Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
In Leipzig halten zahlreiche Delegierte der "Arbeiterverbrüderung" eine Generalversammlung deutscher Arbeiter ab. Sie wählt ein neues Zentralkomitee ohne festen Sitz - es soll abwechselnd in Bremen und Hamburg tagen - zu wählen.
Stichtag:
20./26. Februar 1850
Die Delegierten beschließen ein Musterstatut. Danach hat die "Arbeiter-Verbrüderung den Zweck, unter den Arbeitern aller Berufsarten eine starke Vereinigung zu begründen, welche auf Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit gestützt, die Rechte und den Willen der Einzelnen zu einer Gesamtheit verbindet, die Arbeit mit dem Genuß (Nutznießung des Ertrags) vermitteln soll".
Mitglieder der deutschen Arbeiter-Verbrüderung sind die Mitglieder derjenigen Gewerke und Arbeitergemeinschaften jeder Berufsart, welche durch schriftlich bevollmächtigte Deputierte an das Lokal- oder Bezirkskomitee und durch Anerkennung dieser Statuten ihren Beitritt erklärt haben.
Gegenüber den Berliner Beschlüssen 1848 fehlt jede Bezugnahme auf den Staat und seine Einrichtungen. Die Arbeiter stützen sich nun auf sich selbst.
Das Statut regelt im ersten Teil den Aufbau des Verbandes:
Die Lokalvereine haben u.a. folgende Aufgaben: "die Bedürfnisse und Übelstände der Arbeiter ihrer Berufsart, wie auch im Allgemeinen, zu erforschen, auf Abhülfe derselben zu wirken; ihre Gewerks-, Arbeits- und Wirthschaftsverhältnisse zu berathen und zu ordnen; durch Arbeitsvermittlung, wie durch Errichtung und Selbstverwaltung freiwilliger Kranken-, Sterbe-, Invaliden-, Dispositions-Kassen u.s.w. die Grundsätze der Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit unter den Arbeitern zu fördern; durch Lehrvorträge, Bibliotheken, Musterwerkstätten und ähnliche Institute Kenntniß und Bildung unter den Arbeitern zu verbreiten und so den Zweck der Verbrüderung zu verwirklichen".
Weitere Organisationsebenen sind die Bezirkskomitees, das Zentralkomitee und die Generalversammlung.
Der § 35 betont: In dem Bezirkskomitee ist auch das Interesse der Arbeiterinnen durch eine Abteilung vertreten.
Zwei genossenschaftliche Formen sollen der Besserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter und zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse dienen: Ankaufsgesellschaften - sie sollen das erforderliche Kapital für die geplanten Konsum- und Produktionsgenossenschaften erbringen. Diese Produktionsgenossenschaften sollen u.a. auch die Arbeitsordnung beeinflussen, vor allem aber dazu dienen, "die Arbeits- und Lohnverhältnisse nach den Grundsätzen der Verbrüderung zu verbessern und zu ordnen".
Der zweite Teil enthält Statuten der Wander-, Unterstützungs- und Arbeitsnachweisvereine. "Die Wanderunterstützungs- und Arbeitsnachweisvereine haben den Zweck, einesteils ihre Mitglieder auf der Wanderschaft soweit möglich gegen Not zu schützen, und so dem demoralisierenden Bettelwesen entgegenzuwirken, anderenteils aber durch unentgeltliche Arbeitsnachweise das Reisen selbst nützlich und leichter zu machen."
Die Wanderunterstützung entwickelt sich zur wichtigsten Einrichtung der Arbeiterverbrüderung. Bis Ende Juni 1850 melden 75 Vereine der Arbeiterverbrüderung ihre Beteiligung. Die Wanderunterstützung hat an einigen Orten die Gesamtorganisation mehrere Jahre überlebt.
Der dritte Teil enthält ein "Statut für Gesundheitspflegevereine" und ein "Statut für Krankenunterstützungs- und Sterbekassen".
Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsvermittlung sowie Krankenversicherung sollen in ganz Deutschland durch Selbsthilfe in Angriff genommen werden. Ausgangspunkt für die Krankenversicherung ist, daß "die Gesundheit des Arbeiters, die Hauptbedingung seiner Arbeitsfähigkeit, häufig sein einziges, immer aber sein wichtigstes Lebensgut ist." Die wichtigste Aufgabe der Arbeiterverbrüderung ist es, die Gesundheit zu fördern, störende Einflüsse zu beseitigen und im Elend der Krankheit wenigstens Unterstützung zu leisten. Grundsätze auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge sind Selbsthilfe, Selbstverwaltung, freie Arztwahl, gleiche Pflichten und gleiche Rechte - anstelle "unzuverlässiger Wohltätigkeitsgelüste und patriarchalischer Gemüthlichkeit".
Die "Assoziation der Zigarrenarbeiter Deutschlands" schließt sich auf dem Kongreß der "Arbeiterverbrüderung" an. Doch nach kurzer Zeit trennen sich die Zigarrenarbeiter wieder von der "Arbeiterverbrüderung".