arbeitsstunden muß den jugendlichen Arbeitern Vor- und Nachmittags eine Pause von einer halben Stunde und Mittags eine ganze Freistunde, und zwar jedesmal auch Bewegung in der freien Luft gewährt werden.
Die Arbeitsstunden dürfen nicht vor 5 1/2 Uhr Morgens beginnen und nicht über 8 1/2 Uhr Abends dauern."
Die Gewerbeordnung kennt keine Zwangskassen mehr. Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter sind nicht mehr verpflichtet einer bestimmten Kasse beizutreten, wenn sie nachweisen, daß sie anderen Kranken-, Hilfs- oder Sterbekassen angehören.
Die Unternehmer brauchen keiner Kranken- oder Hilfskasse mehr beizutreten. Bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes bleiben die Landesgesetze über Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter in Kraft.