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Teil 4



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4.1. 30 Jahre im Dienste des Parteiverlages und der Gesamtpartei (1891 – 1922)

„Ich habe meinen Wirkungskreis stets als einen sehr kleinen angesehen, aber ausgefüllt habe ich ihn nach Kräften. Was Sie Kautsky, agr. mir als Verdienst anrechnen, rechnen mir andere als eine bösartige Tätigkeit an und scheuen sich auch nicht, mir die niederträchtigsten Motive unterzuschieben. Dem steht man wehrlos gegenüber, und wenn ein solches Verhältnis viele Jahre dauert, so gehört eine nicht ungewöhnliche Kraft dazu, dem zu widerstehen. Wenn ich nicht die felsenfeste Überzeugung in mir gehabt hätte, auf dem richtigen Wege zu sein, so wäre ich nicht zusammengebrochen, nein, das liegt nicht in meinem Wesen, aber den ganzen Kram hätte ich zusammengewirbelt und der Vernichtung preisgegeben." [Heinrich Dietz an Karl Kautsky auf dessen Gratulation zum 60. Geburtstag (4. 10. 1903, IISG, K D VIII, Br. 332).]

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4.1.1. Die „Schwäbische Tagwacht"

Obwohl Heinrich Dietz immer wieder bereit war, bedürftigen Parteigenossen Arbeit – d.h. Verdienst – zu verschaffen (so mußte er auch noch 1891 zu Bruno Geisers Auskommen beitragen, HD an WL, 8. 12. 1891, IML, NL Liebknecht, 34/18), hatte seine Kapazität Grenzen: Anfang 1891 stellte der Stuttgarter Verlag die Broschürenproduktion ein, denn „der Wettlauf mit dem „Vorwärts"-Verlag und Woerlein & Co. sagt meinen Lungen, bzw. den Finanzen nicht zu, so vermindert sich auch die Aufnahmefähigkeit". Zudem erwiese sich, befand Heinrich Dietz, die „Schwäbische Tagwacht" – neben der immer noch defizitären „Neuen Zeit" – als Verlustgeschäft (HD an WL, ebd.). Doch schon auf der Landesversammlung der württembergischen Sozialdemokraten im Herbst 1891 hatte er zufrieden einen steigenden Absatz der „Schwäbischen Tagwacht" konstatieren können (Härle 1930). Im gleichen Jahr noch kandidierte er auf der sozialdemokratischen Arbeitgeberliste für einen ehrenamtlichen Beisitz im Stuttgarter Gewerbegericht – erfolglos wie auch 1894 (StA Stg., Depot A. Justizverwaltung A II, 3, Bd. 5, Nr. 55).

Ebenfalls 1891 war in der Stuttgarter Parteidruckerei der Achtstundentag eingeführt worden (KK an FE, 7. 12. 1891, Engels/Kautsky 1955, S. 320). Es zeigte sich, daß trotz der gestiegenen Zahl der Druckaufträge die Effektivität noch gesteigert und zudem auf einen der Setzer verzichtet werden konnte (KK an FE, 7. 12. 1891, Engels/Kautsky 1955, S. 320). Die Abonnentenzahlen der „Schwäbischen Tagwacht" stiegen in den nächsten Jahren so erfreulich, daß die Zeitung ab 1892 keine Parteizuschüsse mehr benötigte und danach regelmäßig Gewinne erbrachte (Härle 1930). 1892 bezog Heinrich Dietz mit dem Verlag zusätzlich einen Neubau in der Furtbachstraße 18 [In den Häusern in und um die Furtbachstraße 12 (als Eigentümerin firmierte später die Verlagshandlung J.H.W. Dietz) war auch der Singersche Zeitschriftenverlag untergebracht, zeitweise die Redaktion und Expedition der „Schwäbischen Tagwacht" sowie die Geschäftsstelle der SPD in Stuttgart (Adreß-buch Stg.). Hier befand sich ganz eindeutig das Stuttgarter Parteizentrum. Die Wohnungen von Hein-rich Dietz zunächst in der Reinsburgstraße, dann in der Tübinger Str. sind nur wenige Gehminuten von der Furtbachstraße entfernt (s. dazu den Stadtplan im Anhang 2).] . Heinrich Dietz versuchte nun einmal mehr, Friedrich Engels zur Neubearbeitung der „Lage der arbeitenden Klassen" zu veranlassen: „Der gute Dietz läßt mich nun schon zum x-ten Mal anzapfen und bekommt immer dieselbe Antwort" (FE an AB, 2. 2. 1892, Bebel/Engels 1965, S. 502, vgl. auch MEW Bd. 38, S. 330ff).

Die Verlagspolitik, die Heinrich Dietz verfolgte, fand nicht immer und überall ungeteilten Beifall. So kritisierte Friedrich Engels, Heinrich Dietz ginge ‘viel zu ausschließlich auf den Massenabsatz los’: „Will er der Verleger der wissenschaftlichen Sozialisten sein, so muß er eine Abteilung anlegen, wo auch Bücher, die langsameren Absatz finden, ihren Platz erhalten. Sonst muß ein anderer gefunden werden. Die wirklich wissenschaftliche Literatur kann nicht zu Zehntausenden Absatz finden, und darauf muß der Verleger sich einrichten" (FE an KK, 25. 6. 1892, Engels/Kautsky 1955, S. 347).

Zu denjenigen, die später gelegentlich für die „Schwäbische Tagwacht" und die „Gleich-heit" [Dazu siehe weiter unten.] (dazu weiter unten) schrieben, gehörte auch Wilhelm Keil. Nach Tätigkeiten im Stuttgarter Verbandsbüro der Holzarbeiter [Auf einer Parteiversammlung lernte er führende Partei- und Gewerkschaftsvertreter kennen, darunter auch ‘den korpulenten’ Georg Baßler (Keil 1947, S. 127).] und in der Mannheimer Ortskrankenkasse holte ihn Joseph Belli im Januar 1896 im Namen des Landesvorstandes zunächst als ‘Hilfs-kraft’ in die Redaktion der „Schwäbischen Tagwacht" nach Stuttgart zurück (Keil 1947, S. 152). Der älteste der vier Redakteure, Leonhard Tauscher, war nach Ende des Sozialistengesetzes bei Heinrich Dietz als Korrektor im Verlag angestellt worden und nahm 1894 Carl Eichhoffs Nachfolge wahr, er bearbeitete den politischen Teil der Zeitung [„Tauscher hat kürzlich 3 Monate bekommen wegen Gottesläschterung, weil die Tagwacht den Teufel die einzige anständige Person in der christlichen Mythologie genannt hatte. Das war für die hiesigen Mucker zu viel. [...] Sonst ist in Württemberg ziemlich viel Freiheit, nur in der Religion verstehn die Schwaben keinen Spaß" (KK an FE, 30. 7. 1895, Engels/Kautsky 1955, S. 444).] .

Bis zum Herbst 1895 gehörte zum Redaktionsstab auch Alfred Agster, der danach als freier Mitarbeiter noch ab und an Leitartikel schrieb. Seit Mitte 1895 war Karl Hildenbrand als Berichterstatter vorwiegend für die württembergische Landespolitik zuständig [„Er war wort- und redegewandt und verstand sich vortrefflich auf dem Umgang mit Menschen. So wurde dieser Schwabe rasch ein beliebter und erfolgreicher Agitator" (Keil, S. 154). ] . Zu den ständigen Mitarbeitern der Stuttgarter Parteizeitung gehörten außerdem Jakob Stern und Wilhelm Blos sowie Emil Hauth (ebd., S. 155).

Als Lokalredakteur der „Schwäbischen Tagwacht" eingestellt, aber mehr als Schlußredakteur tätig, war Hans Geiger – „kein Redner und Agitator", sondern ‘die Seele der Zeitung’: „Alle Manuskripte, außer denen von Tauscher, gingen durch seine Hand; er legte stets die letzte Feile an" (ebd., S. 154). Alle diese Männer gehörten lange Jahre zu Heinrich Dietz’ täglichem Umgang, waren seine engen Mitarbeiter.

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4.1.2. „Die Gleichheit"

Clara Zetkin zog im Januar 1891 nach Stuttgart und übernahm Ende des Jahres die Redaktion der neuen Frauenzeitschrift, als die 1890 in Hamburg begonnene und von Emma Ihrer redigierte „Arbeiterin" unter dem Namen „Die Gleichheit" vom 1. Januar 1892 in den Stuttgarter Verlag überwechselte.

Clara Zetkin war nach dem Tode Ossip Zetkins und einem Sanatoriumsaufenthalt dringend auf eine bezahlte Arbeit angewiesen und kam auf Vermittlung von August Bebel nach Stuttgart [Im Nachbarhaus der Rotebühlstraße 147, in dem Clara Zetkin mit ihren beiden Kindern wohnte, hatte auch Karl Kautsky seine Zimmer. Er war zu der Zeit mit der Abfassung des Textes für ein neues sozialdemokratisches Parteiprogramm beschäftigt. Im selben Hause hatte auch ein gewisser Robert Bosch seine ‘Werkstätte für Feinmechanik und Elektroenergie’ eingerichtet (Brandstätter 1975; vgl. auch Riepl-Schmidt 1990).] . In ihrer Zetkin-Biographie beschreibt Dornemann die erste Begegnung zwischen Heinrich Dietz und Clara Zetkin unter der Überschrift ‘ein bedeutungsvolles Gespräch’ so genau, als wäre sie dabei gewesen: „Der Verleger J.H.W. Dietz blickte über seinen Schreibtisch hinweg auf die junge Frau, die ihm gegenüber Platz genommen hatte. Auf seinem schmalen klugen Gesicht lag ein Ausdruck gespannter Erwartung. Doch sein Beruf hatte ihn Geduld gelehrt, und er wartete schweigend." Gerade hatte Heinrich Dietz ihr die Redaktion der Frauenzeitschrift „Die Gleichheit" angeboten. „In Claras Zügen arbeitete es" (Dornemann 1973, S. 85). An dieser Darstellung bleiben mehrere Aspekte unstimmig, denn die Entscheidung, Clara Zetkin die Redaktion der „Gleichheit" zu übertragen, stand nicht allein in Heinrich Dietz’ Befugnis. Außerdem war sein Gesicht zu der Zeit alles andere als schmal. Nicht nur das Foto, das ihn 1890 im Kreis der Reichstagsabgeordneten zeigt (AdSD, abgedruckt z.B. in Herrmann/Emmrich 1989, S. 320 a), verrät deutlich, daß Heinrich Dietz inzwischen recht rundlich geworden war und Mühe hatte, seinen Gehrock zugeknöpft zu tragen. Und das Signalement der Berliner Politischen Polizei verzeichnete ein ‘volles’ Gesicht (BLHA Rep 30, Berlin C, Nr. 13140, Bl. 115). Eine Porträtaufnahme aus derselben Zeit bestätigt diese Beschreibung (Herrmann/Emmrich, ebd., S. 320 b).

Am 20. Dezember kündigte der „Wahre Jacob" schließlich die Übernahme der Hamburger Zeitschrift in den Stuttgarter Verlag zum Jahresbeginn 1892 an [Juchacz datierte den Erscheinungsbeginn auf 1891 (1957, S. 24). Ebenso Osterroth (1960[b]): „1891 übernahm der Verlag [in Stuttgart, agr.] auch die im gleichen Jahr von Emma Ihrer in Berlin gegründete Frauenzeitschrift „Die Gleichheit"." Die letzte Nummer der „Arbeiterin" am 19. Dezember 1891 enthielt lediglich eine kurze Bekanntmachung, wonach die Zeitschrift mit Schluß des Quartals „in den Verlag von J.H.W. Dietz übergeht. Die Redaktion des Blattes wird alsdann von Frau Clara Zetkin übernommen werden" (Arbei-terin 1[1891]Nr. 51). Emma Ihrer wohnte in Velten und konnte die Redaktion von dort aus nicht wei-terführen (Frauenfrage 1930, S. 24). ] . Emma Ihrer fungierte zunächst weiter als Herausgeberin. Eine gratis verteilte Probenummer der „Gleich-heit" wandte sich am 28. Dezember „An die Leser! Mit dieser Nummer tritt „Die Gleichheit" an die Stelle der vielen liebgewordenen Zeitschrift „Die Arbeiterin". Wer „Die Arbeiterin" bisher und unter schwierigen Verhältnissen am Werk gesehen, der kennt mithin auch das Programm [...]. Allein, infolge veränderter äußerer Umstände hoffen wir, den Wirkungskreis des Blattes beträchtlich zu erweitern" (zit. in Scherer/Schaaf 1984, S. 96; vgl. auch Fricke 1963, S. 429ff.).

Die „Gleichheit" wurde von Clara Zetkin bewußt nicht in populärem Stil gehalten, selbst in der Unterhaltungsbeilage galt: „möglichst wenig Romane, keine Modeberichte, keine Rezepte bringen, sondern dem Wissen dienen" (Frauenfrage 1930, S. 25).

Die „Gleichheit" erforderte lange Zeit noch hohe Zuschüsse: „Unser Haus ist damit mit der „Neuen Zeit", agr. und mit der Gleichheit arm geworden, wir haben alles hergeben müssen und den Wahren Jacob dazu, ebenso noch manches andere" schrieb Heinrich Dietz 1902 an Karl Kautsky (3. 4. 1902, IISG, K D VIII, Br. 311).

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4.1.3. Ruinöser Erfolg

Heinrich Dietz bekam Anfang 1892 von der Fraktion den Auftrag, in ihrem Namen offiziell bei Friedrich Engels in London anzufragen, ob dieser bereit sein würde, einen Text zur Denkschrift zu verfassen, die die Fraktion – als „legitime Vertreterin des deutschen Proletariats und als solche berechtigt und verpflichtet zu solchem Dankesakt" – anläßlich August Bebels 25jährigem parlamentarischem Jubiläums am 24. Februar 1892 überreichen wollte. „Sie werden die richtigen Worte dafür finden. Wollen Sie uns die Bitte erfüllen?" schrieb er an den ‘Hochverehrten Parteigenossen’ in London. „Die Adresse wird Bebel dadurch umso wertvoller, und – wir ersparen uns die Mühe, 34 Köpfe unter einen Hut zu bringen, was auch kaum möglich ist" (HD an FE, 21. 1. 1892, IISG, NL Marx/Engels, Korr. L 1146).

In Hamburg war Mitte August 1892 der erste Fall von Cholera bekannt geworden, über 8.000 Menschen starben bis zum Ende September 1892 an der asiatischen Seuche [Vgl. hierzu Rosenfeld 1992; Schult 1967, S. 41ff.; ausführlich: Evans 1991.] . Diese letzte große Epidemie in Mitteleuropa konnte sich in der Hansestadt ausbreiten, weil verschmutztes Trinkwasser nahezu ungefiltert aus der Elbe in die Wohnviertel gepumpt wurde. Ein großer Teil der in Heinrich Dietz’ Wahlkreis lebende Arbeiterbevölkerung wohnte armselig und auf engstem Raum, war zum großen Teil auch unterernährt und hatte deswegen keine Abwehrkräfte. Wegen der seit Hamburgs Zollanschluß stark gestiegenen Lebensmittelpreise war es diesem Bevölkerungskreis keinesfalls möglich, sich ausgewogen zu ernähren. Die ohnehin niedrigen Familieneinkommen waren in den letzten Jahren zusätzlich auch noch mit hohen Mietpreisen belastet worden (Evans 1991, S. 518). Der nahezu hilflose Senat [Die Unfähigkeit von Hamburgs Innensenator Hachmann, auf die Epidemie adäquat zu reagieren, bewirkte außer Trauer und Mitleid für die Betroffenen Hohn und Spott für den Senat. Zu den vielen zu Hilfe gerufenen Ärzten zählte auch der Bakteriologe Robert Koch. Nach seiner Untersuchung des Elbwassers und der elenden Wohnverhältnisse in den Gängevierteln der Hamburger Neustadt reagierte er vollkommen entsetzt: „Ich vergesse, daß ich mich in Europa befinde!" (zit. in Schult 1967, S. 43; Rosenfeld 1992) Koch mußte den Senat fast zwingen, die Bevölkerung aufklärend zu informieren, dieser sah sich dazu aber nicht in der Lage (dazu eindrucksvoll Evans 1991, S. 365ff.).] wandte sich an die Sozialdemokraten. Niemand sonst verfügte über ein solch straff organisiertes Verteilernetz wie die ‘Staatsfeinde’. Die Hamburger Regierung wollte eine „Aufklärungsschrift zu Hunderttausenden in der sozialdemokratischen Druckerei von Auer & Co. herstellen lassen". Die Partei nahm den Auftrag an, weil er im Interesse der Gesamtbevölkerung lag [Schult berichtete euphorisch – und unzutreffend – weiter: „Schon am Abend hatte jeder Hamburger Haushalt sein Flugblatt" . Als der Senat nicht nur für den Druckauftrag, sondern auch für die Verteilung der 250.000 Schriften bezahlen wollte, hätte man abgelehnt: „derartige Arbeiten seien in der Sozialdemokratie Ehrensache" (S. 42). Nach Evans hatte der Senat jedem Verteiler je nach Stundenaufwand eine Entschädigung versprochen. Aber auch die Sozialdemokraten konnten die enorme Aufgabe nicht so schnell wie erforderlich erledigen, zumal kostbare Zeit mit dem Druck und der erst auf den Sonntag verlegten Verteilung verloren wurde, weil die Arbeitgeber ihren Beschäftigten in der Woche hätten Urlaub geben müssen (Evans 1991, S. 401ff.). Zudem fehlte eine organisatorische Leitung, denn ‘mehrere Vorsitzende der Sozialdemokraten befanden sich nicht in Hamburg’, was Evans zu der Vermutung veranlaßte, daß diese aus der Stadt geflohen wären (S. 401).] .

Die rastlose Arbeit für Partei, Verlag und Fraktion forderte nach und nach ihren Tribut. Heinrich Dietz wurde zunehmend ‘nervöser’, wie seine Abgeordnetenkollegen und Freunde konstatierten, 1892 war er gesundheitlich am Ende. Den wegen der Cholera in Hamburg mehrfach verschobenen Parteitag in Berlin konnte er nicht besuchen, wegen ‘Nervosität und Melancholie’. Am 5. Dezember fuhr er für mehrere Wochen zur Wasserkur beim Pfarrer Kneipp in Wörrishofen (BE an FE, Jahreswechsel 1892/93, Bebel/Engels 1965, S. 634ff.; KK an FE, 19.12.1892, Engels/Kautsky 1955, S. 375). August Bebel hatte den Zusammenbruch schon kommen sehen: „Ich habe immer das Gefühl, als habe er schon zu lange gewartet, und als sei er nicht mehr herzustellen. Es soll mir lieb sein, wenn ich mich täusche; denn als Geschäftsmann in der Partei ist Dietz unersetzbar" [In diesem Zusammenhang hieß es im Brief von August Bebel weiter: „Unter den Sozialdemokraten gibt es die tollsten Käuze. Da taucht kein Heilsystem auf, ohne daß es bei uns sofort zahlreiche Gläubige findet. In der Fraktion gibt es auch solche Kunden, die den nassen Strumpf am liebsten zum Parteibanner machten" (AB an FE, 27. 12. 1892, Bebel/Engels 1965).] (AB an FE, 27. 12. 1892, Bebel/Engels 1965, S. 642). Anfang Februar fuhr Heinrich Dietz zur Erholung mit Paul Singer in die Schweiz (Ab an FE, 28. 2. 1893, Bebel/Engels 1965, S. 670).

Auf dem Parteitag, den Heinrich Dietz nicht besuchen konnte, kamen auch die Hamburger Zeitungsunternehmen zur Sprache. Neben dem in Hamburg immer noch wöchentlich erscheinenden „Gesellschafter" [Ab dem 4. Jahrgang 1891 erschien der „Gesellschafter" offiziell im Hamburger Parteiverlag (Nr. 1 in StAH, S 2345). Rudolph Seiffert fungierte 1891 als verantwortlicher Redakteur. ] (SPD-Protokoll 1891, S. 47) sollte ab Anfang 1892 nach Beschluß des Parteivorstands eine weitere illustrierte Unterhaltungsbeilage für einige Parteizeitungen ins Leben gerufen werden. Heinrich Dietz beabsichtigte, den nahezu 70jährigen Robert Schweichel mit der Redaktion des „Gesellschafters" zu betrauen und ihm damit eine Festanstellung zu verschaffen. Aus diesem Grund hatte er auch das Blatt noch nicht – wie eigentlich geplant – an die Hamburger Parteiorganisation übertragen (HD an WL, 15. 12. 1890, IML, NL Liebknecht 34/18). Die neue Beilage bekam wieder den Namen „Die Neue Welt".

Das außerordentlich erfolgreiche Hamburger Geschäft war bald nicht mehr in der Lage, alle Druckaufträge selbst zu erledigen – auch die „Neue Welt" konnte dort nicht mehr hergestellt werden (SPD-Protokoll 1892, S. 94ff.). Die Unterhaltungsbeilage hatte schon 1892 die Kritik einiger Wahlkreise auf sich gezogen (S. 262ff.). Redakteur Kurt Baake entgegnete auf dem Parteitag in Berlin, er habe viel zu wenig Geld zur Verfügung, und mit der alten „Neuen Welt", die eine eigenständige Zeitschrift und keine Beilage gewesen wäre, könnte er sich gar nicht messen. In diesem Zusammenhang erwähnte Baake, er hätte z.B. auch wenige geeignete Romane finden können (zumal er damals im Gefängnis saß, wo die Auswahl nicht besonders groß war – im Plenum folgte Heiterkeit). „Ich hatte endlich zwei Romane gefunden [...]; da zeigte es sich, daß sie schon früher in dem von Dietz redigierten „Gesellschafter" abgedruckt waren" [Bei der hier behaupteten redaktionellen Tätigkeit handelte es sich wahrscheinlich um die Auswahl der Romane für das Unterhaltungsblatt, bzw. darum, daß Heinrich Dietz einige Manuskripte, die ihm selbst angeboten worden waren, an die Hamburger weitergab.] (SPD-Protokoll 1892, S. 263). In der „Neuen Welt" erschien derzeit Cernysevskijs Roman „Was tun". Otto Antrick monierte allerdings, seiner Ansicht nach wäre der ansonsten sehr gute Roman „absolut ungeeignet für unsere Leser".

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4.1.4. Im Reichstag als Fürsprecher der Weinbauern und der Kolportagebuchhändler

Zur Wahl im Juni 1893 hatte August Bebel nicht wieder in Hamburg kandidiert [Die Partei stellte Hermann Molkenbuhr auf (Fricke 1976, S. 558).] , er nahm ein Mandat in Straßburg an (Elsaß-Lothringen 6, Fricke 1976, S. 558). Für eine Legislaturperiode vertrat Hermann Molkenbuhr den Hamburger Wahlkreis I im Reichstag. Heinrich Dietz errang sein Hamburger Mandat wiederum unangefochten mit gewohnter deutlicher Mehrheit [Wilhelm Metzger vertrat den III. Hamburger Kreis. Zur Wahl erschien die schon zitierte Broschüre gegen die ‘Führer der Sozialdemokratischen Partei’ (Hartmann 1893). Georg Wilhelm Hartmann zeichnete zwar dafür verantwortlich, tatsächlich wäre die Schrift aber in der Druckerei des „Hamburger Fremdenblattes" hergestellt und aufgrund Hartmanns Informationen „von irgendeinem Tintenkuli der Bourgeoisie verfaßt" worden, kritisierten die Sozialdemokraten (Ignatz Auer in: Vw 3[1893]Nr. 170, 22. 7.).] .

Im Januar 1894 trat Heinrich Dietz als Fraktionsredner zur Debatte um die Einführung einer neuen Weinsteuer auf (Sten. Ber. 1894, S. 729ff.). Den Grafen Posadowsky, der die zur Finanzierung des Militäretats gedachte Steuer mit dem Hinweis empfahl, sie existiere ähnlich schon in Süddeutschland, machte er darauf aufmerksam, „daß sie die betreffende Steuer, agr. die bestgehaßteste sic seitens der Bevölkerung ist". Deswegen sollte man doch nicht die deutsche Nation insgesamt damit ‘beglücken’ wollen. An die Adresse der um ihre Vormachtstellung im deutschen Reich bedachten ostelbischen Junker gerichtet, spottete Heinrich Dietz, „unter dem Blickwinkel der Landwirtschaft betrachtet, so darf man wohl sagen: wenn in den ostelbischen Landesteilen, in unserem Vordersibirien, Wein gebaut würde, dann hätten wir zweifellos ein solches Weinsteuergesetz nicht [...]. Aber da das nicht der Fall ist, so hat man geglaubt, diesen Zweig der Landwirtschaft noch bluten lassen zu können, da er die Interessen der ostelbischen Herren nicht schädigt" (Sten. Ber., S. 730).

Unter Berufung auf Karl Marx’ „Elend der Philosophie" sagte er der Landwirtschaft generell den Untergang voraus, zuerst den kleinen und mittleren Betrieben, denen es wirtschaftlich schon nicht mehr gut ging. Auch die Großgrundbesitzer würden an der kapitalistischen Produktionsweise endlich zugrunde gehen. „Glauben Sie ja nicht" hielt er der parlamentarischen Rechten vor, „daß sich auf die Dauer die eine Hälfte der Nation von Ihnen ausbeuten lassen wird, indem man Ihnen hohe Getreidepreise zahlt" (ebd., S. 731). Indirekt erhobenen Steuern auf Flaschenweine, als Getränk der begüterten Klassen, lehnten die Sozialdemokraten nicht ab. Die geplante Weinsteuer richtete sich aber gegen die kleinen Weinbauern der südlichen Reichsländer und die wirtschaftlich schwächeren Händler. Wenn man so weiter machen wollte, dann müßte man mit der Erbitterung der kleinen Weinbauern im Süden rechnen, die zudem oft nur noch als Nebenerwerbsbauern existierten, die Popularität der Preußen und der Reichsregierung stiege zur Zeit gar nicht: „Die Leute lassen sich viel gefallen, aber jetzt ist ihnen der Geduldsfaden gerissen, und Sie können sehr üble Reden hören über Preußen und die deutsche Reichsregierung, wenn Sie sie nur hören wollen" (ebd.). Er sagte voraus, daß die jetzt notgedrungen in die Städte abwandernden Söhne und Töchter der kleinen Bauern dort auf die Sozialdemokratie träfen. Gingen sie zurück in ihre Dörfer, würden sie ihre Nachbarn ebenfalls aufklären, „und die Zeit wird kommen, wo die Dörfer, in denen Kleinwirtschaft existiert, durchweg sozialdemokratisch geworden sind" (S. 732).

Zur Änderung des § 56 der Gewerbeordnung sprach Heinrich Dietz im Reichstag am 11. März 1895 für die Fraktion über die Schwierigkeiten der Kolportagebuchhändler. Die Bevölkerung sollte mit Annahme der betreffenden Gesetzesvorlage vor Schmutz- und Schundliteratur bewahrt werden. Schon 1883 hatte der Hofprediger Stöcker dazu gesagt, zitierte Heinrich Dietz: „Es ist besser, daß 100.000 Kolporteure zugrunde gehen, daß Millionen an Kapital vernichtet werden, als daß einige Seelen der ewigen Verdammnis anheim fallen." Heinrich Dietz wehrte sich gegen einen solchen Geist, der auch hinter den Bestimmungen der geänderten Gewerbeordnung stände. Der Kolportagebuchhandel wandte sich an die ärmeren Bevölkerungsschichten und vertrieb in erster Linie Lieferungswerke. So wurden seinerzeit fast drei Viertel der Druckerzeugnisse auf dem Wege der Kolportage vertrieben. Darunter waren prozentual aber keineswegs vorwiegend Romane, sondern, wie Heinrich Dietz ausführte: Erbauungsschriften, staatswissenschaftliche Abhandlungen, geschichtliche, geographische und naturwissenschaftliche Werke, Lexika, Schriften über Kunst und Sprachwissenschaften, Prachtwerke, Unterhaltungsliteratur, Klassiker, Nationalliteratur, die Reclamsche Ausgabe mit 3.000 Nummern (Sten. Ber. 1896, S. 1373).

Der Mittelstand würde also keinesfalls durch die Gesetzesvorlage geschützt, sondern vielmehr geschädigt werden: „Der Vertrieb durch den Kolportagebuchhandel ermöglicht es einer ganzen Reihe kleiner und mittlerer Verleger, an der Produktion teilzunehmen, da durch den Kolportagebuchhandel ein schnellerer Geldumsatz zu erzielen ist, was für den Minderkapitalkräftigen von hohem Wert ist. Er kann nicht den üblichen Kredit von Ostermesse zu Ostermesse gewähren, wie es der Sortimenter verlangt" (S. 1374). Die betreffenden Bestimmungen träfen deswegen nicht nur den Kolporteur, sondern vor allem die weniger kapitalstarken Verleger. Sie boten den Schriftstellern, die sich nicht dem Diktat der ‘monopolisierten’ Institute der Unterhaltungsliteratur beugen wollten, überhaupt noch Veröffentlichungsmöglichkeiten. Die Kontrolle den örtlichen Polizeidienststellen zu überlassen, lehnte Heinrich Dietz strikt ab. Es gäbe genügend Vorkommnisse, die bewiesen, daß damit der Willkür Vorschub geleistet würde. Alles in Allem, so schloß Heinrich Dietz, könnte man „mit Fug und Recht behaupten, daß der § 56 in den Händen der Verwaltungsbehörden und der Polizei sich zu einem wahren Groben-Unfugsparagraphen entwickelt hat, den man aus der Gewerbeordnung wieder herausbringen muß" (ebd., Hervorhebung im Orig.).

Inzwischen war in Berlin der Neubau des Reichstages fertiggestellt. Ende des Jahres 1894 wurde vor der ersten Sitzung der neuen Session auch zum letzten Male im alten Reichstag getagt: Das deutsche Parlament zog von der Leipziger Straße in das neue prunkvolle Gebäude in der Nähe des Brandenburger Tors. Ganz entgegen seiner Gewohnheit war auch Heinrich Dietz schon in Berlin. Kaiser Wilhelm II. legte den Schlußstein des Gebäudes unter dem überlebensgroßen Standbild des ersten deutschen Kaisers, seines Großvaters. Am selben Abend fand die Einweihungsfeier im neuen Reichstag statt. Auf sehr patriotische Einführungsworte des Parlamentspräsidenten am nächsten Tag: ‘Alle Abgeordneten sollten ihre Kraft für die große Aufgabe einsetzen und nur dem Kaiser, dem Reiche und dem Volke dienen’ [„Meine Herren, ein großartiger Bau, der seinesgleichen sucht, weite Halle, prächtige Säle [...]. Schon der Anblick so vieler Herrlichkeiten, wie sie deutsche Kunst, deutsches Gewerbe, deutsches Handwerk hier vereinigt haben, muß ein deutsches Herz erheben und erfreuen" (Präsident von Levetzow am 6. 12. 1894, Sten. Ber., 3. Session, S. 7).] , folgte in der ersten Sitzung im neuen Haus das sonst nur anläßlich der Eröffnungssitzung übliche begeisterte dreifache „Hoch" auf den Kaiser. Die Sozialdemokraten blieben demonstrativ sitzen [Traditionell verließen die Sozialdemokraten den Weißen Saal des kaiserlichen Schlosses immer kurz vor dem Ende der feierlichen Eröffnung der Reichstagsversammlungen: Jeder offizielle Auftakt der Sessionen endete mit einem ‘dreifachen Hoch auf den Kaiser’.] . Ein Sturm der Empörung brach los. Dieses skandalöse Verhalten der Linken entsprach nicht ‘der Sitte deutscher Männer’! ‘Pfui’-Rufe ertönten, und der Präsident bedauerte sehr, kein Machtmittel in der Hand zu haben, um solche ‘Beleidigung der Gefühle der Mitglieder des Reichstags’ entsprechend zu ahnden [Nach dem ‘Skandal’ der Mißachtung des ‘Kaiser-Hochs’ durch die Sozialdemokraten folgte recht bald eine neue Schlappe der Konservativen: Der Reichstag verweigerte im März dem ehemaligen Reichskanzler Bismarck einen Geburtstagsgruß zur Vollendung des 80. Lebensjahrs (Sten. Ber. 1895, S. 1671ff.). ] (Sten. Ber. 1894, 3. Session, S. 10).

Das neue Reichstagsgebäude bot den Verhandlungen und den Abgeordneten in vieler Hinsicht einen prunkvollen Rahmen [Vgl. hierzu Reichstaghandbuch 1903, darin: Wallot, S. 366ff.; Schwarzer 1929; Frauendienst 1963. Besonders eindrucksvoll: Frenz 1913.] . Obwohl der Reichstagspräsident etwas wehmütig vorausgesagt hatte, daß man den Reichstag an der Leipziger Straße – eine „einfache Heimstätte" – jedoch „wegen ihrer Wohnlichkeit, ihrer praktischen Einrichtung, ihrer Bequemlichkeit noch oft vermissen" würde (Sten. Ber. 1894, 3. Session, S. 7). Jetzt fand man sich in ‘wohltemperierten Räumen’ ein, die den Schritt auf weichen Teppichen dämpften. Die grünen Blattpflanzen vervollkommneten die ohnehin prächtige Ausstattung. Die 96 m lange Wandelhalle war ausgelegt mit kostbarem Marmorfußboden, und der riesige Kronleuchter wog 180 Zentner. Man traf sich in Erfrischungssälen: Die Sozialdemokratische Partei hatte dort ihren Stammplatz mit Blick auf ‘das Blättermeer des Tiergartens und auf die Wassersäulen einiger Springbrunnen’. Ein eigenes Postamt stand zur Verfügung, eine Bibliothek [Der Bücherspeicher enthielt auf vier Geschossen Platz für ca. 300.000 Bände, berechnet für den Zugang in den folgenden 45 Jahren (Wallot 1903, S. 388). Der Lesesaal aber war etwas zu eng, fand Frenz (1913, S. 7).] und ein spezieller Lesesaal mit den neuesten Zeitungen, ein Schreibsaal. Turn- und Badezimmer waren für die Abgeordneten eingerichtet worden, Sitzungszimmer für die Kommissionen, eine Druckerei. Geschmückte Portale, bunte Glasfenster mit symbolischen Darstellungen und überall in den fünf Geschossen schmückten ‘Bilder und Büsten von Fürsten und Gelehrten, Dichtern und Erfindern’ die Wände. Der Sitzungssaal bot den Abgeordneten „hübsche Ledersessel, davor ein Tischchen mit Schublade. An der Stuhllehne ist ein Kärtchen befestigt. Es trägt den Namen des jeweiligen Platzinhabers" (Frenz 1913, S. 9). Über all dem erhob sich die gewaltige Kuppel des Reichstagsgebäudes, 75 m hoch, aus Stahl und Glas. Das Ganze verschlang fast 24 Millionen Mark an Baukosten, die Ausstattung noch einmal knapp 3,5 Millionen.

Dieser feudale Prunk gehörte in den folgenden 24 Jahren zur gewohnten Umgebung des Reichstagsabgeordneten Dietz.

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4.1.5. 1897: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Ab 1893 nahm Heinrich Dietz mit dem „Bilderbuch für große und kleine Kinder" (ESZ 1981, A 97) auch Kinderbücher in den Verlag auf. 1895 sollte eigentlich ein von Emma Adler zusammengestelltes Kinderlesebuch im Stuttgarter Geschäft erscheinen. Heinrich Dietz zog seine schon erteilte Zusage aber wieder zurück, „weil er fürchtete, ein gehöriges Defizit zu haben, und er hat solche bei anderen Unternehmungen genug auf dem Hals. Neue Zeit, „Geschichte des Sozialismus" [Gemeint war die „Geschichte des Sozialismus" in Einzeldarstellungen. Band 1 erschien 1895, Band 3 1898; Band 2 erschien gar nicht (ESZ, A 135).] etc. Letztere hat vorläufig nur die Hälfte der Abonnenten, auf die er rechnete. Der Markt ist überfüllt, und die Zeiten sind schlecht" [Emma Adlers „Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats herausgegeben" wurde dann von der Berliner „Vorwärts"-Buchhandlung übernommen (Adler u.a. 1954, S. 165 u. S. 171; Bebel/Engels 1965, S. 794).] (AB an FE, 18. 2. 1895, Bebel/Engels 1955, S. 795). „Die Tage des Überflusses haben aufgehört [...] Das Verlegen aber ist eine Lotterie, aus der nur der Aussicht hat, als Gewinner hervorzugehen, der viel zuzusetzen hat" (KK an Emma Adler, 22. 3. 1895, Adler u.a. 1954, S. 174).

Auch der 3. Band des „Kapitals", 1894 fertiggestellt, konnte wegen der Urheberrechte noch nicht vom Stuttgarter Parteiverlag herausgebracht werden [„Nach § 29 des Urheberrechts endigt der Schutz, wenn seit dem Tode des Urhebers 30 Jahre verflossen sind, und außerdem, wenn seit der ersten Veröffentlichung des Werkes 10 Jahre verflossen sind. Danach sind Notizen von Marx, die auf das Kapital Bezug haben, 10 Jahre nach ihrer Veröffentlichung gleichfalls gemeinfrei und können von jedem Herausgeber benutzt werden" (HD an KK, 8. 10. 1912, IISG, K D VIII, Br. 502; vgl. Kap. 4.1.9).] . Heinrich Dietz blieb nur eine ‘feierliche Gratulation’ nach London: „Donnerwetter, da haben Sie ein Stück Arbeit geschafft – das ist bewundernswert! Nach guter deutscher Art gehört darauf ein guter Tropfen. Ich bitte Sie, einen solchen von mir anzunehmen. [...] Deutsch ist er, Charakter hat er und vom Rhein stammt er – er wird Ihrer Zunge viel Freude machen" (an FE, 22. 5. 1894, IISG, NL Marx/ Engels, Korr. L 1157).

Die Kur in Wörrishofen an der Jahreswende 1892/1893 hatte für Heinrich Dietz doch keine dauerhafte Besserung gebracht. Seine Nervosität hielt unvermindert an. Nach der vorübergehend starken Nachfrage an deutscher sozialistischer Literatur waren die Geschäfte wieder abgeflaut. „Dietz hat in den Jahren 90 – 92 ein hübsches Vermögen erworben [„Der Abgeordnete Dietz hat durch seinen Verlag nebst Druckerei schon ein bedeutendes Vermögen erworben" , befand auch die bürgerliche Presse (Berliner „General-Anzeiger", 4. 3. 1892).] . Seit ein paar Jahren geht aber das Geschäft miserabel, er muß jedes Jahr an 20.000 Mk. zusetzen. Geht das so fort, so muß er in ein paar Jahren sein Vermögen aufzehren und hat nichts auf seine alten Tage" (KK an VA, 7. 8. 1897, Adler u.a. 1954, S. 237). Die geschäftlichen Einbußen und die anhaltende gesundheitliche Schwäche des inzwischen 50jährigen Heinrich Dietz können der Grund dafür gewesen sein, daß er schließlich im Sommer 1894 mit August Bebel und Paul Singer – beide stellvertretend für den Parteivorstand – in Verhandlungen über eine Umstrukturierung des Parteiverlages eintrat (AB an FE, 10. 7. 1894, Bebel/Engels 1965, S. 769). Bei der Umwandlung des Verlages in eine Genossenschaft würde Heinrich Dietz zur Deckung der Defizite nicht mehr mit seinem ‘Privatvermögen’ haften müssen: „Das hat er auf dem Trockenen" (KK an VA, ebd.). August Bebel und Paul Singer reisten deswegen ‘in Geschäften’ zu Heinrich Dietz nach Stuttgart. „Alsdann wollen wir nächsten Dienstag und Mittwoch unter Führung von Dietz eine Spritztour in die Schwäbische Alb machen" (AB an FE, 10. 7. 1894, Bebel/Engels 1965, S. 769). Bis eine Änderung im Verlag beschlossen wurde, dauerte es aber noch eine gewisse Zeit.

Die Jahre 1894 und 1895 brachten für Heinrich Dietz – außer der seine Nervosität weiter verschlimmernden Arbeitsbelastung – sowohl Freude als auch Trauer. Die jüngere Tochter Doris hatte das Elternhaus schon verlassen und sich Ende 1893 mit dem wesentlich älteren Gustav Dreher, einem Xylographen [Xylographien sind Holzschnitte. Gustav Dreher lieferte wahrscheinlich Illustrationen für die Parteipresse.] , verheiratet. Mitte 1894 wurde der nun knapp 51jährige Heinrich Dietz zum ersten Mal Großvater [August Bebel kommentierte das Ereignis in seinem Brief an Friedrich Engels: „Dietz ist, beiläufig bemerkt, Großvater geworden; wir werden allmählich eine Fraktion der Großväter" (10. 7. 1894, Bebel/Engels 1965, S. 769).] . Doris Dreher nannte ihre am 3. Juli geborene Tochter nach ihrer Mutter Helene [Die Familie Dreher wohnte lange Zeit im selben Haus (Adreßbuch Stg.), die Enkelin Gertrud lebte fast ganz bei den Großeltern (Geiger-Hof 1963, Manuskriptfassung).] (StandA Stg.). Das kleine Mädchen litt unter einer gefährlichen Erkrankung der Atemwege (HD an KK, 29. 7. 1900, IISG, K D VIII, Br. 282) und starb mit knapp elf Jahren im Mai 1905.

Hans Geiger hatte die Sympathien von Anna, der älteren Tochter von Heinrich Dietz errungen [Anna Dietz wäre „ein kleines lustiges Ding" , schrieb Eduard Bernstein, die zweite – Doris – „schlägt nach dem Papa, sie ist eine kleine Riesin" (EB an FE, 21. 7. 1892, Bernstein/Engels 1970, S. 388). ] . Sie feierten ihre Hochzeit am 25. Juni 1895 in Stuttgart (StandA Stg.; HD an Natalie Liebknecht, 4. 7. 1895, IML, NL Liebknecht 34/84). Kurze Zeit danach heiratete der ältere Sohn Fritz [Am 17. 10. 1895 (StandA Stg.). ] . 1897 eröffnete Hans Geiger eine eigene kleine Druckerei und schied nach der Umorganisation des Verlages (dazu weiter unten) aus der Redaktion der „Schwäbischen Tagwacht" aus. Anna Geiger starb schon im April 1900, sie hinterließ drei kleine Kinder [„Das Schlimme an der Sache ist, daß die Kinder einen Ersatz haben müssen. Fritz und ich, oder richtiger Marta [Fritz Dietz’ Frau, agr.] und meine Frau haben ja eines der Kinder zu sich genommen; das wird aber auf die Dauer nicht gehen, da dem Vater es nicht zu verdenken ist, wenn er seine Kinder bei sich haben möchte." Anna Geiger wurde in Heidelberg eingeäschert (HD an KK, 1. 4. 1900, IISG, K D VIII, Br. 274).] .

Die privaten Ereignisse nahmen Heinrich Dietz offenbar stark in Anspruch. August Bebel war wegen Heinrich Dietz wieder in Sorge geraten und registrierte: „Dieser wechselt jeden Tag seine Ansichten, und jetzt häufiger als früher, was ich als Zeichen seiner schlimmer werdenden Nervosität ansehe. Während er nach diesem Brief über die NZ, den August Bebel gerade erhalten hatte; agr. nicht mehr als 2.000 Mark Defizit tragen wollte, spricht er jetzt von 5.000 Mark, auf die er das Defizit herabzudrücken hoffe. Wodurch, darüber hat er sich nicht ausgesprochen" (AB an KK, 17. 7. 1895, Bebel/Kautsky 1971, S. 92).

Karl Kautsky hatte sich schon vorher in einem Brief an Victor Adler Luft gemacht: „Du kriegst von dem Kerl nie eine gerade Antwort, wenns nicht sein muß" (KK an VA, 29. 1. 1894, Adler u.a. 1954, S. 135). Die „Neue Zeit" erschien zwar immer noch ein Mal pro Woche, konnte aber nicht aktuell genug sein, weil sie in Stuttgart hergestellt wurde. Man ‘schim-pfte’ darüber, daß die „Neue Zeit" langweilig wäre [„Die sind selbst schuld daran, wenn die N.Z. langweilig ist; warum schreiben sie langweilig? Vorw[ärts]. u. Sozialdem[okrat]. sind auch sehr ledern, wie die ganze deutsche Bewegung" (KK an VA, 22. 3. 1894, Adler 1954 u.a., S. 138).] . Gegen die Umwandlung in eine Monatsschrift wehrte sich Karl Kautsky, er befürchtete, daß das „possibilistische Literatentum, Schönlank, Quarck und Konsorten" eine neue Wochenschrift gründen würde, „die entschieden mehr Erfolg hätte als die N.Z., weil sie in Berlin erschiene und frei von Dogmenfanatismus, d.h. charakterlos wäre und so dem zahlungsfähigen Publikum, den Salonsozialisten sympathischer würde" [In Berlin erschien inzwischen das von Max Schippel redigierte Wochenblatt „Der Sozialdemokrat" (Sperlich 1983, S. 212), stellte sein Erscheinen aber zum 1. Januar 1896 wieder ein. Das Defizit war auf 14.000 Mark angestiegen (AB an KK, 17. 7. 1895, Bebel/Kautsky 1971, S. 92; AB an FE, 17. 7. 1895, Bebel/Engels 1965, S. 804).] (an Hugo Heller, 28. 12. 1895, Adler u.a. 1954, S. 197).

Verschiedene weitere Treffen zwischen August Bebel, Paul Singer, Heinrich Dietz und Karl Kautsky fanden im Sommer 1895 statt. Dabei setzten sie sich weiterhin mit der Zukunft von Buch- und Zeitschriftenverlag auseinander. Einmal mehr stand die „Neue Zeit" auf der Tagesordnung, denn das Defizit war immer noch nicht beseitigt. Die Beratungen über die Veränderungen im Stuttgarter Verlag zogen sich deswegen noch weiter in die Länge. Überhaupt erst Anfang Januar 1896, so schrieb Karl Kautsky an Hugo Heller in Wien, wollte Heinrich Dietz versuchen, in Berlin ‘die Sache mit der N.Z. zur Entscheidung zu bringen’ (ebd., S. 196). Heinrich Dietz beabsichtigte, wegen des Defizits mit dem Vorstand über die Herabsetzung der Summe zu verhandeln, die er jährlich an die Partei zu zahlen hatte, denn „die Partei muß es tragen helfen" (KK an Hugo Heller, ebd.). Anderenfalls wäre nur eine ‘Verstaatlichung’ der Zeitschrift durch die Partei und eine Verlagerung nach Berlin möglich gewesen. Karl Kautsky hätte das eigentlich ganz gern gesehen.

Am 6. August 1895 war Friedrich Engels in London gestorben [Obwohl schon seit dem Frühjahr bekannt war, daß Engels an Krebs erkrankt war, traf die Sozialdemokraten der Tod des ‘Generals’ schwer. Ignatz Auer umschrieb es auf seine Weise: „Wo aber der Alte unersetzlich ist, das ist die Bibelauslegung. Bei allem Respekt vor den jüngeren Kirchenvätern, aber die reiche Erfahrung und Autorität Engels fehlt eben doch auch Kautsky, Ede aber zweifelt an sich selbst und Plechanow ist den Massen zu fremd, als daß er Einfluß auf dieselben ausüben könnte. Wir werden uns also bis auf weiteres ohne ‘Urquell der Wahrheit’ behelfen müssen" (IA an VA, 26. 9. 1895, Adler u.a. 1954, S. 189f.). ] . Heinrich Dietz konnte nicht zur Beerdigung fahren und beauftragte Julius Motteler, ein ‘Triumpfkissen’ am Grab niederzulegen. Motteler, dem Heinrich Dietz nach Engels’ Tod zur Aufbesserung seines schmalen Einkommens anbot, als Berichterstatter aus London für die „Schwäbische Tagwacht" und für den „Wahren Jacob" zu schreiben (JM an HD, 5. 10. 1895, NL Motteler, Korr. im AdSD, Mot 8/4ff.; vgl. auch Mot 58), schilderte Karl Kautsky später ausführlich, „daß dasselbe von roten Gladiolen mit Bord von weißen fondiert war und Eckstücke von weißen Lilien und dunkelroten Rosen in grünen Zwergblattpflänzchen gerahmt trug. – 4 schwarzrote Rosen an dergleichen Knospen bildeten die Quasten. Obenauf der Lorbeerkranz mit Band von dem Feuerlilienstengel (als Feder) durchquert". Das Prachtstück kostete den ‘Onkel Grogk’ – mit allen Nebenauslagen – 23 Shilling 25 Pence (22. 8. 1897, IML, NL Kautsky, 55/20. Orig. im IISG).

Friedrich Engels hatte die deutschen Sozialdemokraten, vertreten durch August Bebel, Paul Singer und Eduard Bernstein, zu seinen Nachlaßverwaltern bestimmt. Zum ‘Erbe’ gehörte die Bibliothek und vor allem der Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels. Zunächst verblieben die Briefe zusammen mit den anderen Materialien des schriftlichen Nachlasses bei Julius Motteler in England. Zeitweise war auch im Gespräch, die Unterlagen nach Stuttgart zu überführen (JM an KK, 10. 5. 1901, IML, NL Kautsky, 55/20; Mayer 1966, S. 40ff.; Herrmann/Emmrich 1989, S. 445ff.). Dort – so meinten Julius Motteler und Heinrich Dietz – würden sie erheblich sicherer als in Berlin liegen.

Zur gleichen Zeit waren die Sozialdemokraten allgemein und ihre Unternehmungen im besonderen massiven Repressionen ausgesetzt gewesen. Eine Propagandawelle anläßlich des 25. Jahrestages der siegreichen Sedan-Schlacht gegen Frankreich war der Auftakt des Versuches, die SPD erneut zu kriminalisieren. Der Parteivorstand wurde Ende 1895 polizeilich aufgelöst; die Reichstagsfraktion übernahm wieder die Leitung der Partei und setzte in Hamburg einen geschäftsführenden Ausschuß ein (Bebel 1981, Bd. 2, S. 337; vgl. z.B. auch Herrmann/Emmrich 1989, S. 450ff.). Heinrich Dietz entschied deswegen, in Stuttgart keine politischen Broschüren mehr zu verlegen. Diese Kleinschriften wurden von nun an zentral von der Berliner Buchhandlung „Vorwärts" angeboten. Auch für Paul Lafargue, der über Karl Kautsky bei ihm anfragte, wich Heinrich Dietz von diesem Grundsatz nicht mehr ab (HD an KK, 7. 3. 1895, IISG, K D VIII, Br. 212). Er bemühte sich vielmehr, alles vom Stuttgarter Unternehmen fernzuhalten, was nicht in seine wissenschaftliche Tendenz paßte (27. 2. 1907, IISG, K D VIII, Br. 391).

Seit November 1896 streikten in Hamburg die Hafenarbeiter. Zu ihrer Unterstützung veranstalteten die Stuttgarter Sozialdemokraten am 5. Januar 1897 eine Volksversammlung. Im Saale der seiner Wohnung direkt gegenüberliegenden Dinkelackerschen Wirtschaft sprach Heinrich Dietz als Reichstagsabgeordneter der Streikenden (HE 11[1897], Nr. 5, 7. 1.). Aus Hamburg berichtete ein gewisser Kölle, der als sozialdemokratischer Beauftragter der Hamburger Gewerkschaften auf Agitationsreisen unterwegs war (StA Lb, F 201, Bü. 624, 7. 1. 1897). Eine Sammlung zugunsten der streikenden Arbeiter durfte nicht stattfinden, weil sie ohne Anmeldung illegal war (StA Lb, ebd.). Die Hafenarbeiter mußten ihren Streik wegen des langanhaltenden Winters schließlich aufgeben [Der Hafenarbeiterstreik (vgl. hierzu auch Bieber 1983; Wir sind die Kraft 1988, S. 49fff.) bildete einen der Hintergründe für die ‘Zuchthausvorlage’ im Reichstag, er wäre „ein Vorstoß der internationalen Sozialdemokratie gegen das Unternehmertum" und „eine Machtfrage und keine Frage über Lohn- und Arbeitsbedingungen gewesen" (aus der Erklärung des Arbeitgeberverbandes vom 9. 2. 1897, zit. in Bieber, S. 239), dem es entgegenzuwirken galt. Die Vorlage wurde im November 1899 aber endgültig abgelehnt (Sten. Ber. 1899).] . Im „Wahren Jacob" erschien das berühmt gewordene Titelbild, auf dem scheelblickende Streikbrecher unter Polizeischutz zur Arbeit geführt wurden (W.J. 1897, Nr. 278, S. 2400).

Heinrich Dietz hatte seinen jüngeren Sohn inzwischen für längere Zeit zu Julius und Emilie Motteler nach London geschickt, damit Franz Dietz die englische Sprache lernen konnte. Eigentlich hatte Heinrich Dietz mit ihm andere Pläne gehabt: „Ich hätte betreffs Franz nicht ungern gesehen, wenn er sofort ein sog. Polytechnikum dort besucht hätte, oder, da er hierzu keine rechte Lust hatte, eine Stelle als Volontär in einem Geschäft angenommen hätte" (HD an JM, 1. 1. 1897, AdSD, NL Motteler 58).

Zu Ostern 1897 hielt Heinrich Dietz auf der Landesversammlung der württembergischen Sozialdemokraten eine beachtete Rede zur politischen Lage in Deutschland. Neben Bewertungen der Außenpolitik (‘uferlose Flottenpläne’) und der Innenpolitik – er meinte die unzureichenden Maßnahmen zur Reform des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Unfallversicherung sowie die Gefahr einer weiteren Verelendung des Handwerkerstandes – forderte Heinrich Dietz, dem Militarismus energisch entgegenzutreten. Das einzige Mittel, „denselben ernsthaft zu bekämpfen, wäre: die Budgetverweigerung. Einem Kind gibt man keine Zündhölzchen in die Hand!" (Echo 1897). Außerdem hofierte er die Gewerkschaften sehr deutlich: „Die Partei steht den Gewerkschaften keineswegs mißtrauisch gegenüber; sie freut sich vielmehr über deren Blüte und sucht sie, so viel sie kann, zu kräftigen. Der Gegensatz zwischen beiden ist nur ein vermeindlicher" (ebd.). Damit unterstützte Heinrich Dietz die offizielle Haltung seiner Partei, sie – die Partei – wäre „gleichsam die Artillerie, die Gewerkschaften stellen die Infanterie dar. Die Partei muß Arbeiterschutzgesetze im Parlament erkämpfen, Sache der Gewerkschaften ist es, dafür zu sorgen, daß sie gehörig durchgeführt werden" (Echo 1897). Und noch einmal in die Richtung der Hamburger Hafenarbeiter gesprochen, warnte er vor unüberlegt begonnenen Streiks: Blindlings in den Ausstand zu treten, würde nur die Kassen unnötig leeren. Organisation und Agitation wären nun das Gebot der Stunde.

Im Reichstag war Heinrich Dietz gerade zusammen mit Paul Singer und Max Schippel in die Kommission zur Vorbereitung des Entwurfs zu einem Handelsgesetz gewählt worden (18. Kommission, Sten. Ber. 9. Leg.per., 1897, S. 4663). Im Rahmen der zweiten und dritten Verhandlungen sprach er für seine Fraktion am 5. April zur Lehrlingsfrage. Die Sozialdemokraten forderten, im Handelsgesetz eine ähnliche Bestimmung zu verankern, wie auch schon im Gewerbegesetz stand. Dadurch sollte der gängige (Miß-)Brauch im kaufmännischen Bereich verhindert werden, anstelle der unter gewissem Schutz stehenden Lehrlinge vorwiegend ‘jugendliche Arbeiter’ zu beschäftigen – angeblich für Botendienste. Tatsächlich waren sie für den Arbeitgeber billige kaufmännische Hilfskräfte (Sten. Ber. 1897, S. 5539ff.). Der Antrag der Sozialdemokraten scheiterte, ebenso die nächste Forderung, daß ein Lehrvertrag schriftlich abzufassen wäre. Nur eine Minderheit der Abgeordneten schloß sich der Argumentation an, daß die Regelungen, die für Handwerk und Gewerbe gesetzlich festgehalten wurden, nun auch auf den Handelsbereich zu übertragen wären. Der Reichstag zog es vor, die Kaufleute nach wie vor ‘mit Glacéhandschuhen anzufassen’ (Dietz). Den Rest des Antrags, in dem die Länge der Lehrzeit grundsätzlich auf drei Jahre festgeschrieben wurde, zog Paul Singer im Namen seiner Fraktion danach zurück (S. 5541).

In der dritten Lesung des Handelsgesetzes sprach Heinrich Dietz zur Regelung der Arbeitszeit: Acht Stunden längstens für Lehrlinge verlangte er, geregelte Dauer auch für Handlungsgehilfen, so daß diese etwa in Speditionsgeschäften nicht Tag und Nacht durcharbeiten müßten (Sten. Ber. 1897, S. 5587ff.). Obwohl es zur Kontrolle der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und für das Gewerbe bereits seit Jahren Inspektoren gab, fehlte diese Institution für den Handel noch immer.

Mitte Mai wurde Heinrich Dietz wieder schwer krank: „Ich kam hier mit einer ‘eitrigen Mandelentzündung’ an", schrieb er an Frau Liebknecht, „die mich fast 4 Wochen plagte und mir Höllenschmerzen verursachte". Er mußte sich auch im Reichstag entschuldigen und mehrfach um Beurlaubung wegen seiner Krankheit bitten (HD an Natalie Liebknecht, 4. 7. 1897, IML, NL Liebknecht 34/84; Sten. Ber. 1897, S. 5889ff.).

Bis zum Sommer 1897 hatte es gedauert, bis die Verhandlungen mit dem Parteivorstand abgeschlossen werden konnten: Der so lange formell Heinrich Dietz gehörenden Verlag wurde nun endlich in eine GmbH mit den Parteivorstandsmitgliedern August Bebel und Paul Singer sowie Heinrich Dietz als Gesellschafter umgewandelt (IISG, K D VIII, Br. 224). Heinrich Dietz wurde zum Geschäftsführer bestellt und verabschiedete sich am 8. Juli 1897 als selbständiger Verlagsbuchhändler und Buchdrucker von seinen Kunden (Vw 14[1897]Nr. 161, 14. 7.; HE 11[1897]Nr. 161, 14. 7.). Über das Leipziger „Börsen-blatt" teilte Heinrich Dietz seinen Geschäftsfreunden ‘ergeben’ mit: Die Verlagsbuchhandlung und Buchdruckerei J.H.W. Dietz Nachfolger wäre am 8. Juli 1897 in das Handelsregister eingetragen worden (Zirkular in den Akten des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Deutsche Bücherei <Leipzig>, Bl. 199). Die Geschäftsstelle des Börsenvereins veranlaßte die Veröffentlichung der Anzeige im Börsenblatt 1897, Nr. 357 (ebd., Bl. 198).

Ähnlich wurde mit dem Betrieb in Hamburg verfahren [August Bebel und Paul Singer meldeten in der Verwaltung des Reichstages an, sie würden als Mitinhaber der Firmen Auer & Co. in Hamburg sowie der Gesellschaft m.b.H. J.H.W. Dietz in Stuttgart des öfteren dorthin reisen müssen und baten um entsprechende Änderung ihrer Freifahrkarten (BA-Po, Nr. 14577 [P. Singer, 3.7.1898] und 14579 [A. Bebel, 26. 7. 1898]).] . Die Überschüsse der Firma flossen von diesem Zeitpunkt an zu je einem Drittel in die Parteikasse, an August Bebel und an Heinrich Dietz. „In der Veränderung der Dietz’schen Firma ist zum Ausdruck gekommen, was seit Jahren schon tatsächlich bestand, die Partei ist Teilhaberin und Miteigentümerin" [Bruno Schoenlank notierte dazu in seinem Tagebuch, daß vor der juristischen Umgestaltung des Verlages der Reingewinn jährlich ganz von der Partei abgeschöpft wurde. Heinrich Dietz zahlte nach Schoenlanks Berechnungen jeweils ca. 12.000 Mark (Mayer 1971). ] (AB an VA, 8. 8. 1897, Adler u.a. 1954, S. 239; Mayer 1971, S. 117).

In der Partei wurde diese Transaktion nicht allgemein bekannt gemacht. Selbst Karl Kautsky bekam von Heinrich Dietz nur ausweichende Antworten über Hintergründe für diese Veränderung. „Tatsache ist, daß niemand in Stuttgart weiß, welchen Zweck eigentlich die Umwandlung hat. Dietz macht darüber nur dunkle Redensarten, die gar nichts sagen." Selbst auf Kautskys besorgte Frage, was denn das für ihn selbst und die Herausgabe der „Neuen Zeit" mit sich brächte, beschied ihn Heinrich Dietz mit der knappen Antwort: „Es bleibt alles beim alten" (KK an VA, 7. 8. 1897, Adler u.a., 1954, S. 237).

Heinrich Dietz war immer noch nicht ganz gesund zu der Zeit, was seine knappe Antwort verständlich machte, obwohl er wieder einmal zu Kur gefahren war (vgl. HD an KK, August 1897, IISG, K D VIII, Br. 222f.). Karl Kautsky befürchtete, daß August Bebel und Paul Singer als Gesellschafter und als solche für die Verluste mit haftend, nun dafür sorgen würden, „die Defizitemacher „Neue Zeit" und „Gleichheit" aus der Welt zu schaffen." So hätte Heinrich Dietz zwar erreicht, was er wohl schon lange wollte, trüge dafür nach außen aber nicht mehr die unmittelbare Verantwortung (KK an VA, 7. 8. 1897, Adler u.a. 1954, S. 237).

1897 endlich fand der sozialdemokratische Parteitag zum ersten Mal nach Ende des Sozialistengesetzes in Hamburg – der Hochburg der Bewegung [„In Hamburg hat der Liberalismus vollkommen abgewirtschaftet [...]. Wo die Sozialdemokratie einmal ihren Fuß drauf gesetzt hat, da gibt es kein Zurück mehr; außerdem nennt man doch nicht umsonst Hamburg die Hochburg der Sozialdemokratie" (StAH, S 8320, Bd. 2, Vigilanzbericht 18. 5. 1903).] – statt. Heinrich Dietz kam aus Stuttgart und nahm Quartier im Waterloo-Hotel, gemeinsam mit Arthur Stadthagen aus Berlin sowie Bruno Schoenlank aus Leipzig. In seinem Hotel traf er auch den liberalen Redakteur Helmuth von Gerlach (StAH S 5800, Bd. 1, 4. 10. 1897). Heinrich Dietz nahm auf den Parteitagen selbst sehr selten das Wort [Nach seinem Einsatz als Versammlungsleiter 1890 in Halle setzte er sich nur 1900 einmal als Gutachter für seinen ‘Verlegerkollegen’ Richard Fischer aus der „Vorwärts"-Buchhandlung ein und argumentierte gegen die Kritik an dessen Gehalt (SPD-Protokoll 1900, S. 114, S. 117). Auf dem Parteitag in Jena 1905 wurde Heinrich Dietz wieder in eine Kommission gewählt. Sie befaßte sich mit der ‘Literaten-gezänk’ genannten innerparteilichen Kritik. Heinrich Dietz erstattete den Ergebnisbericht (SPD-Proto-koll 1905).] .

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4.1.6. Jahrhundertwende

In den ausgehenden 90er Jahren brachte Heinrich Dietz in den Briefen an Karl Kautsky immer wieder zum Ausdruck, daß er sich mit der Verlagerung des Parteizentrums nach Berlin nicht abfinden konnte. Auch Karl Kautsky war inzwischen nach Berlin übergesiedelt, erleichtert darüber, daß dort engerer Kontakt zum Parteivorstand möglich war, wenn es um die „Neue Zeit" ging. Sein Entschluß, Stuttgart zu verlassen, verbitterte Heinrich Dietz sehr. Sein Verleger könnte ihm „noch immer nicht verzeihen, daß ich nach Berlin gehe" schrieb Karl Kautsky am 7. 8. 1897 nach Wien. „Unser Verhältnis ist ein äußerst kühles geworden. Aber der Mann ist nervös, so kaputt, daß sich mit ihm überhaupt kein Mensch mehr auskennt" (an VA, Adler u.a. 1954, S. 238). Auch August Bebel registrierte bei Heinrich Dietz Unzufriedenheit: „Daß Dietz über sein Fortgehen Kautskys aus Stuttgart, agr. nicht erbaut ist, nehme ich ihm nicht übel, er hat nur mehr Arbeit dadurch und wird noch isolierter, als er schon ist", Bebel verhinderte den Umzug aber nicht, „was Dietz mir sehr übel nahm", schrieb August Bebel an Victor Adler (8. 8. 1897, Adler u.a. 1954, S. 238).

Heinrich Dietz hatte mittlerweile Franz Mehring mit der Abfassung einer Geschichte der Sozialdemokratischen Partei beauftragt. Franz Mehring war als Autor nicht unumstritten, er genoß keine großen Sympathien. August Bebel sah deswegen voraus, er würde recht schnell ‘Krakehl’ mit ihm bekommen, wenn Mehring so weitermachte [Tatsächlich bekam Mehring schließlich auch mit Heinrich Dietz – und nicht nur diesem – einen derartigen Streit, daß Karl Kautsky später hoffte, damit würde das Band zwischen den beiden nun endgültig zerrissen sein (KK an VA, 26. 1. 1914, Adler u.a. 1954, S. 588).] . Einer seiner Artikel in der „Neuen Zeit" hätte ihn (Bebel) zu einer „gepfefferten Antwort ‘begeistert’, die mir aber Dietz konfiszierte" (AB an JM, 21. 10. 1897, IML, NL Motteler, 12/13).

Mehrfach wurde Heinrich Dietz auch in diesen Jahren zur Regelung der parteieigenen Druckgeschäfte herangezogen, beispielsweise anläßlich eines Verkaufs der Offenburger Druckerei des „Volksfreundes" an die badische Landesorganisation in Karlsruhe (vgl. Haselier 1967; Dittler 1982). Anfang Januar 1895 war August Bebel schon ‘wegen der Ordnung einer Parteiangelegenheit’ nach Offenburg gereist. Heinrich Dietz sollte auch dazukommen (AB an FE, 18. 12. 1894, Bebel/Engels 1965, S. 789). Lange Zeit war eine Umwandlung des Geckschen „Volksfreund"-Verlages in ein Unternehmen der Partei und die Verlagerung nach Karlsruhe in der Diskussion gewesen. Diese Angelegenheit schloß erst Ende 1897 mit der Übertragung auch dieses Verlages an die Partei ab (Haselier 1967). Heinrich Dietz hatte sein zunächst gegebenes Angebot, die Druckerei selbst zu kaufen, wieder zurückgezogen (HD an AG, 27. 11. 1897, JM an AG, 12. 2. 1898, BGLA, NL Geck Nr. 441; AB an AG, 17. 1. 1898, IML, NL Bebel, 22/124). Geck wäre es am liebsten gewesen, wenn Heinrich Dietz das Geschäft übernommen hätte (Haselier 1967, S. 368). An diesen aber waren zu der Zeit zu viele Gesuche um Anstellung und Unterstützung herangetragen worden. Heinrich Dietz konnte – und wollte – sich nicht weiter engagieren [Mit August Bebel und Paul Singer sollte Heinrich Dietz sich 1905 um die Ordnung der ‘Straßburger Geschäftsangelegenheiten’ kümmern (AB an AG, 15. 6. 1905, IML, NL Bebel, 22/125). Die Inanspruchnahme reichte so weit, daß Victor Adler Heinrich Dietz 1899 sogar um einen Besuch in Wien bat, damit dieser die Lage seines Geschäftes begutachten könnte (HD an VA, 10. 4. 1899, in: IML I 6/2/58). Heinrich Dietz lehnte aber ab.] (JM an AG, ebd.).

Nicht immer machte Heinrich Dietz seine Vermittlertätigkeit im Dienste des Parteivorstandes Freude. Er tat sein Möglichstes, um die Nürnberger Parteigenossenschaft ‘vor dem Ersaufen zu retten’. Anstelle ihre Gegnerschaft zur „Neuen Zeit" nun einzustellen, wie er erwartete, fand er sie undankbar: „Sie hat mich dafür in die Hand gebissen [...] Die Nürnberger sind geborene Streithämmel sic und Kirchturmspolitiker. Alles für sich, für andere nichts. Das ist so üblich dort seit 30 Jahren" (HD an KK, 14. 7. 1910, IISG, K D VIII, Br. 450).

4.1.6.1. Der Streit um den ‘Revisionismus’

1898 fand der Sozialdemokratische Parteitag vom 3. bis 8. Oktober in Stuttgart statt. Wie viel sich dort seit dem Ende des Sozialistengesetzes verändert hatte, kam deutlich zum Ausdruck: Das Ortskomitee konnte sogar seine Gäste und Delegierten im Stuttgarter Bahnhof – im exklusiven Wartesaal der 1. Klasse – empfangen. Dieser Raum stand sonst nur den Angehörigen des württembergischen Hof zur Verfügung (Eppe 1987). Die Stadt gehörte am Tag der Begrüßung den Sozialdemokraten. Im festlich geschmückten Zirkusbau am Marienplatz versammelten sich etwa 4.000 Menschen zur Eröffnungsfeier (Keil 1947, S. 167).

Auch Heinrich Dietz nahm an dem Parteitag teil, auf dem erstmals öffentlich Eduard Bernsteins in der Partei kursierende Ansichten über die zukünftigen Ziele der Sozialdemokratischen Partei diskutiert wurden [Eduard Bernstein hatte Anfang August Bebel in Zürich getroffen und war danach offenbar der Meinung, dieser stände auf seiner Seite (AB an KK, 9. 9. 1898, Bebel/Kautsky 1971, S. 110).] (SPD-Protokoll 1898). Verschiedentlich hatten sich Parteigenossen vorher um eine Annäherung an Bernstein bemüht – aber vergeblich. Heinrich Dietz hatte es ebenfalls versucht: „Ede ist ein ganz guter Kerl, der sich jetzt nicht geniert, die Wahrheit zu sagen" (HD an KK, 21. 1. 1898, IISG, K D VIII, Br. 229). „Wenn ich persönlich etwas dazu beitragen kann, Bernstein für uns zu erhalten, so soll das geschehen" (23. 6. 1898, Br. 236), Heinrich Dietz wollte mit August Bebel und Paul Singer sprechen, als er im Sommer mit Kautsky und Bebel in Zürich zusammentraf, vielleicht wäre es doch noch möglich, mit Bernstein ins Gespräch zu kommen. Aber Heinrich Dietz sah schon voraus: „Bernstein ist nicht mehr zu bekehren" (ebd.). Auch Bebel und Kautsky suchten den Kontakt zu Bernstein, hatten aber Zweifel, wie sich Heinrich Dietz verhalten würde: „Ob wir dabei auch mit Dietz zu etwas kommen werden, weiß ich nicht. Er ist unberechenbar" (AB an KK, 3. 9. 1898, Bebel/Kautsky 1971, S. 108).

Dennoch verlegte Heinrich Dietz die von der offiziellen Parteilinie abweichenden Thesen Eduard Bernsteins, ‘damit sie in die Öffentlichkeit kamen’ [„Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" erschienen 1899 (ESZ 1981, A 178).] . Ebenso erschien eine Entgegnung von Karl Kautsky in Stuttgart, Heinrich Dietz ermunterte diesen geradezu: „Le-gen Sie Ihre Archilleslanze ein und sprengen Sie in die Arena. Ohne zu schmeicheln sind Sie doch der Berufensten einer, der nebenbei die Verpflichtung hat, in dieser Sache zu sprechen. Der Verlag steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung" [1899 gab es zum Parteitag in Hannover einen Separatabdruck von Karl Kautskys kritischem Artikel über die Ansichten seines Freundes: „Bernstein und das Sozialdemokratische Programm, eine Antikritik" (ESZ, A 178 u. A 181).] (HD an KK, 8. 3. 1899, IISG, K D VIII, Br. 251). In diesem Falle ging Heinrich Dietz mit der offiziellen Parteilinie, hielt aber doch seine Hand über Eduard Bernstein, denn er war wohl einer der wenigen, die noch Einfluß auf Bernstein hatte (KK an VA, 10. 4. 1899, Adler u.a. 1954, S. 313): „Ob es mir möglich ist, Bernstein zu überzeugen, daß er freiwillig aus der Neuen Zeit und damit aus der Partei auszuscheiden hat (darauf kommts hinaus), das bezweifle ich. Meine Freundschaft, oder richtiger, meine Pflicht als langjähriger ‘Arbeitgeber’ Bernsteins – zwingt mich, Mittel und Wege zu suchen, um Bernstein in anständiger Form aus der Misère zu befreien, in die ich ihn nicht hineingebracht habe" [1899 wurde nach Bernsteins Ausscheiden Heinrich Cunow zum zweiten Redakteur der „Neuen Zeit" bestellt (Engels/Bebel 1955, S. 453ff.).] (HD an KK, 20. 3. 1899, IISG, K D VIII, Br. 253).

Eine Unterredung zwischen Bernstein und Heinrich Dietz fand erst im April 1900 in Vlissingen statt. Dabei stimmte Bernstein der Ansicht zu, „daß er Bernstein, agr. der Sache ein Ende machen müßte" (HD an KK, 31. 8. 1909, IISG, K D VIII, Br. 430).

Julius Motteler lieferte später eine weitere mögliche Erklärung für die Differenzen, die hier auf theoretischer Ebene ausbrachen, nämlich: Als er wieder einmal aus Berlin zurückkam, machte er gegenüber Clara Zetkin seinem Unmut Luft, in der Fraktion und Partei hätte er nur ‘starren, hochnäsigen Bürokratismus’, keine den Sozialdemokraten angemessene ‘warme Menschlichkeit, lebendige sozialistische Brüderlichkeit’ erlebt, lediglich ‘parlamentarischen Kretinismus in Reinkultur, Zynismus, der nichts und nicht einmal sich selbst ernstnahm, Routine herrschte vor, kein entschlossener Kampfeswille mehr [In seiner Schlußfolgerung irrte Julius Motteler aber sehr: „Die Sozialdemokratie wird revolutionär sein, oder sie wird nicht sein!" (ebd.)] (Zetkin 1958, zit. in Pospiech 1977, S. A 62). Heinrich Dietz versuchte auf seine Weise, den politischen Konflikt durch Vermittlung abzumildern, konnte aber die Trennung von Bernstein schließlich nicht verhindern.

Die Geschäftslage in Stuttgart verschlechterte sich zum Ende des Jahrhunderts noch weiter: „Es ist eine entsetzliche Flauheit in den Kreisen eingetreten, die unsere Bücher sonst zu kaufen pflegen. Wie mag das noch enden" (HD an KK, 30. 5. 1900, IISG, K D VIII, Br. 280), klagte Heinrich Dietz wieder einmal. Bereits 1899 waren deswegen die Pläne abgeschlossen, wonach der Stuttgarter Verlag gänzlich in den Besitz der Partei übergehen sollte. „Dann", schrieb August Bebel an Adolf Geck, „bekommt die Partei ein Geschäft, das die Verlagswerte eingerechnet zwischen Brüdern 300 – 400.000 Mark wert ist und ohne Entschädigung. Dietz wird angestellter Leiter und ich werde Beistand" (17. 10. 1899, IML, NL Bebel, 22/124).

Heinrich Dietz hatte schon in resigniertem Ton festgestellt, der Parteivorstand vernachlässigte die wissenschaftliche Literatur, sein Verlag wäre überhaupt nur noch geduldet. „Ich muß mich mit der ganzen Welt herumschlagen, angewidert, angefeindet, meine Mitarbeiter in der ganzen Welt verstreut" (HD an KK, 23. 6. 1898, IISG, K D VIII, Br. 236). „Mir ist seit einigen Jahren alles dermaßen verhagelt", entschuldigte er sich und sein Benehmen deswegen bei Frau Liebknecht, „daß ich auch im gesellschaftlichen Verkehr den Schliff vermissen lasse, der als wohlerzogen gilt" (23. 12. 1901, IML, NL Liebknecht, 34/84). Trotzig stellte er fest: „Das Parteileben ist schön aus der Entfernung. Je mehr Kilometer dazwischen liegen, umso schöner erscheint es" (27. 7. 1898, Br. 241). Er sparte seinerseits gar nicht mit schonungsloser Kritik oder Urteilen über seine Parteigenossen: „Mit Parvus und Schönlank e tutti quanti wird kein Mensch fertig. Jetzt kommen die schönen Tage von 1872 – 1875 wieder: Jeder Parteigenosse ist ein Spitzbube oder Verräter, sobald er schreibt oder doch wenigstens einen ordentlichen Rock auf dem Leibe trägt. Gesegnete Mahlzeit" (HD an KK, 29. 3. 1989, IISG, K D VIII, Br. 233). Über den ‘Filz’ in der SPD spottete Heinrich Dietz: „Alles ist versippt und verschwägert, und die Nerven des Parteikörpers durchziehen diesen in so wunderbarer Weise, daß, in München ein Endchen gezwickt, in Apenrade ein Schmerz entsteht" [Auffällig ist ohnehin, wie unbekümmert offen sich die Sozialdemokraten generell in ihren Briefen übereinander äußerten, auch wenn sie mit dem gerade Kritisierten in engem Briefkontakt standen oder sogar als befreundet galten. ] (an KK, 6. 11. 1903, IISG, K D VIII, Br. 334).

Wenn in diesen schlechten Geschäftsjahren nur der „Wahre Jacob" weiterhin noch Gewinne liefern würde, so hoffte Heinrich Dietz, denn der wäre noch die einzige ‘Milchkuh’ des Verlages! Deswegen war es für ihn so wichtig, Anfang 1900 einen wirklich geeigneten Redakteur zu finden, als Georg Baßler starb: „Baßler ist gestern abend 9 Uhr gestorben. Wer soll für die „Neue Zeit", agr. zeichnen? Cunow?" Das war die erste Sorge [Georg Baßler hatte die Redaktion des W.J. von 1890 bis 1900 geführt, er starb am 16. April 1900 nach längerer Krankheit. Aus diesem Brief und den Nachrufen (u.a. in der „Schwäbischen Tagwacht", im W.J., „Hamburger Echo" und im „Vorwärts" [dort am 19. 4. 1900], sehr knapp in der „Neuen Zeit" [18 (1899/1900), Bd. 2, Nr. 30, S. 96]) ging hervor, daß Baßler zumindest für die „Neue Zeit" lediglich als Sitz-Redakteur fungierte (vgl. auch Ege 1992). Seine Nachfolge übernahm tatsächlich Heinrich Cunow vom nächsten Heft an (NZ 1900, ebd.). Die Überlegung im Februar 1900, wer geeignet wäre, die Redaktion des „Wahren Jacobs" zu übernehmen, wies auf Baßlers nicht nur formale Funktion beim Parteiunterhaltungsblatt hin (HD an KK, 17. 2. 1900, IISG, K D VIII, Br. 271). Berthold Heymann übernahm mit Erfolg 1901 Baßlers Nachfolge (vgl. Ege 1992).] (HD an KK, 17. 4. 1900, IISG, K D VIII, Br. 277). „Diese Lage ist einfach scheußlich, sie verbittert mir seit einer Reihe von Jahren damit das Leben, daß ich oftmals mich nach einem Verbot à la Sozialistengesetz sehnte. Mit einem solchen Totschlag war häufig vielen geholfen" (HD an KK, 17. 2. 1900, IISG, K D VIII, Br. 271).

Noch im Sommer 1900 verteidigte Heinrich Dietz die Arbeiter in seinem Hamburger Wahlkreis gegen die Angriffe Kaiser Wilhelms II. In einer der sechs von den Sozialdemokraten veranstalteten Protestversammlungen zum Thema ‘Die ehrlosen, vaterlandslosen Gesellen in Hamburg’ griff Heinrich Dietz insbesondere die Werftbesitzer an, die die arbeitswilligen Werftarbeiter ‘auf das Straßenpflaster geworfen’ hätten. Wenn der Kaiser nicht von interessierter Seite – zum Beispiel durch den Reeder Ballin – falsch informiert worden wäre, meinte Heinrich Dietz, hätte der Kaiser bestimmt solche umstrittene Äußerung gar nicht getan: „Wehe den falschen Ratgebern, die dem Kaiser das böse Wort zugeflüstert haben!" (zit. nach HE 14[1900]Nr. 189, 16.8., vgl. auch StAH S 8220).

Heinrich Dietz war nicht der Mann, der die ganz großen Säle füllte. Er gehörte „bekannt-lich nicht zu den besten Rednern in der Partei", seine Ausführungen bewegten sich – nach Meinung der „Hamburger Nachrichten" – „in dem althergebrachten Geleise" (HN 15. 8. 1900). Eher geschmeichelt sein dürfte die Darstellung im „Hamburger Echo", wonach er seine Zuhörer ‘durch seine trefflichen Ausführungen in hohem Maße gefesselt’ hätte (HE 13[1899]Nr. 102, 3. 5.). Wenn er zu den Reichstagswahlen nach Hamburg kam, saßen in seinen Versammlungen zwischen 300 und 1.200 Personen, die ihn und die Internationale Sozialdemokratie am Ende hochleben ließen [Vgl. hierzu die entsprechenden Überwachungsberichte. August Bebel zog zur selben Zeit mehrere tausend Menschen an; die Säle waren frühzeitig so überfüllt, daß sehr viele Interessenten enttäuscht verzichten mußten. 1903 konnte Bebel wegen völliger Überanstrengung nicht kommen, und deswegen sprach Heinrich Dietz für ihn (StAH S 8320, Bd. 2).] und dann unter Absingen der (Arbei-ter-)Marseillaise geordnet den Saal räumten (StAH S 13170, Bd. 4). Im „Hamburger Echo" wurden schon mal wesentlich mehr Teilnehmer gemeldet, als die immer noch interessiert überwachende Polizei registrierte, zum Beispiel anläßlich einer Rede Anfang März 1901 über die Erhöhung der Getreidezölle in Tütges großem Saal. Der Polizeibericht sprach von ca. 1.000 Personen, das „Echo" meinte, 3.500 Menschen beim Protest gegen den ‘Brot-wucher’ getroffen zu haben (HE 15[1901], Nr. 54, 5. 3.).

Zum letzten Weihnachtsfest des alten Jahrhunderts verabschiedete Heinrich Dietz sich dann von Karl Kautsky sehr pessimistisch, weil die (kolonial-)politische Lage immer kriegerischer wurde: „Vale. Das alte Jahrhundert geht zu Ende. In Deutschland hat man auf die Zipfelmütze den Tropenhelm gestülpt. Literatur- und Kunstfatzkes sind Trumpf" (HD an KK, 24. 12. 1900, IISG, K D VIII, Br. 289).

4.1.6.2. Auseinandersetzungen um den Marx-Engels-Nachlaß

Die Vorarbeiten am Nachlaß von Karl Marx und Friedrich Engels waren inzwischen so weit gediehen, daß die SPD jetzt konkret an die Herausgabe eines Teils des Briefwechsels dachte. Eine mehrjährige Auseinandersetzung zwischen den an der Bearbeitung der Briefe Beteiligten sowie den Erben begann. Laura Lafargue baute bei der Bearbeitung ganz stark auf Heinrich Dietz’ Hilfe und wandte sich in diesen Angelegenheiten häufig an ihn (vgl. die Korrespondenz im IISG, M-E-Dossier). Als Verleger – der auch die Finanzierung zu besorgen hatte – wurde Heinrich Dietz von allen Seiten in die Streitigkeiten hineingezogen.

Offenbar hatte Richard Fischer versucht, die Herausgabe des Briefwechsels über Ferdinand Lassalle dem Berliner „Vorwärts"-Verlag zu sichern, und warf Heinrich Dietz danach vor, dieses Vorhaben zu hintertreiben. Verärgert beschwerte der sich im Juli 1900 beim Parteivorstand: „Von einer Hinderung der Buchhandlung Vorwärts an der Herausgabe der Lassalle-Ausgabe kann keine Rede sein. Ich treibe derartigen Sport nicht, wüßte auch von früheren Abmachungen nichts" (AdSD, Kleine Korr. Dietz). Laura Lafargue hatte Richard Fischer gar nichts dergleichen versprochen: „I understood that it was a settled matter that Dietz should publish the Lassalle letters as well as the 4th volume and the volumes of the miscellaneous writings of Marx. I, therefore, do not see why you should ask me to choose between Dietz and Fischer" [Zur endgültigen Veröffentlichung der Briefe vgl. u.a. Herrmann 1989, zum Schicksal des Nachlasses von Karl Marx und Friedrich Engels vgl. Mayer 1966. Die vier Sammelbände „Aus dem literarischen Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle" wurden von Franz Mehring herausgegeben und erschienen 1902 in Stuttgart (ESZ A 218). Viele Jahre später gab es sogar eine Anfrage aus Amerika, ob Teile des Briefwechsels in das Jiddische übersetzt werden könnten. Eduard Bernstein war eigentlich einverstanden, Amerika bot schließlich einen ‘Riesenmarkt für jiddische Literatur’. Merkwürdig fand er es aber doch: „Warum nicht auch ins Oberbayrische übertragen oder ins Waterkantsche?" Der Gedanke aber, „ihre Briefe ins Jiddische übersetzt zu bekommen, [würde] Marx und Engels in Lachkrämpfe versetzen" (EB an HD, 8. 2. 1921, IISG, M/E-D.).] (Laura Lafargue an KK, 27. Juli 1900, IISG, NL Kautsky, K D XV 15 zit. in Bebel/Kautsky 1971, S. 129, FN).

An dieser Stelle soll der Konflikt nur angedeutet werden, der mit der Bearbeitung der Briefe einherging: Eduard Bernstein hatte nichts gegen „Streichungen grob das ästhetische Empfinden verletzender Worte oder Stellen", gab aber zu bedenken, „daß das nicht über die Grenze hinaus gehen darf, die durch die Pflicht der literarischen Treue gezogen ist. Die Briefe rühren von Leuten, die eine derbe Ausdrucksweise liebten, und diese Derbheit muß ihnen bleiben [...], und gerade in der Vertrautheit der beiden Verfasser liegt ein Stück vom Reiz ihres Briefwechsels. Es ist eben nicht Schiller, der an Göthe sic, oder Wilhelm von Humboldt, der an Forster oder Jacobi schreibt [...] Also retuschieren wir, [...] daß wohl die Pickeln weggehen, aber die Stelle bleibt" (EB an HD, 12. 10. 1910, IISG, M/E-D.). Heinrich Dietz dagegen war sich ganz sicher, die Interessen von Karl Marx und Friedrich Engels zu vertreten: „Ich kann nicht die Hand dazu bieten, daß hochachtbare Personen in einer Weise bloßgestellt werden, wie Marx es nie gestattet haben würde. Wenn man an Freunde sich brieflich oft recht drastisch ausdrückt, so ist das etwas anderes, als diese Kritiken vor aller Öffentlichkeit mit seinem Namen zu verantworten. Soweit ich sehe, sind [...] Stellen in den Briefen vorhanden, die als persönliche Beleidigungen aufgefaßt werden. Diese Stellen sind zu streichen" (HD an Friedrich Adolph Sorge, 12. 2. 1900, IISG, K D VIII, Anlage zum Br. 270).

August Bebel sah das ähnlich und äußerte Karl Kautsky gegenüber seine Meinung: „Ne-benbei will ich dir sagen – bitte aber streng zu verschweigen -, daß etliche Briefe überhaupt nicht abgedruckt wurden, weil sie uns zu haarig waren. Die beiden Alten haben damals eben eine Art gehabt, Briefe zu schreiben, mit der ich mich überhaupt nicht befreunden kann" (AB an KK, 7. 2. 1913, Bebel/Kautsky 1971, S. 328f.). So erschien konsequenterweise eine ‘bereinigte Fassung’, Heinrich Dietz hielt diese Position durch: „Es ist auch alles aus den Engelsschen Briefen entfernt worden, was Anstoß erregen könnte" (HD an KK, 3. 9. 1906, Br. 386).

Laura Lafargue bestätigte ausdrücklich, daß sie ihr Einverständnis mit der Veröffentlichung ohne Heinrich Dietz’ Vermittlung überhaupt nicht gegeben hätte (LL an HD, 15. 10. 1910, IISG, M/E-D. [Vgl. hierzu auch AB an D. Rjasanov, 17. 4. 1913, IML, NL Bebel, 22/127; desgl. vgl. Briefwechsel zwischen Heinrich Dietz und Victor Adler (Adler u.a. 1954). ] ). Eduard Bernstein war anfangs eher etwas verwundert, daß Heinrich Dietz sich so sehr engagierte. Bernstein hatte erwartet, der Verleger würde lediglich Kenntnis nehmen. Später aber schlug auch Eduard Bernstein vor, bei so viel redaktioneller Arbeit sollte Heinrich Dietz als Mitherausgeber genannt werden (EB an HD, 15. 2. 1911 u. 30. 8. 1912, IISG, M/E-D.).

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4.1.7. „Was tun?" und andere russische Bücher

Schon 1887 war in der „Internationalen Bibliothek" als Band 4 eine Übersetzung aus dem Russischen herausgegeben worden [Es handelte sich um den schon erwähnten Text „Die ländliche Arbeiterfrage" von Nikolai Alexeevic Kablukov (vgl. Kap. 3.7.6). Angaben in diesem Abschnitt nach der Bibliographie von Emig/Schwarz/ Zimmermann (1981). Zum Verhältnis der deutschen und der russischen Sozialdemokratie in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vgl. z.B. Bartel 1970 und Wollschläger 1975.] . Danach publizierte Heinrich Dietz weitere Bücher von russischen Autoren: 1893 die von Viktor Adler übersetzte Schrift „Der russische Bauer" von Sergej Michailovic Stepnjak (IB Bd. 15), ein Jahr später, wiederum in der „In-ternationalen Bibliothek", die Studie über Cernysevskij (Bd. 20) sowie „Beiträge zur Geschichte des Materialismus" von Plechanov (Bd. 29). Mit einem Beitrag von Andrej A. Isaev [„Zur Politik des russischen Finanzministeriums seit der Mitte der achtziger Jahre", 1898.] war Heinrich Dietz gar nicht zufrieden: „Was nun Issaieff betrifft, so bedauere ich, mich darauf eingelassen zu haben. Das Buch hätte in unserem Verlag das Licht der Welt nicht erblickt, wenn ich es vorher gelesen hätte. Es ist konfus. [...] Zur Trödlerbude soll der Verlag nicht herabsinken" (HD an KK, 21. 3. 1901, IISG, K D VIII, Br. 291).

1901 erschien im Stuttgarter Parteiverlag der erste Text in russischer Sprache, nachdem Heinrich Dietz für seine Druckerei einen Satz kyrillischer Buchstaben angeschafft hatte: „Autokratie und Semstwo" [Vgl. Emig/Schwarz/Zimmermann 1981, A 203. Dort wurde in der redaktionellen Einführung als erster russischer Titel „Was tun" genannt.] . Bis 1902 verlegte er auch vier Nummern der Zeitschrift „Zarja", herausgegeben von Plechanov, Zasulic und Aksel’rod.

Die Zusammenarbeit zwischen den russischen Sozialisten und ihren deutschen sozialdemokratischen Genossen – insbesondere der Kontakt zu Lenin – gestaltete sich aber keinesfalls so glatt, wie das in den späteren Aufsätzen und Erinnerungen dargestellt wurde. Schon 1886 hatte Heinrich Dietz – während der Bearbeitung der ‘literar-historischen Studie’, als die Plechanovs Cernysevskij-Biographie bezeichnet wurde (sie erschien dann als Nr. 20 in der „Internationalen Bibliothek") – Karl Kautsky ermahnt: „Mit Plechanoff und Axelrod seien Sie nur in Betreff ‘Tschernyscheffsky’ recht vorsichtig. Die verdammten Russen richten überall Unheil an" (HD an KK, 10. 10. 1886, IISG, K D VIII, Br. 136).

Heinrich Dietz verzögerte die den Russen schon 1900 zugesagte Herausgabe der „Zarja" ständig. Und als die Suche nach einem geeigneten Verantwortlichen sehr viel Zeit in Anspruch nahm, traten deutliche Spannungen auf: „Diese verflixten Deutschen speisen uns mit Versprechungen ab", machte sich Lenin in einem Brief an Aksel’rod Mitte Oktober 1900 Luft, „ach! ich könnte sie!" (18. 10. 1900, Lenin 1967, S. 51). Zusätzliche Bedenken hielten das Erscheinen noch länger auf: „Von Dietz kam ein Brief [...], ob nicht überhaupt eine Geheimdruckerei besser wäre?! Wir sind von dieser Nachricht des Idioten Dietz wie vor den Kopf geschlagen" (VIL an PBA, 27. 2. 1901, Lenin 1967, S. 87). Vladimir Il’ic Lenin kam deswegen voller Zorn eigens nach Stuttgart, und es gab ein ernsthaftes Zerwürfnis mit Heinrich Dietz. „Dieser kapriziöse Herr Dietz" (Lenin, S. 89) hatte zwar zugesagt, einen mit dem russischen Alphabet vertrauten und eingearbeiteten Setzer (das war Blumenfeld) einzustellen, schließlich aber den Abdruck des Herausgeberartikels verweigert und sogar die Mitverantwortung der russischen Sozialisten aus dem Impressum gestrichen: „Furchtbar unangenehm, diese neue Zensur. [...] Wann endlich werden wir uns von der Bevormundung durch diese Dreck-Genossen befreien?!" [In dem zitierten Brief von V. I. Lenin an Aksel’rod stand das Wort ‘Dreck-Genossen’ auf deutsch. Immerhin aber wickelten die russischen Sozialisten lange Zeit ihren Schriftverkehr über die Stuttgarter Furtbachstraße ab (Lenin 1967, S. 94ff.; StA Stg., Pressearchiv, Mappe Lenin).] (VIL an PBA, 20. 3. 1901, Lenin 1967, S. 89; Höpfner/ Schubert 1980, S. 91ff.; StA Stg., Pressearchiv, Mappe Lenin).

Auf die ‘Dreck-Genossen’ blieben die russischen Sozialisten noch eine Weile angewiesen. Im Stuttgarter Verlag erschien 1902 die erste russische Ausgabe von Lenins programmatischer Schrift „Cto delat?" („Was tun?", Lohse 1970). Diese Veröffentlichung blieb nicht die letzte russische Ausgabe im Stuttgarter Sortiment. Noch 1902 übernahmen die deutschen Sozialdemokraten in Stuttgart auch die Zeitschrift „Osvobozdenie" (insgesamt 55 Nummern bis 1904), als der liberale Schriftsteller Struve keinen anderen Verlag fand (u.a. Heymann 1930), sowie noch einen weiteren Titel von Isaev, die „Socialpolitischen Essays". Auch später hätte Heinrich Dietz gern mehr russische Texte verlegt: „Ich bin noch einigen guten russischen Büchern auf der Spur. In Deutschland schreibt kein Mensch mehr etwas für unseren Verlag. Da muß das Ausland herhalten" (HD an KK, 15. 2. 1907, IISG, K D VIII, Br. 390). Der Verlag gab aber 1906 im Zuge der Reorganisation die Veröffentlichungsrechte der russischen Titel an J. Ladyschnikov in Berlin ab (ESZ 1981, S. 21).

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4.1.8. 25 Jahre Reichstagsabgeordneter

Heinrich Dietz wurde immer wieder zum Abgesandten der Parteiführung ernannt, wenn es galt, Streit in der Partei beizulegen. 1902 zum Beispiel gehörte er zu einer Kommission aus Mitgliedern des Parteivorstandes, der Kontroll-Kommission, Delegierten der Fraktion und der Frauenorganisation zur Schlichtung der Differenzen mit ‘Berliner Genossinnen und Genossen’ des 6. Berliner Wahlkreises über die Finanzierung der Parteiangestellten (Fraktion, S. 81; SPD-Protokoll 1902, S. 113, 115).

Für die Übernahme derartiger Funktionen in der Partei muß ihn sein meist freundliches, aber sehr bestimmtes und selbstbewußtes Auftreten empfohlen haben – Heinrich Dietz konnte offenbar nichts so sehr leicht aus der Ruhe bringen, wenn er sich als Gesandter der Partei begriff. Andererseits könnte der Norddeutsche auch phlegmatisch gewesen sein. Die Selbstsicherheit könnte auch Züge einer Selbstgefälligkeit angenommen haben, so wie eine – positive – Fähigkeit zum Ausgleich mit einem sehr starken Harmoniebedürfnis [Läuter nannte das Opportunismus (1965, S. 117 u. 124).] und dem Wunsch nach Anerkennung seiner Bedeutung in der Partei interpretiert werden könnte [Die Durchsicht der Parteitagsprotokolle ermöglicht durchaus eine solche Interpretation. Vgl. dazu z.B. Bremen 1904 [SPD-Protokoll 1904, S. 150, 192, 319ff.], auch Magdeburg 1910, als ihm die Verhandlungsführung aus den Händen zu gleiten schien [1910, S. 225, 307 – gegen Rosa Luxemburg - , 317 und 376f.]). Während der württembergischen Versammlungen gelang es ihm zunehmend weniger, die Streitenden zu beschwichtigen (dazu siehe weiter unten).] . Heinrich Dietz konnte – möglicherweise aus Unsicherheit, zu Beginn durch mangelnde Erfahrung und Souveränität, später mit einem selbstzufriedenen Habitus – sehr rigide auftreten. Nach dem Eklat bei den Debatten über die Dampfersubventionen hatte sich Heinrich Dietz nicht noch einmal öffentlich und explizit für eine Richtung in der Partei ausgesprochen. Er galt deswegen wohl als ‘neutral’ aus der Sicht der Mitglieder. Der Partei-Vorstand seinerseits schätzte Heinrich Dietz als loyal.

Im Laufe der Zeit kam ihm zugute, daß er Konktakt auch zu Abgeordneten anderer Fraktionen, zu Angehörigen bürgerlicher Kreise hielt. Bei diesen Herren war Heinrich Dietz als solider Kaufmann anerkannt, man holte sich Rat bei ihm, ohne daß er viel von sich Redens machte: „Er hatte viele Menschen, auch im bürgerlichen Lager, die sich ihm verbunden fühlten und, ohne daß es nach außen irgendwie bekannt wurde, seinen Rat einholten: Industrielle, ehe sie Reformen oder Arbeitszeitverkürzungen in ihren Betrieben einführten oder Ärzte in führenden Stellungen im Kampf gegen Volkskrankheiten", berichtete seine Enkelin. „Mancher von ihnen saß abends in Großvaters Bibliothek und besprach sich mit ihm." So war es „ihm möglich, auch dort zu wirken, wohin er sonst als reiner Parteivertreter nicht gedrungen wäre" (Geiger-Hof 1963, S. 41).

Zu den Wahlen 1903 sprach Heinrich Dietz in Hamburg auf einer Volksversammlung. Etwa eintausend Menschen hatten sich im Juni versammelt, um seine Rede über die Getreidezölle und den Brotwucher anzuhören (StAH S 8320, Bd. 2, Bericht vom 15. 6. 1903). Die Hamburger Genossen wurden von O. Hamann mit einem Gedicht unter dem Titel „Slechte Tiden" zum eifrigen Wahlkampf angefeuert:

„Dat is’n Leben op de Welt!

Man hett sien Dag ok niemals Geld,

Man ward sien Leb’n selten froh,

Man vegetiert dorhen nur so;

Arbeitsgelegenheit is nich,

Und wo se is, is halve Schicht.

De Welt, mit all’n wat besteht,

Weur wert, dat se vergeiht!

Doch en Trost steiht uns noch bevor,

De Reichdagswahl ist all fief Johr.

Denn sünd wie all to Hand sofort,

To spöl’n den Unrat öber Bord!

Wie rott em ut mit Steel und Stump,

Dit Johr is Rot besonners Trumpf.

Wenn bloß de Welt so lang noch steiht,

Un nicht noch eher vergeiht!" [Veröffentlicht in: „Bruder Schmied", Nr. 24, vom 13. 6. 1903 (in StAH S 8320, Bd. 2).]

Am 26 Oktober 1906 konnte Heinrich Dietz auf 25 Jahre Tätigkeit als Reichstagsabgeordneter zurücksehen (Landau 1907, S. 61). Er gehörte in seiner Fraktion immer zur Gruppe der ‘Gemäßigten’, stimmte zum Beispiel 1904 nicht gegen Mittelbewilligungen zur Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Südafrika (Dokumente und Materialien 1967, S. 111f.). Seine Stärke war nicht die packende Rede im Plenum, sondern man schätzte seine Mitarbeit in den Kommissionen, in der Fraktion und der Ausschüsse, schrieb Heymann (1930).

Die Sozialdemokraten des II. Hamburger Wahlkreise veranstalteten zu Ehren ihres Jubilars ein ‘ernstes und würdiges’ Fest. Im ‘parteihistorischen Tütgeschen Etablissement’ brachten Liedertafeln an diesem Abend auch die ‘Internationale’ zu Gehör, bedacht mit stürmischem Beifall und da capo-Rufen. Ein von Gustav Stengele verfaßter neunstrophiger ‘Prolog’ würdigte den Abgeordneten, der vor 25 Jahren die Kandidatur und, „nicht eigener Neigung, aber dem Gebot der Pflicht folgend in harter Zeit auf den Ruf der Partei die Stellung in vorderster Reihe übernommen" hatte (Echo 1906):

„Ein Platz ward leer, ein Posten wurde frei!

Da war kein lang Besinnen, keine Wahl.

‘Tritt vor! Der rechte Platz dem rechten Mann,

der sich bewährt im Kampf und in Gefahr!’

Vor fünfundzwanzig Jahren war’s. Nicht leicht

War der Entschluß: doch ein ganzer Mann

gehorcht der Pflicht und scheut das Opfer nicht,

Und wägt nicht lange, was ihm möchte droh’n.

Ein Platz ward leer, ein Posten wurde frei:

Ein treuer Mann trat in die erste Reih’." [Aus Gustav Stengeles Prolog: 25 Jahre Reichstagsabgeordneter des Wahlkreises Hamburg II, in: Echo 1906.]

Heinrich Dietz dankte seinen Freunden, gab einige seiner Erlebnisse zum besten, ließ noch einmal ‘das Schandgesetz in seiner ganzen elenden Niedertracht vor den Augen der Zuhörer auftauchen’ und schloß seine Rede mit der Ermahnung „zur eifrigen und fleißigen Weiterbildung der Genossen" (ebd.).

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4.1.9. Das Urheberrecht im Reichstag

Im Plenum des Reichstages sprach Heinrich Dietz vorwiegend über Themen, die sich mit Gewerbe- und Handels- sowie Verwaltungsfragen im weiteren Sinne beschäftigten, war auch vorwiegend in eben solchen Kommissionen tätig [8. Leg.per. 1890: VIII. Kommission (Änderung der Gewerbeordnung, Schriftführer), 1892: XXV. Kommission (betr. Gesellschaften mit beschränkter Haftung), später auch IX. Kommission (Abzahlungs-geschäfte; Sten. Ber. 1893, S. 1467). 9. Leg.per. 1893: IX. Kommission zur ‘Vorberatung des Entwurfs eines Gesetzes wegen Abänderung des Gesetzes, betreffend die Erhebung von Reichsstempelabgaben’ (Sten.Ber. 1893, S. 411). 1897: XVIII. Kommission zum Entwurf des Handelsgesetzbuchs. 1898 und 1899: XIII. und XIV. Kommission (Änderung von Bestimmung über das Postwesen). 1903 schickte die Frak-tion Heinrich Dietz für kurze Zeit in die Budgetkommission (vgl. BA-Po, 01.01, Nr. 1222; Fraktion 1898 – 1914, S. 110). Auch August Bebel und Paul Singer waren unter den SPD- Mitgliedern dieser Kommis-sion. Mit Paul Singer und/oder August Bebel nahm Heinrich Dietz des öfteren Kommissionssitze wahr. Für August Bebel schickte ihn die Fraktion Ende 1910 in den Seniorenkonvent (Fraktion, S. 234). 1912 saßen dort beide gemeinsam (ebd., S. 257; BLHA Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 15957). 1907: IV. Kommission (für die Geschäftsordnung), IX. Kommission (Handelsabkommen des Deutschen Reiches mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika). 1908: XV. Kommission (Änderung des Börsen-gesetzes). Inseratsteuer-Kommission (Fraktion, S. 203). 1910: Fraktionsredner zum Banknotenpapier-Gesetz (Fraktion, S. 235), 13. Kommission (Urheberrecht, ‘Berner Übereinkunft’). 1912: zusammen mit Richard Fischer in der Reichstags-Ausschmückungs-Kommission (Fraktion, S. 266). 1913: 21. Kommission (Ein-richtung eines Kolonialgerichtshofes).] . Darüber hinaus nahm er einen Sitz in der Bibliothekskommission ein.

In der 10. Legislaturperiode wurde Heinrich Dietz von der Fraktion zum zweiten Redner in den anstehenden Verhandlungen über ein Weingesetz und über den Posttarif bestimmt (Fraktion 1898 – 1914, S. 9f.). Im April 1899 trat er mit vier weiteren Sozialdemokraten der XIV. Kommission (Posttarif) bei und sprach am 15. November im Reichstag zu den geplanten Änderungen: Die Post-Gebühren für die Bestellung und Verteilung von Zeitungsabonnements sollten erhöht werden.

Die Post erhielt zu der Zeit für die Beförderung der Zeitungen und Zeitschriften 25 % des Abonnementspreises, so daß die Verleger der Anzeigenblätter zwar umfangreiche Pakete zur Post gaben – d.h. ihre Zeitungen enthielten durch die zahlreichen Anzeigen und den geringen Textteil mehr Gewicht -, sie zahlten aber wegen des niedrigen Verkaufspreises entsprechend wenig Provision. Verleger von Zeitungen mit einem anspruchsvollen Textteil, „zu dessen Herstellung hervorragende Kräfte, mit einem Worte Intelligenz, erforderlich ist", mußten hohe Kosten aufbringen („daß die Intelligenz nicht billig ist, wissen wir alle miteinander" Dietz in: Sten. Ber. 1898, S. 2799). Diese Verleger konnten oder wollten die Portokosten nicht durch Anzeigen kompensieren. Die einzelnen Ausgaben waren wesentlich dünner, die Verleger verlangten einen entsprechend hohen Preis für das Abonnement und mußten deshalb an die Post auch höhere Provisionen entrichten. Die alte Regelung hatte vorwiegend die kleineren Zeitungsunternehmen getroffen. Der neue Postzeitungstarif böte dagegen „ein Stück ausgleichender Gerechtigkeit", meinte Heinrich Dietz und schaffte endlich einmal Ordnung bei den bisher aufgetretenen ‘schweren Schäden’. „Auch hat die kleinere und mittlere Presse zweifellos Nutzen davon, indem ihr die drückende Konkurrenz, die bisher die Inserateblätter auf sie ausgeübt haben, einigermaßen gemildert wird" (ebd., S. 2801).

In diesem Zusammenhang kritisierte Heinrich Dietz die allgemeine Entwicklung des Inseratewesens, insbesondere das ‘parasitische Gewerbe’ der Anzeigenagenturen: „Wenn wir in den Büchern diejenigen nachsehen, die in Konkurs geraten sind, so finden wir sehr häufig, daß ganz erhebliche Summen für Inserate ausgegeben worden sind. [...] Auch der Kleinhändler, der Handwerker, der Fabrikant u.s.w. wird heute von den Agenten der Inseratenbüros geradezu überlaufen. Es wird den Leuten vorgeredet, daß, wenn sie nicht inserieren, sie auch keine Geschäfte machen; die Betreffenden glauben, wenn das Geschäft an sich schlecht geht, müssen sie Opfer bringen, um den Absatz zu steigern. [...] Es wird den Leuten in vielen Fällen ganz unnötigerweise das Geld aus der Tasche herausgeholt" (S. 2800).

Kritik der Sortiments-Buchhändler sowie der Papierfabrikanten zu den geplanten Änderungen im Posttarif wies Heinrich Dietz ab. Den Buchhändlern, die wohl zu recht über ihre schlechte Geschäftslage klagten und zusätzliche Verluste durch Veränderung der Postgebühren befürchteten, antwortete er, sie hätten einerseits bessere Möglichkeiten, Abonnenten direkt zu gewinnen, andererseits gäbe es in einzelnen Orten möglicherweise mehr Buchhandlungen als tatsächlich existenzfähig wären. Den Papierfabrikanten, die nicht mehr in die Kolonien und nach Südamerika exportieren konnten, weil die amerikanische Konkurrenz inzwischen billiger anbot, riet Heinrich Dietz, sie sollten entweder ihre Produktionsstätten modernisieren – denn die Geschäfte, die das schon getan hatten, prosperierten – „oder ihre Fabriken eingehen lassen. Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben" (ebd. S. 2801). Als mehrere Jahre später auch die Gebühren für Paketbeförderung geändert werden sollten, vertrat Heinrich Dietz zu diesen Thema allerdings eine andere Meinung: „Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Posttaxe sehr häufig vom rein fiskalischen Standpunkte behandelt wird, und das Publikum schließlich den Schaden davon trägt" (Sten. Ber. 1910, S. 2815).

Seiner beruflichen Stellung gemäß gehörte Heinrich Dietz zu den sozialdemokratischen Fraktionsexperten für alle Themen, die sich mit Urheberrechten, Verlags- und Presserecht beschäftigten (vgl. Fraktion 1898 – 1914). Im Frühjahr 1901 begann im Reichstag darüber eine ausgedehnte Debatte. Heinrich Dietz war auch in der entsprechenden Reichstagskommission tätig (Fraktion, S. 53; Sten.Ber. 1901, S. 601) und sprach in allen drei Beratungen zum Gesetzentwurf über das Urheberrecht und das Verlagsrecht. Die „Neue Hamburger Zeitung" (9. 1. 1901) monierte, daß es dabei ‘noch nicht einmal seinem Temperament gelungen wäre, Leben in den Reichstag zu bringen’ [„Können Sie mir einen Ort nennen, wo es noch langweiliger wäre als hier im Reichstag? [...] Besonders überflüssig sind Deklamationen, von denen man mit Sicherheit wissen kann, daß sie auf den Gegner nicht umstimmend wirken" (Peus 1913, S. 139f.). Nach der rasanten Entwicklung der Presse und der Literatur – allgemein sowie der der Sozialdemokraten – wäre „es unverantwortlich, nun noch mehr als früher zu reden, oft Gesagtes immer zu wiederholen, Monologe zu halten ..." (S. 140f.) Der Abgeordnete Peus handelte sich danach einen Rüffel des Fraktionsvorstandes ein (Fraktion 1898 – 1914, S. 289).] .

Als das Parlament über das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie diskutierte, hatte Heinrich Dietz (im Januar 1906) den Gesetzesvorschlag als „im großen und ganzen eine tüchtige Arbeit" gelobt und empfahl – unter Bravo-Rufen der Sozialdemokraten -, die Ausarbeitung der Feinheiten einer Kommission von 14 Mitgliedern zu überlassen (deren Vorsitzender er dann wurde; Sten. Ber. 1906, S. 813ff.; RT Drucksachen, 11. Leg.per., II Session). Dabei scheute sich Heinrich Dietz auch nicht, deutlich zu werden, als er eine von seiner Kommission verabschiedete Resolution begründete. Den nordamerikanischen Verlegern empfahl er eine korrektere Behandlung der deutschen Urheber, denn: „Zahl’ ich Dir Deinen Weizen, so hast Du auch unsere Literatur zu zahlen" (Sten. Ber. 1906, S. 3860).

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4.1.10. Offizielle Übernahme des Verlags in Parteibesitz

1904 nahmen die Arbeitsbelastungen für Heinrich Dietz wieder sehr zu. Im Frühjahr leitete er mit Reinhard Bérard eine Konferenz der Geschäftsleiter aus den Druckerei-Unternehmen, die Parteiblätter herstellten (SPD-Protokoll 1904, S. 24). Im Mai und Juni hatte ihn der Parteivorstand zum Vorsitzenden in mehreren Schiedsgerichtsverfahren gegen die Genossen Heinrich Braun, Georg Bernhardt, Wolfgang Heine und Paul Göhre eingesetzt (ebd., S. 35ff.). Außerdem gehörte er zu einem Schiedsgericht über Eduard Bernstein. Diese Art Tätigkeit für die Partei war nach Heinrich Dietz’ Sinn: Es verlieh ihm besondere Befriedigung, „wenn er als Schiedsmann mit dem Gewicht seiner Persönlichkeit beschwichtigend und versöhnend zu wirken vermochte" (Schöpflin 1947, S. 24f.).

Zu den anstrengenden Sitzungen in Berlin kam hinzu, daß Heinrich Dietz finanzielle Sorgen drückten. Bis zum Sommer 1904 hatte sich auch die geschäftliche Situation nicht entscheidend gebessert: „Es ist eben nichts mehr da, woraus die Opfer genommen werden könnten [...] Vom Verleger kann man sagen, daß, wer vom Marxismus ißt, davon zugrunde geht" (HD an KK, 6. 7. 1904, IISG, K D VIII, Br. 348). Der Ton in seinen Briefen an Karl Kautsky nahm wieder einen resignierten Ton an. Heinrich Dietz fuhr mit seiner Frau aber erst einmal ‘in die Sommerfrische’. Auf der Rückreise machten sie bei August und Julie Bebel in Küsnacht Station. ‘Ausgezeichnet erholt’ hätten sich die beiden, befand Julie Bebel, so daß „wir uns wirklich famos amüsiert haben", und Helene und Heinrich Dietz „vergnügt abdampften" (an Louise Kautsky, 6. 9. 1904, Bebel/Kautsky 1971, S. 166).

Dann allerdings verschlechterte sich Heinrich Dietz’ Gesundheitszustand erheblich. Die ständigen Auseinandersetzungen, auch um die Herausgabe des Marx-Engels-Briefwechsels, die sich jahrelang hinzogen, sowie die hohe Arbeitsbelastung machten sich bei dem inzwischen über 60jährigen stark bemerkbar. Zu der Zeit rechnete Heinrich Dietz damit, sein Reichstagsmandat nicht noch einmal übernehmen zu können [Heinrich Dietz behielt das Reichstagsmandat bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918.] . Im Herbst hatten ihn die Genossen abermals um die Übernahme des Parteitagsvorsitz gebeten. Ignatz Auer und Paul Singer waren krank und konnten 1904 nicht nach Bremen kommen, so daß Heinrich Dietz, gemeinsam mit Friedrich Ebert, die Tagung vom 18. bis 24. September leiten mußte. Auch diesmal erschien seine Verhandlungsführung eher rigide als souverän [Vgl. FN 58 in diesem Kapitel und SPD-Protokoll 1904.] .

Zu Karl Kautskys 50. Geburtstag gratulierte Heinrich Dietz – ihn um die elf Jahre beneidend, die Kautsky jünger war: „Bei mir beginnt sich bereits, alles grau in grau zu färben. Die Arbeit, die ich machen konnte, ist getan" (15. 10. 1904, IISG, K D VIII, Br. 354). Heinrich Dietz stand mit dieser Einstellung gar nicht allein da, auch August Bebel äußerte Ähnliches: „Es werden eine Menge unter uns alt. Wir haben aufgehört, eine Partei der Jungen zu sein" (AB an AG, 8. 12. 1904, IML, NL Bebel, 22/125).

Mehrfach war Heinrich Dietz in dieser Zeit so krank [Das geht aus dem Briefwechsel mit Karl Kautsky hervor (Briefe aus den Jahren 1904 bis 1906 im IISG, K D VIII). Wiederholt ersuchte er den Präsidenten des Reichstages um Urlaub wegen Krankheit (BA-Po 01.01, Nr. 3678). ] , daß zum Ende des Jahres 1904 ein Teil des Stuttgarter Geschäfts endgültig und auch nach außen hin offiziell in den Parteibesitz überging. August Bebel und Heinrich Dietz als Geschäftsträger des Verlages ‘beantragten’ beim Parteivorstand eine Übernahme zunächst der Druckerei und des Verlags der Zeitschriften die „Gleichheit", die „Neue Zeit" und des „Wahren Jacob" zum 31. 12. 1904 (Vw 24[1904]Nr. 300, 22. 12.). Belli und Kirchhoff wechselten als Prokuristen zu Paul Singer in den neuen Verlag, teilte Heinrich Dietz in Annoncen im „Vorwärts" (24 1904Nr. 300, 22. 12.) und im Leipziger „Börsenblatt" seinen Geschäftsfreunden mit (Zir-kular in den Akten des Börsenvereins).

„Wie Sie aus den Zeitungen ersehen haben", schrieb er an Wilhelm Blos, „ist die ganze Geschichte – bis auf den Buchverlag – in den großen Topf gefallen. Es ist gut so. Wenn zum großen Appell geblasen wird, vermißt mich keiner" (HD an WB, 22. 12. 1904, BA-Po, NL Blos, 90 Bl. 2, Korr. Dietz). Wilhelm Blos machte sich daraufhin um seine Anstellung Sorgen, Heinrich Dietz aber beruhigte ihn: „Sie sind Parteibeamter und als solcher nach unseren Indikationen unkündbar. Nicht einmal das Eingehen des Wahren Jacob würde Ihren Bezug erschüttern können. Wenn es auch in Hamburg rechtlich nicht ganz so liegt, de facto liegt das Verhältnis ebenso" (10. 6. 1905, BA-Po, ebd.). Die Zeitschriften selbst waren ohnehin schon 1901 in den Besitz der Partei übergegangen [Bis 1911, nach Paul Singers Tod, verblieben die Zeitschriften im eigenen Verlag, danach übernahm die Firma J.H.W. Dietz Nachf. GmbH sie in einer eigenen Abteilung erneut. Gesellschafter wurden ab April 1911 neben Heinrich Dietz, der weiterhin die Geschäftsführung wahrnahm, die Parteisekretäre Hermann Molkenbuhr und Friedrich Ebert (Vw 20[1911]Nr. 85, 9. 4.).] (SPD-Protokoll 1901, S. 32).

Als nun auch die Verantwortung für die „Neue Zeit" auf die ‘Paul Singer Verlagsanstalt und Buchdruckerei’ überging, verabschiedete sich Heinrich Dietz etwas wehmütig von Karl Kautsky, mit dem er so viele Jahre an der Zeitschrift gearbeitet hatte: „Also leben Sie wohl. Viel Glück unter dem neuen Schutzherrn und im 23. Jahrgang" (HD an KK, 15. 12. 1904, IISG, K D VIII, Br. 357, auch Br. 358). Karl Kautsky schrieb seinem Verleger in der „Neuen Zeit" zum Abschied 1905 „Ein Wort des Dankes" (Kautsky 1905).

Dem Buchverlag aber blieb Karl Kautsky erhalten, und ebensowenig konnte Heinrich Dietz sein Interesse an der „Neuen Zeit" unterdrücken: „Wenn ich auch offiziell ‘nix mehr to seggen’ habe, so stehe ich der Neuen Zeit doch nicht fern. Je mehr Sie meine Tätigkeit dafür stillschweigend hinnehmen, umso lieber widme ich mich der Aufgabe, für die N.Z. zu wirken" (10. 1. 1905, IISG, K D VIII, Br. 360). Heinrich Dietz räumte in der Buchhandlung noch gründlich auf. Brauchbare Druckbögen ließ er zu ganzen Büchern komplettieren und verkaufte sie zum ermäßigten Preis (HD an WB, 22. 12. 1904, BA-Po, NL Blos 90 Bl. 2, Korr. Dietz).

Zur gleichen Zeit verhandelte Heinrich Dietz mit dem Parteivorstand über eine Übertragung des Buchverlags (PS an VA, 20. 12. 1904, Adler u.a. 1954, S. 443). Eigentlich wollte er gänzlich aus den Geschäften aussteigen, er fühlte sich zu angespannt und den Anforderungen nicht mehr so recht gewachsen. Da hatte er aber nicht mit den Überredungskünsten und den Appellen seiner Freunde August Bebel und Paul Singer gerechnet. Das einzige, was er erreichen konnte, war die tatsächliche Übernahme des Buchverlages in Parteibesitz zum Jahre 1906. Daß er sich wieder einmal hatte drängen lassen, doch weiterzumachen, bedauerte Heinrich später noch oft: „Ich hätte 1904 aus der Firma austreten sollen, wie es mein Wunsch war. Nur Paul und August zuliebe blieb ich im Joch", schrieb er 1917 an Karl Kautsky, „und das habe ich seit Augusts Tod 10000mal bereut" (9. 10. 1917, IISG, K D VIII, Br. 654).

Grund genug, um ganz aufzuhören, hatte er eigentlich gehabt, denn Heinrich Dietz war um die Jahreswende sehr krank gewesen. Erst im Frühjahr 1905 ging es ihm besser: „Dies-mal habe ich den Tod wieder weggejagt. Seit heute trete ich wieder in mein Geschirr. Es zieht sich schwer" (HD an KK, 10. 4. 1905, IISG, K D VIII, Br. 362; BA-Po, 01.01., Nr. 3678, Urlaubsgesuch Bl. 34). Nach all den Aufregungen hatte Heinrich Dietz dringend eine Erholungspause nötig. Er wollte im Frühjahr 1906 mit Paul Singer in die Schweiz fahren, „voraus-gesetzt, daß ein geeigneter Platz gefunden wird. Trotz des bösen Wetters ist die Südschweiz bereits überfüllt.! Nichts ist widerwärtiger, als für teures Geld schlechtes Quartier und (dto) Verpflegung zu erhalten. [...] Ich befürchte, daß es uns diesmal nicht besonders gehen wird" (HD an KK, 5. 4. 1905, IISG, K D VIII, Br. 374).

Bis das Stuttgarter Geschäft endgültig in den Besitz der Partei überging, hatte Heinrich Dietz so viele Veränderungen vorgenommen, daß August Bebel ihn langsam aufhielt: „Alle Vierteljahr neue Pläne machen, das ist ein wenig viel. Ich habe ihm geschrieben, daß [...] es doch notwendig sei, daß er sich mit dem Vorstand und der Redaktion mal ausspreche" (AB an KK, 30. 8. 1906, Bebel/Kautsky 1975, S. 181). Gegen die immer stärkere Konkurrenz des „Vor-wärts"-Verlages konnte sich Heinrich Dietz aus der Ferne nur mühevoll durchsetzen. Auch das trug zu seiner Verbitterung bei, besonders, als die Gefahr drohte, daß selbst Karl Kautsky im Berliner Parteiverlag veröffentlichen wollte. Heinrich Dietz wehrte sich gegen den Vorwurf, er würde zu niedrige Honorare zahlen. Karl Kautsky wäre mit seinen theoretischen Texten im Stuttgarter Verlag sowieso viel besser aufgehoben, trotz der enormen finanziellen Möglichkeiten des Berliner Verlages: „Sehen Sie sich die dort anno 1906 herausgegebene Literatur an. Ich würde mich herzlich freuen, wenn ich ihr eine gute Zensur erteilen könnte". Er würde seinerseits den „Vorwärts" keinesfalls boykottieren. Das Gegenteil wäre der Fall: „Der Marxismus hatte von Anbeginn dort seinen grimmigsten Feind" (HD an KK, 9. 3. 1907, IISG, K D VIII, Br. 394).

Nachdem Heinrich Dietz die Zeitschriften aus dem Stuttgarter Verlag abgegeben hatte, stand auch die Zeitung der württemberger Sozialdemokraten zur Disposition. Auf dem Landesparteitag 1907, den er wieder als Vorsitzender leitete, empfahl er seinen schwäbischen Genossen, den Beschluß zu fassen, für die Herstellung der „Schwäbischen Tagwacht" und anderer württembergischer Parteischriften eine eigene Parteidruckerei zu gründen: „In der Diskussion hob Genosse Dietz hervor, daß die Ehe zwischen dem allgemeinen Parteigeschäft und dem württembergischen Geschäft, welche gerade am heutigen Tage 25 Jahre alt sei [Heinrich Dietz sprach am 6. Okt. 1907. Das „Schwäbische Wochenblatt erschien aber schon ab dem 1. April 1882.] (Heiterkeit), jetzt unbedingt gelöst werden müsse. Beide Teile seien zu groß geworden und nehmen sich gegenseitig das Licht weg." Im Bericht über die Landesversammlung, der im „Vorwärts" (17[1907]Nr. 235, 8. 10.) stand, wurde aber nicht erwähnt, daß sich Heinrich Dietz gesundheitlich wieder übernommen hatte. Er bekam einen akuten Heiserkeitsanfall, mußte den Vorsitz abgeben und reiste unmittelbar darauf zur Erholung nach Norderney (AB an KK, 11. 10. 1907, Bebel/Kautsky 1971, S. 190).

Wilhelm Keil stellte es in der Rückschau so dar, als nahmen die württemberger Sozialdemokraten dem Parteiverleger die Herstellung der Zeitung ohne dessen Zustimmung ab, so daß Heinrich Dietz eigentlich Grund gehabt hätte, seinen Genossen gram zu sein, die ihm gegenüber so undankbar gewesen wären (Keil 1956, Manuskriptfassung, S. 11). Heinrich Dietz sah das doch wohl anders. Als 1909 der Tagwacht-Verlag gegründet wurde und die „Schwäbische Tagwacht" in ein neues Gebäude umzog (vgl Schwäbische Tagwacht 1959), hatte er diese Entwicklung unterstützt und in der Vorbereitungskommission der württembergischen Sozialdemokraten aktiv mitgearbeitet (Härle 1930). Nachdem die Räume des ihm verbliebenen Verlages nach dem Auszug der württembergischen Zeitung renoviert und die technischen Einrichtungen modernisiert waren (HD an KK, 20. 10. 1909, IISG, K D VIII, Br. 433), äußerte sich Heinrich Dietz außerordentlich zufrieden: „Seit dem Abzug der Tagwächter aus unserer Anstalt herrscht hier ‘Gottesfrieden’, den wir auch nicht missen möchten, denn gegen die Lügen und Verdrehungen auf den Seiten der Streitenden konnte man doch nicht ankommen" (16. 6. 1912, Br. 497).

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4.1.11. Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart

1907 wurde im Reichstag der Ausbau des Kaiser-Wilhelm-Kanals zwischen der Nord- und der Ostsee debattiert. Nachdem die Kolonialpolitik-Debatte der Partei in den Jahren 1884/1885 so viel Konfliktstoff lieferte, daß sie – wie geschildert – nahe an der Spaltung gestanden hatte, wurde Heinrich Dietz 1907 von seiner Fraktion lediglich mit einer kurzen Stellungnahme im Plenum beauftragt (Fraktion 1898 – 1914, S. 186). Er stellte Anfang Mai im Namen der Sozialdemokraten fest, der Ausbau des Kanals wäre zwar vorwiegend zu militärischen Zwecken gedacht (Sten.Ber. 1907, S. 1482ff.). Aber die Tatsache, daß ein verbreiterter Kanal sich auch für die Handelsschiffahrt gewinnbringend erweisen werde, veranlaßte die Reichstagsfraktion der SPD, diesem Vorhaben zuzustimmen. „Selbst die radikale Fraktion im Berliner Rathause" hätte diese Bewilligung erteilt, „wenn solche Vorlagen an sie herantreten", meinte Heinrich Dietz mit einem Seitenhieb auf seine eigenen Genossen (Sten.Ber. S. 1482) – obwohl über eine verbreiterte Brücke ja auch Soldaten marschieren könnten.

Im selben Jahr erwies er seiner Partei einen großen Dienst: Geschickt agierend gelang es Heinrich Dietz, die Zustimmung für Stuttgart als Tagungsort des (7.) Internationalen Sozialistenkongresses einzuholen, nachdem man den Sozialdemokraten die Zusammenkunft in Berlin nicht gestattete. Heinrich Dietz verhandelte als Führer einer Parteidelegation mit der Württemberger Regierung (vgl. HStA Stg. E 130a, Bü 1018; auch: E 150, Bü 2054; Arbeiterbewegung 1981). Nach der Genehmigung sah sich Heinrich Dietz in seiner Voraussage bestätigt, denn anläßlich des sozialdemokratischen Parteitages in Stuttgart 1898 hatte er schon versichert, daß seine Landesregierung die Veranstaltung des Internationalen Sozialistenkongresses wohl gestatten würde (IA an AB, 7. 7. 1898, IML, NL Bebel, 22/96).

Die Bedenken, die zunächst im Auswärtigen Amt gegen eine Versammlung der international bekanntesten Sozialisten geäußert wurden, widerlegte das württembergische Innenministerium mit dem Hinweis auf das im Falle eines Verbotes zu erwartende scharfe Presseecho (HStA Stg., E 130a, Bü 1018, 23. 2. 1907). Aus Berlin wurden gegen Ende April 1907 keine Bedenken mehr vorgebracht. Der Reichskanzler überließ der württembergischen Regierung lediglich ‘vertrauensvoll’ die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung (Bü 1018, 29. 4. 1907). Im Gegenzug stimmten die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten dem württembergischen Etat zu, wie Heinrich Dietz später in einer Versammlung des Sozialdemokratischen Vereins im zweiten Hamburger Wahlkreis andeutete (HE 23[1909]Nr. 35, 11.2.).

Die Zeiten hatten sich eben geändert. Auch die Empörung konservativer Kreise über rote Fahnen am Stuttgarter Bahnhof verpuffte, und die Klage eines ihrer Abgeordneten im Reichstag darüber, daß der Kongreß überhaupt hätte präventiv verboten werden müssen, fand keinerlei Gehör mehr (ebd. 23. 1. 1908; E 74 I 8 CXI. 1). So konnten die deutschen Sozialdemokraten ihre Gäste aus dem In- und Ausland wieder einmal im Wartesaal der 1. Klasse empfangen (Bassler 1987).

Ende des Jahres 1907 hatte Heinrich Dietz etwas Zeit erübrigt, um für die „Neue Zeit" die im Winter gehaltenen Vorträge über „Das Buchgewerbe und die Kultur" (Leipzig: Teubner) zu rezensieren. Nach seiner Meinung handelte es sich um ein lobenswertes und „zutreffendes Bild" über „den gewaltigen Einfluß der fünfundzwanzig Bleisoldaten auf das öffentliche Leben der gesamten Kulturwelt" (Dietz 1908).

Zum Thema Urheberrechte nahm Heinrich Dietz noch einmal 1909 und 1910 das Wort, als im Parlament zur ‘Berner Übereinkunft über den internationalen Schutz literarischer und künstlerischer Werke’ debattiert wurde. Er hatte wieder – wie schon knapp 10 Jahre zuvor – in der Reichstagskommission mitgearbeitet (Fraktion 1898 – 1914, S. 230, 232) und setzte sich im Reichstag für eine Schutzfrist von bis zu 30 Jahren nach dem Tode des Urhebers ein. Dabei argumentierte er durchaus im Sinne des Verlegers: 50 Jahre – wie bisher diskutiert wurde – erschienen ihm zu lang. Heinrich Dietz zitierte dazu Wilhelm Raabe: „Wer in der Gesellschaft, in der Presse, in öffentlicher Versammlung oder gar im Reichstag dafür stimmt, daß die Schutzfrist für Werke der Literatur, der bildenden Künste oder der Musik nach dem Tode der Urheber von 30 auf 50 Jahre verlängert werde, macht sich einer schweren Versündigung an seinem Volke schuldig" (Sten. Ber. 1910, S. 2856).

Eine vom Reichstag gewünschte Steuerabgabe auf Inserate in Zeitungen und Zeitschriften lehnten 1909 nicht nur die Sozialdemokraten ab, sie hätte – so führte Heinrich Dietz aus – zu sehr den Klein- und Mittelstand unter den Herausgebern getroffen. Auch die Reichstagskommission hatte den Gesetzentwurf im Vorfeld nicht gutgeheißen (Sten. Ber. 1909, S. 9132). Ende desselben Jahres, zur Eröffnung der II. Session, wurde Heinrich Dietz zum stellvertretenden Abteilungsvorsitzenden gewählt (RT Drucksachen, 12. Leg.per., 2. Session, VII. Abt.). 1910 löste Heinrich Dietz August Bebel im Seniorenkonvent ab (vgl. FN 60).

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4.1.12. Der Parteitag in Magdeburg 1910

Paul Singer erkrankte 1910 sehr schwer, und der Arzt verbot ihm jede weitere Aufregung [Paul Singer starb am 31. Januar 1911 in Berlin.] . Damit fiel Singer, der bisher mit Umsicht und straffer Hand auch die schwersten Debatten auf den sozialdemokratischen Parteitagen geleitet hatte, ausgerechnet vor dem Treffen in Magdeburg aus. Auch August Bebel, zu dessen 70. Geburtstag Heinrich Dietz – nun auch schon 67 Jahre alt – am 22. Februar anstelle des schon kranken Paul Singer die Festrede gehalten hatte, war sichtlich gealtert, er hatte mit seiner Familie großen Kummer (vgl. Herrmann/Emmrich 1989, S. 676ff.). Bebel bot seinem Freund Heinrich Dietz, der später zwar über ‘das einsame Wirtshausleben’ geklagt hatte, jetzt an, während der Sessionen zu ihm nach Schöneberg zu ziehen [Darauf ging Heinrich Dietz aber nicht ein.] (AB an KK, 15. 12. 1910, Bebel/ Kautsky 1975, S. 246).

Mitte 1910 hatten die sozialdemokratischen Parteiführer auf die Überwachungsbehörden schon einen ‘müden’ Eindruck gemacht, angeblich aus Furcht vor einem zu hohen Wahlsieg: „Als ob sie selbst nicht mehr an eine Zukunft für ihre Partei glaubten. Es fehlt ja jetzt auch die starke Hand, die sie zusammenhält, denn Bebel ist ganz zusammengefallen" (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 12998, 3. 7. 1910, Bl. 71f.).

Schon im Vorfeld des Magdeburger Parteitages kündigte sich eine heftige Auseinandersetzung an. Die Verabschiedung der Landtagshaushalte durch sozialdemokratische Abgeordnete in Baden und Bayern wirkte lange nach. Eine tiefe Kluft zwischen den süddeutschen und den norddeutschen – preußischen – Teilen der Partei zeichnete sich ab („Berli-ner Tageblatt", 14. 9. 1910). In dieser Situation wurde Heinrich Dietz aufgefordert, die Versammlungsleitung zu übernehmen. Er konnte sich dieser Aufgabe nicht entziehen.

1908 hatte Heinrich Dietz in Nürnberg in der Budgetfrage „zur Überraschung meiner marxistischen Freunde" mit den süddeutschen Delegierten gestimmt (SPD-Protokoll 1908, S. 423, 425, 550) und im Februar 1909 seine Haltung auf einer Hamburger Parteiversammlung verteidigt (HE 23[1909]Nr. 35, 11.2.). In seinem Wahlkreis stieß er auf heftige Kritik. Man bedauerte sehr, daß Heinrich Dietz als Hamburger Reichstagsabgeordneter der Ansicht seiner Parteigenossen so wenig Rechnung getragen habe, denn dort war man der Ansicht, daß Sozialdemokraten den Land- oder Reichstagsbudgets keinesfalls zustimmen dürften. Auf etwas Verständnis stieß er zumindest in seinem Wahlkreis: „Dem Genossen Dietz sei allerdings zugute zu rechnen, daß er süddeutsche Luft atme; nicht in der Sache, wohl aber in der Form seien im Süden eben die Klassengegensätze milder." Auf die Kritik bedauerte Heinrich Dietz, er würde an seiner Haltung nichts ändern, versicherte seinen Parteifreunden dann tatsächlich, „auch wenn er in Einzelheiten eine andere Auffassung habe, als die Mehrheit des Vereins, so bleibe er doch der alte Marxist, der er immer gewesen sei" (HE ebd.).

Noch 1902 hatte Heinrich Dietz in einer Hamburger Versammlung öffentlich die Meinung vertreten, bei dem ideologischen Streit handelte es sich doch „mehr um eine Sache des Temperaments [...]; seien die Marxisten bisweilen etwas ungestüm, so hätten andererseits die Opportunisten die gegnerischen Klassen allzusehr mit Glacéhandschuhen angefaßt. Indessen werde der Streit ausgetragen werden, und dann müsse die Klärung kommen" (HE 19[1902]Nr. 101, 1.5.).

In Magdeburg kam es 1910 tatsächlich zum Eklat. Der ‘ganz vertrauliche Bericht’ des Innenministeriums über den Verlauf des Parteitages registrierte süffisant: Es wäre doch vorher alles so fein ausgemacht gewesen. ‘Die Parteileitung hätte die Parole ausgegeben, unter allen Umständen Frieden zu halten und das Kriegsbeil zu begraben’. Es kam aber ganz anders. Als die Wogen in der Budgetbewilligungsdebatte besonders hoch schlugen, griff der Stuttgarter Friedrich Westmeyer einen der württembergischen Landtagsabgeordneten persönlich an: Karl Hildenbrand und seine Abgeordnetenkollegen wären ja gern gesehene Gäste am württembergischen Königshofe. Hofgang, Ministeressen – da entspränge die Budgetbewilligung derselben Wurzel. Die örtliche Parteiorganisation stände jedenfalls nicht hinter solchem Verhalten [August Bebel hatte 1908 an Westmeyer geschrieben, als sich der Konflikt bereits andeutete: „Es scheint, daß bald jeder, der nach Süddeutschland kommt, das sozialdemokratische Denken verlernt, so daß man sich nicht mehr versteht" (26. 8. 1908, IML, NL Bebel, 22/139).] (SPD-Protokoll 1910, S. 340).

Heinrich Dietz führte die Versammlungsleitung vorwiegend mit Hilfe formaler Argumentationen. Mit Rosa Luxemburg – von der er überhaupt nicht viel hielt [Heinrich Dietz hatte nur sehr widerstrebend der Veröffentlichung eines Artikels von Rosa Luxemburg in der „Neuen Zeit" zugestimmt: „Ich kann das Ding nur aufnehmen, wenn Sie ausdrücklich darauf bestehen" , schrieb er an Karl Kautsky. „Ich wünsche im Interesse der N.Z., daß Sie meiner unmaßgeblichen Meinung beitreten" (28. 8. 1901, IISG, K D VIII, Br. 292).] – ging er kurzentschlossen um: Er entzog ihr das Wort, als sie seiner Meinung nach zu lange gesprochen hatte (SPD-Protokoll 1910, S. 304f.): „Vorsitzender Dietz macht die Rednerin darauf aufmerksam, daß sie ihre Redezeit bereits überschritten hat" (ebd., S. 306). Auf diese Art konnte Heinrich Dietz keine Entspannung der Situation herbeiführen. Kritik an seiner Verhandlungsführung wies er harsch zurück.

Ludwig Frank, badischer Abgeordneter und Wortführer der Budgetbewilliger, bekräftigte in seinem Schlußwort den badischen Standpunkt. Es gab Tumulte, worauf die Süddeutschen den Saal verließen. August Bebel, der zwar am Kongreß teilnahm, sich aber zuviel zugemutet hatte und schon in sein Hotel zurückgekehrt war (Herrmann/Emmrich 1989, S. 685ff.), sollte geweint haben, als ihm Heinrich Dietz spät abends Bericht erstattete, so notierten zumindest die Überwachungsbeamten (BA-Po, Rep. 30, Berlin C, Nr. 12998, Bl. 201f.). Wieder einmal stand die Partei am Rande einer Spaltung, die nur mit Hilfe von August Bebel und einer realistischen Einschätzung der süddeutschen Delegierten über ihre begrenzten Möglichkeiten verhindert werden konnte. Sie riskierten den Bruch nicht, solange das Parteieigentum nicht unter dem Einfluß der Landesorganisationen stand (Bl. 14). Die Macht in der Partei würden sie nicht übernehmen können, solange sie noch als Einzelpersonen agierten: „Die Presse, die Kassen, die Häuser, Grundstücke und Werte gehören der Partei! Und sind zum Teil auf die Namen von Personen eingetragen, die fest zur alten Partei halten: Singer & Co., Auer & Co., Dietz, Geck & Co., Kaden & Co. etc." (BA-Po, ebd., Bl. 202).

Wieder einmal war eine Spaltung der SPD aufgeschoben. So konnte Heinrich Dietz, der auch in Magdeburg mit den Süddeutschen stimmte (SPD-Protokoll 1910, S. 372ff.), in seinem Schlußwort nach den Parteitagsverhandlungen noch einmal die Geschlossenheit der Genossen beschwören. Die beendeten Debatten des Kongresses veranlaßte ihn zu einem Vergleich der SPD mit einem großen Hause, „das viele Wohnungen hat, Wohnungen für alle, denn wir möchten alle haben, die den Kampf gegen das Unrecht führen wollen, aber auch in den Temperamenten sehr verschieden sind. Das kann der Hausbesitzer ertragen; ohne das Aufeinanderplatzen sic der Meinungen kommt die Wahrheit nicht an den Tag. Aber eins kann er verlan-gen: die Hausordnung müssen alle ohne Unterschied respektieren" (SPD-Protokoll 1910, S. 484).

Doch auch Heinrich Dietz mußte langsam klar werden, daß sich die Widersprüche in der Partei eher verschärften, als daß eine einheitliche politische Linie durchsetzbar war. Die Ära der älteren Parteiführer-Generation ging dem Ende entgegen, Männer wie Bebel verloren aufgrund ihres Alters und ihrer damit verbundenen nachlassenden Kräfte zu sehr an Einfluß, um die schon stark auseinanderdriftenden Fraktionen noch beisammen halten zu können.

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4.1.13. Erbitterte Fraktionskämpfe in Württemberg

1911 führte Heinrich Dietz im Stuttgarter Geschäft mit der Anschaffung einer Linotype den Maschinensatz ein, „um klareren, besseren Druck liefern zu können. Die Druckerei mußte die Schrift bis zur Unleserlichkeit ausnutzen, das ist später nicht mehr nötig, da stets neue Schrift zur Verwendung gelangt" (HD an KK, 28. 7. 1911, IISG, K D VIII, Br. 471).

Im selben Jahr weigerte sich Heinrich Dietz endlich, nachdem er bisher regelmäßig um die Versammlungsleitung auf den Treffen der württembergischen Landesorganisation gebeten wurde (vgl. Härle 1930), ständig seinen Kopf hinzuhalten: „Unter die 22. Landesversammlung nach dem Sozialistengesetz, in der ich den Vorsitz führte, habe ich einen Strich gesetzt. Von nun an können sich andere daran erbauen. Man wird doch alt. Ich bin heiser und mit geschwollenen Füßen nach Hause gekommen. Und zudem habe ich den Streit um Kaisers Bart satt" (HD an KK, 6. 9. 1911, IISG, K D VIII, Br. 473) [Wenn Heinrich Dietz hier richtig gezählt hatte, würde das bedeuten, daß er bei jeder württembergischen Landesversammlung seit 1890 den Vorsitz geführt haben muß.] .

Diese Bewertung mutet mehr als harmlos an, denn gerade auf dieser Versammlung hatte Heinrich Dietz als Versammlungsleiter zwar zu Beginn noch die Einigkeit der Stuttgarter Sozialdemokraten bei den Stadtverordnetenwahlen hervorgehoben. Anschließend aber brachen die heftigsten Konflikte zwischen den ‘Revisionisten’, mit dem noch amtierenden Chefredakteur der „Schwäbischen Tagwacht", Wilhelm Keil, und den Landtagsabgeordneten Hugo Lindemann [Lindemann brachte 1911 zum Jenaer Parteitag den Antrag mit ein, wonach der Erwerb von Kolonien durchaus im Interesse der deutschen Arbeiterschaft liegen könnte, also die Sozialdemokraten dabei sein müßten, anderen Kolonialmächten Einhalt zu gebieten bei ihren Expansionswünschen. Denn diese hätten ‘bereits wertvolle Einflußgebiete’, wogegen die ‘deutschen Wirtschaftsbedürfnisse’ und der ‘Spielraum der deutschen Volkswirtschaft unerträglich eingeengt würden (zit. nach „Deutscher Volks-Korrespondent", 8. 9. 1911).] und Karl Hildenbrand auf der einen Seite, und den sog. ‘Radikalen’ mit dem Redakteur Friedrich Westmeyer als Gegner aus (vgl. Vw 21[1911]Nr. 207, 5. 9.).

Wilhelm Keil sollte damals als Redakteur der „Schwäbischen Tagwacht" abgesetzt werden. Westmeyer verlangte im Namen der Stuttgarter Delegierten eine Kommission, die auf die „Schwäbische Tagwacht" stärkeren Einfluß nehmen sollte. Wegen des geltenden Delegationsschlüssels konnten die großen Industriestädte auf der Landesversammlung den Forderungen ihrer Anhänger – die sich zunehmend im Zuge der Umstrukturierung der Arbeiterschaft radikalisierten – nicht ausreichend Gehör verschaffen. Von der „Schwä-bischen Tagwacht" fühlten sie sich nicht mehr ausreichend vertreten. Im Verlauf der hitzi-gen Debatte verließen die meisten der Stuttgarter und mit ihnen zahlreiche Delegierte der ländlichen Gebiete empört den Saal. Friedrich Ebert, der als Abgesandter des Parteivorstandes regelmäßig an den Versammlungen der Württemberger teilnahm, hatte zwar für die Interessen der Stuttgarter gesprochen, konnte sich aber kein Gehör mehr verschaffen. Den ‘Feind’ Friedrich Westmeyer schaltete man durch Schlußantrag aus. Auf eine persönliche Bemerkung Westmeyers schrie ihn die Mehrzahl der Delegierten nieder (Vw, ebd.).

Bei dieser derart unversöhnlich geführten Auseinandersetzung handelte es sich wohl doch nicht nur ‘um des Kaisers Bart’, wie Heinrich Dietz befand! Die Mehrheit beschloß, die Redakteure der „Schwäbischen Tagwacht" zu entlassen. Heinrich Dietz hatte vergeblich darum gebeten, diesen Antrag zurückzuziehen. Selbst ihm gelang es nicht mehr, sich gegen die euphorische Menge durchzusetzen. Was zunächst so ausgewogen aussah, nämlich sowohl Keil als auch Westmeyer zu entlassen, entpuppte sich schnell als demagogischer Schachzug, denn es war schon bekannt, daß Keil ohnehin seinen Posten kurz danach abgeben wollte. In Wahrheit richtete sich dieser Vorschlag deswegen direkt gegen die ‘Radikalen’. „Es ist ein tragisches Geschick Keils", kommentierte Heinrich Dietz den Vorstoß der Stuttgarter Parteibasis, „daß er mit den gleichen Mitteln, die er selbst mit Erfolg gegen Redaktionskollegen seit Jahren anwendete, jetzt verdrängt wird, wenigstens aus der Redaktion der Tagwacht. [...] Sieht man sich die Personen an, so muß man lachen" (HD an KK, 6. 9. 1911, IISG, K D VIII, Br. 473).

Wie zu erwarten war, gingen die Wahlen zum Landesvorstand in dieser aufgeheizten Stimmung entsprechend ‘gemäßigt’ aus, unter anderen wurde auch Clara Zetkin abgewählt. Käthe Duncker richtete eine Beschwerde über die putschartige Absetzung von Friedrich Westmeyer und die Württemberger Vorgänge an den Parteitag in Jena 1911. Heinrich Dietz unterstützte sie dort zwar, wollte ihren Antrag aber ohne Debatte abgestimmt wissen (SPD-Protokoll 1911, S. 312ff.).

Auch 1911 übernahm Heinrich Dietz die Versammlungsleitung des Parteitags. Wieder entzog er Rosa Luxemburg das Wort (während der ‘Marokkodebatte’) mit Hinweis auf die von ihr überzogene Redezeit (SPD-Protokoll 1911, S. 206). Im weiteren Verlauf des Kongresses gab es auch dieses Mal Einsprüche gegen seine Verhandlungsführung (S. 369f. und 375). In seinen Abschlußworten jedoch rühmte Heinrich Dietz einmal mehr die Einigkeit der Partei und ihre Fähigkeit zum fruchtbaren Streiten: „Gerade in den Streitigkeiten offenbart sich unsere Stärke, denn sie sind der Ausfluß eines regen politischen Lebens in unseren Reihen und bilden in keiner Weise eine Störung unserer gefestigten Einigkeit" (SPD-Protokoll 1911, S. 412).

Bei seiner Weigerung, den Vorsitz der Landesversammlungen in Württemberg nicht noch einmal anzunehmen, blieb Heinrich Dietz doch nicht. Er wurde von Wilhelm Keil, Berthold Heymann und Karl Hildenbrand gebraucht, um sich ein Jahr später, nach ständigen Konflikten in der Stuttgarter Parteiorganisation, endgültig die politische Unterstützung für ihre gemäßigte Richtung bestätigen zu lassen. Auf der nicht weniger tumultartigen Versammlung in Heilbronn 1912 gelang das so gründlich, daß wunschgemäß alle Abstimmungen für Hildenbrand, Keil und ihre ‘revisionistischen’ Anhänger ausgingen (Schwäbische Kronik, in: „Schwäbischer Merkur", 2. 9. 1912). Kein Wunder, daß Clara Zetkin über eine Zurechtweisung der ‘Radikalen’ in Heinrich Dietz’ Schlußwort so in Wut geriet, daß sie beim ‘Hoch’ auf die Sozialdemokratische Partei sitzen blieb und schimpfte: „Unter diesem Vorsitzenden bei dem Hoch auf die Partei aufstehen? Nein!" („Norddt. Allgemeine Zeitung", 8. 9. 1912). Selbst die bürgerliche Presse kommentierte die Vorfälle bestürzt: „Man ist von sozialdemokratischen Parteitagen schon etwas gewöhnt, aber eine derartige Verrohung des Tones, eine solch beispiellose persönlich gehässige Kampfesweise hat man doch noch nicht erlebt. Man gewinnt so den Eindruck, hier sitzen Leute zusammen und nennen sich ‘Genos-sen’, die sich hassen und verabscheuen wie die Pest" („Leipziger Neueste Nachrichten", 4. 9. 1912).

In Stuttgart stand die Basis mehrheitlich immer noch auf der Seite der radikaleren Parteiführer um Friedrich Westmeyer. Unversöhnlich gaben die Gemäßigten keinen Schritt nach. Sie befürchteten: „Der Sieg der Revisionisten wird gänzlich belanglos bleiben, wenn man nicht radikal gegen Westmeyer vorgeht und den Schädling aus der Partei entfernt [...] so lange er da ist, muß sich jeder Reinliche von der Partei, der er Westmeyer, agr. angehört, fernhalten" („Leipziger Neueste Nachrichten", ebd.). Der alte Konflikt zwischen den Richtungen in der SPD, der während des Krieges endgültig zur Spaltung führte, war in Württemberg längst deutlich ausgebrochen.

Bis sich in Jena 1913 – unmittelbar nach August Bebels Tod – die Revisionisten in der SPD endgültig durchsetzen konnten, dichtete ‘Caliban’ zum Parteitag in Chemnitz 1912 im Hugenbergschen „Tag" (14. 9. 1912):

„Es rauscht in den Schachtelhalmen

Rosa merkt’s lange schon

Wie Klara: sichtbar verqualmen

Die Fackeln der Revolution!

Ein revisionistischer Nebel

Streicht giftig über sie her.

Selbst Zubeil schwankt und Bebel -

Es gibt keine Männer mehr!

[...]

Die tüchtigsten Schreier ermüden,

Berlin ist schlapp und doof,

Der Norden schläft, die im Süden

gehn ausnahmslos zu Hof.

Betroffen seufzt jeder Kenner

Die Rrrevolution ist vorbei!

Wir haben keine Männer,

Nur Weiber noch in der Partei.

Die Memmen sitzen und reiben

sich ruhmlos die Buxen durch.

Gottlob, daß zwei Männer uns bleiben:

Zetkin und Luxemburg!"

Nach der Wahl im Januar 1912 war die sozialdemokratische Partei mit 110 Mandatsträgern als stärkste Fraktion in den Reichstag einzogen. Nun standen die Abgeordneten unter aufmerksamer Beobachtung ihrer Wähler und hohem Erwartungsdruck. Bis dahin hatte es aus der Fraktion und in der Parteipresse mäßigend und vertröstend zugleich geheißen: Wenn die Sozialdemokraten erst mehr als 100 Abgeordnete im Reichstag schicken, dann könnte sich viel ändern! 1913 stellte der Hamburger „General-Anzeiger" resigniert fest, Hamburg hätte immer noch keine gerechte Anzahl von Reichstagsmandaten entsprechend seinen Wählerstimmen bekommen [Gefordert wurde je ein Mandat für je 100.000 Stimmen. Danach hätten Hamburg insgesamt sechs an-stelle der drei Mandate zugestanden („Norddeutsche Volkszeitung", 28. 2. 1892, in: StAH S 1596, Bd. 1).] . Deswegen nähmen ausgerechnet drei Sozialdemokraten die Interessen der Hansestadt wahr, „von denen zwei eine Tätigkeit als Stimmaschinen ausüben" (6. 4. 1913). Lediglich August Bebel fand also Gnade vor den strengen bürgerlichen Augen.

Als stärkste Fraktion hätte die SPD nach diesem Wahlerfolg Anspruch gehabt, den Präsidenten des neuen Reichstages zu stellen. Die bürgerliche Presse erging sich in Überlegungen, wer wohl nominiert werden würde. Heinrich Dietz’ Name gehörte tatsächlich zu den Kandidaten. Unter der Überschrift: ‘Wilhelm und der Sozi’ breitete zum Beispiel der Liberale Hellmut von Gerlach in der Berliner „Welt am Montag" seine Visionen über einen sozialdemokratischen Präsidenten aus, der traditionell zur Reichstagseröffnung das ‘Hoch’ auf den Kaiser anzustimmen hätte. „Ein roter Präsident! Der Nachfolger des Grafen Schwerin-Löwitz Herr Dietz oder wen sonst die Sozialdemokratie vorschicken will! [...] ein politisches Ereignis von kaum zu überschätzender Tragweite" (5. 2. 1912). Heinrich Dietz lehnte die Übernahme solcher Würden ab: „Das ‘Vergnügen’, mich als Reichstags-Präsidenten zu begrüßen", schrieb er an Karl Kautsky, „werden Sie nicht genießen [...]. Singer hätte das erleben müssen" (HD an KK, 29. 1. 1912, IISG, K D VIII, Br. 489).

Die sozialdemokratische Fraktion verzichtete darauf, diesen Posten für sich zu reklamieren [Die Abstimmung hierüber erfolgte in der Fraktion einstimmig (BLHA Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 15957; vgl. auch Fraktion 1898 – 1914, S. 257).] und nahm Kontakt zu den anderen Parteien auf, weil sie Anspruch auf den 1. Vizepräsidenten erhob (Fraktion, S. 258ff.). Erst im dritten Wahlgang und nur ganz knapp verlor August Bebel gegen den Zentrums-Abgeordneten Spahn. Nach der letzten Wahl im Sommer 1903 war er noch strikt gegen die Übernahme eines solchen Amtes durch einen Sozialdemokraten gewesen. Immerhin aber hatten 175 Reichstagsmitglieder dem ‘unge-krönten König’ („Vossische Zeitung", 10. 2. 1912) ihre Stimme gegeben, nur elf weitere hätten gefehlt. Ein Sozialdemokrat wurde dann zum zweiten Vizepräsidenten gewählt: Philipp Scheidemann. „Und kein Erdbeben hat in diesem kritischen Augenblick das von Wallot aufgeführte Haus den Reichstag, agr. in Trümmer gelegt. Und Bismarck steht noch immer auf seinem Postament" („Vossische Zeitung", ebd.).

„Es wär’ so schön gewesen, es hat nicht sollen sein!" bedauerte Helmuth von Gerlach in der „Welt am Montag". Dabei waren die Voraussetzungen doch ganz gut gewesen, „als Bebel beinahe Präsident des Reichstag geworden wäre, als Scheidemann Vizepräsident wurde, als die Nationalliberalen die Angst vor dem roten Tuch überwunden zu haben schienen [...], als selbst der rechte Flügel der Nationalliberalen sich zum Liberalismus bekehrt hatte [...] Die Nationalliberalen, sogar die vom sog. linken Flügel, erlagen einem Anfall akuten Rotkollers" (1. 4. 1912).

Einigermaßen ruhig konnte Heinrich Dietz kurze Zeit danach mit August Bebel zum Victor Adlers sechzigstem Geburtstag am 24. Juni 1912 nach Wien fahren. Die beiden kamen als Abgesandte der deutschen Sozialdemokraten, ihrem österreichischen Genossen Glück zu wünschen (Adler u.a. 1954, S. 547). August Bebel war nur seinem Freund Dietz zuliebe mit nach Wien gefahren, eigentlich wollte er lieber in der Nähe seiner kranken Tochter Frieda bleiben (AB an KK, Bebel/Kautsky 1971, S. 303).

In Heinrich Dietz’ Briefen an Karl Kautsky klangen in diesen Jahren immer häufiger bittere Bemerkungen über ‘die Berliner’ an. Er empfand den Parteivorstand inzwischen als lästigen Kontrolleur [„Die Kontrolle hat mich zu ihrer Sitzung am Donnerstag telegraphisch eingeladen" (HD an KK, 21. 1. 1914, IISG, K D VIII, Br. 556).] oder als Instanz, die sich mit Verdiensten schmückte, zu denen seine Mitglieder nichts beigetragen hatten: „Was hat eigentlich der Parteivorstand mit der Herausgabe des ‘Kapital’ zu tun? Daran ist er doch unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Aber mag es darum sein, er ist die Stelle, wohin sich unsere Augen in allen Lagen und Kümmernissen des Lebens wenden", spottete er (HD an KK, 28. 6. 1913, IISG, K D VIII, Br. 531). Im Sommer bemerkte August Bebel wieder einmal, Heinrich Dietz, der gerade auf dem Wege nach Norderney war, wäre sehr pessimistisch (Ab an KK, 29. 7. 1913, Bebel/Kautsky 1971, S. 358).

Besonders verbitterte ihn in dieser Zeit die Einführung der Parteikolportage. Heinrich Dietz hatte es ja erst mit großer Mühe geschafft, seine Bücher und Broschüren über den Sortimentsbuchhandel vertreiben zu können. Die Sozialistica aus den Parteiverlagen wurden unter den Genossen allerdings auch weiterhin durch Kolporteure verbreitet. Die Festlegung, daß nun nur noch parteieigene Verteiler zum Schriftenvertrieb zugelassen werden sollten, schaltete zwar die Konkurrenz durch ‘freie’ Kolporteure aus. Dieses einseitige Verfahren sah Heinrich Dietz doch als Nachteil an, der Absatz würde eher zurückgehen und nicht gesteigert werden können. In der „Neuen Zeit" wandte er sich 1914 energisch gegen die Parteikolportage – vergeblich (Dietz 1914, S. 576ff.). Später erwies es sich, daß Heinrich Dietz richtig vorausgesehen hatte: „Die freien Kolporteure suchten nach geeigneten Kolportageobjekten im bürgerlichen Verlage und fanden sie auch. Wir aber hatten das Nachsehen. [...] Wenn man die Absatzziffern zum Beispiel der Kleinen Bibliothek in Vergleich bringt mit entsprechender Literatur der bürgerlichen Verlagsanstalten, so könnte man grimmen Neid empfinden" (Dietz 1917).

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4.1.14. 3. Oktober 1913: 70 Jahre alt

Trotz seiner Kritiken an der Parteiorganisation und obwohl er den Wunsch äußerte, um seine Person nicht so viel Aufhebens zu machen, bekam Heinrich Dietz zum 3. Oktober 1913 zahlreiche Glückwünsche. „Wir müssen mal einen wirklichen ‘Alten’ haben in der Partei", schrieb ihm Eduard David. „Einen Hundertjährigen! Haben Sie den Ehrgeiz, das zu werden" (AdSD, F 81 3204, Nr 20).

Viele Parteizeitungen würdigten seinen 70. Geburtstag. Clara Zetkin faßte die Verdienste von Heinrich Dietz treffend in einem Satz zusammen: „Der Verlag Dietz wurde die erste und ist noch heute die beste Heimstätte für die Literatur des wissenschaftlichen Sozialismus" (Zetkin 1913/14, S. 4). Karl Kautsky verfaßte den sorgfältigsten Gruß; er hatte aus seinem engen Kontakt zum Parteiverleger viele Einzelheiten einfließen lassen, fand freundschaftliche und lobende Worte. In der „Neuen Welt" resümierte er: „Was Dietz bisher der Partei gegeben, war das Lebenswerk eines ganzen Mannes, der zu jeder Stunde seine vollste Pflicht getan" (Kautsky 1913). Dabei blieb das Verhältnis zwischen beiden nie ganz ohne Konflikte. Als der Streit zwischen Heinrich Dietz und Franz Mehring Anfang 1914 zum endgültigen Bruch führte, hatte sich Franz Mehring bei der Kontrollkommission der Partei beschwert: Heinrich Dietz hätte sich ihm gegenüber mehrfach mehr als abfällig über Karl Kautskys Unverträglichkeit und Unfähigkeit geäußert, stände nun aber auf dessen Seite, das wäre eine schlimme Treulosigkeit. Karl Kautsky trug seinem Verleger nichts nach. Er kannte ihn so genau, daß er mit Nachsicht feststellte: „Ich weiß zu gut, wie leicht ihm die Zunge durchgeht, wenn etwas nicht nach Wunsch geht, oder ein Gläschen Wein ihm alle Hemmungen raubt" (KK an VA, 26. 1. 1914, Adler u.a. 1954, S. 588).

Heinrich Dietz stand im Herbst 1913 noch ganz unter dem Schock, den ihm der Tod von August Bebel – einer der wenigen Freunde, die er überhaupt hatte – versetzt hatte. Er mochte die Ehrungen an seinem Geburtstag nicht persönlich entgegennehmen, hatte sich mit seiner Frau Helene ‘für ein paar Tage verkrochen’ (Mehring 1913). „Nach meinen Gefühlen ist das ein Pfingstfest, wobei der Pfingstochse eine jämmerliche Rolle spielt" (31. 7. 1913, Br. 535). Doch konnte er den Feiern nicht entgehen. Ihm waren die Lobesworte eher peinlich. In seinem Alter regte ihn solche Würdigung zu sehr auf, beklagte er sich, als er Kautskys Artikel in der „Neuen Zeit" gelesen hatte: „Ich bin ganz zusammengeknickt und weiß kaum, wie ich mich zurechtfinden soll. Ich danke Ihnen für Ihre warmherzige Freundschaft, die ich mir auch fernerhin zu erhalten suche. [...] Ich selbst bin noch in großer Aufregung, sie will sich gar nicht legen. Es war zu viel des Guten" (HD an KK, 1. u. 7. 10. 1913, IISG, K D VIII, Br. 536 u. 537).

August Bebel war am 17. August in der Schweiz beerdigt worden. Mehr als 80 Reichstagsabgeordneten gaben ihm das letzte Geleit. Schon einige Zeit davor hatte Bebel eine Notiz bei sich getragen, die vorsah, daß sich Heinrich Dietz zusammen mit Hermann Ull-mann und Hugo Heimann nach seinem Tode um seine nervenkranke Tochter Frieda kümmern sollten (Heimann 1932, S. 17ff.). Die drei waren von Bebel auch zu seinen Nachlaßverwaltern bestimmt worden (Heimann 1932; HD an KK, IISG, K D VIII, Briefe 548ff.). Glücklicherweise war für Bebels Tochter finanziell ausreichend gesorgt, stellte Heinrich Dietz erleichtert fest. „Wäre es anders, müßte der Klingelbeutel herumgehen. Stelle sich einer die Situation vor!" (15. 1. 1914, Br. 555). Wegen der schlechten Ertragslage aber konnte Heinrich Dietz noch nicht einmal die Verfügung in Bebels Testament einhalten, dessen halbe Hypothek auf dem Stuttgarter Geschäft mit 6.000 Mark abzulösen (HD an Hermann Ullmann, 21. 8. 1913, IML NL Bebel, 22/84). Das belastete ihn sehr, aber er konnte nicht anders handeln.

Heinrich Dietz legte unmittelbar darauf sein Amt im Seniorenkonvent des Reichstages nieder, ohne seinen Freund Bebel wollte er dort nicht mehr aktiv sein (Fraktion 1898 – 1914, S. 307). Heinrich Dietz fühlte sich immer müder werden. Zu viele der Weggefährten waren nun schon nicht mehr am Leben. Ende September 1907 war Julius Motteler in Leipzig gestorben, Ende Januar 1911 auch Paul Singer. Anfang Dezember 1911 hatten sich Paul und Laura Lafargue gemeinsam das Leben genommen (Mehring 1963, S. 479ff.). Heinrich Dietz hatte in den vergangenen Jahren viele Kontakte zu ihnen gehabt. Für ihn stand nun außerdem fest, daß er nicht wieder für das deutsche Parlament kandidieren wollte, sich vielmehr – nach den für ihn unerfreulichen Erfahrungen der letzten Jahre – aus dem (württembergischen) Parteileben noch weiter zurückzuziehen.

Nicht nur in der SPD bedeutete August Bebels Tod einen großen Verlust. Heinrich Dietz war noch einige Zeit hinterher persönlich so niedergeschlagen, daß er kurz nach Bebels Beerdigung zur Erholung wieder nach Norderney fahren mußte. Für die Struktur der Gesamtpartei markierte August Bebels Tod den letzten Anlaß zu einem umfassenden Generationswechsel in der Führungsgruppe.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges und die damit verbundene Verlängerung der Legislaturperiode auf unbestimmte Zeit hinderten Heinrich Dietz an einem baldigen Rückzug aus dem Reichstag. Selbst der Arbeit im Verlag wurde er langsam überdrüssig: „Wenn wir im Verlag nicht so außerordentlich sparsam wirtschaften würden, käme gar nichts dabei heraus. Und was dabei heraus kommt, fällt in den Parteisäckel" [Heinrich Dietz machte hier deutlich, daß sowohl in den Anfangsjahren als auch 1914 der Gewinn des Verlages von der Partei abgeschöpft wurde.] (HD an KK, 15. 1. 1914, IISG, K D VIII, Br. 555). Zudem litt Heinrich Dietz an seiner Isolation in der Partei, die sich besonders bemerkbar machte, als sein guter Freund Bebel nicht mehr bei ihm war. „Was Sie über die Vereinsamung sagen, ist leider nur zu richtig. Ich leide sehr darunter und spreche deshalb gar nicht davon. Es hilft ja auch nichts" (HD an KK, 21. 1. 1914, IISG, K D VIII, Br. 556).

Immerhin konnte der Stuttgarter Verlag 1914 – nachdem die Urheberrechte frei waren – endlich das „Kapital" von Karl Marx herausgeben: „Aus historischen und Nützlichkeitsgründen lasse ich das ‘Kapital’ in Hamburg setzen und drucken; was 1867 unserer Bewegung die Grundlage gab, wird 1914 die Aufklärung fortsetzen. Und Hamburg soll die Ehre behalten, bei dieser Arbeit mitgewirkt zu haben" (HD an KK, 8. 10. 1912, IISG, K D VIII, Br. 502).

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4.1.15. Der Erste Weltkrieg

Zur Mobilmachung und der Kriegserklärung stimmte auch Heinrich Dietz im Reichstag für die Bewilligung der Kriegskredite [Vgl. allgemein zum Reichstag 1914 – 1918 Morsey 1963. Zur Haltung der SPD: u.a. David 1966; Fraktion 1914-1918; Miller 1974. ] . Das noch 1913 von den deutschen und französischen Sozialdemokraten unterzeichnete Manifest gegen die imperialistische Rüstungspolitik (Text in: Dokumente und Materialien 1967, S. 445ff.) war vergessen – im Zuge der ‘Bedrohung’ Deutschlands durch das ‘blutrünstige Zarenreich’, gegen das die Sozialdemokraten so lange gekämpft hatten (Molkenbuhr, zit. bei Miller 1974, S. 55).

In Vergessenheit geraten war auch bei Heinrich Dietz, daß er noch ein Jahr zuvor in seinem Wahlkreis eine engagierte antimilitaristische Rede gehalten hatte. Als die Hamburger Sozialdemokraten 1913 insgesamt zu 20 Versammlungen einluden, sprach Heinrich Dietz in seinem Wahlkreis vor etwa 2.000 Teilnehmern. Er verurteilte damals die Kriegstreiberei auf dem Balkan sehr scharf. Ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges hob Heinrich Dietz unter ‘stürmischem, langanhaltendem Beifall’ hervor, daß einzig das Proletariat gegen Krieg und Rüstungswahnsinn stände. „Den Beschlüssen der Internationale entsprechend, wird es den Kampf gegen Rüstungen und für Volkswehr energisch aufnehmen. Aus dem Kampfe muß die Sozialdemokratie schließlich als Siegerin hervorgehen, denn sie ist heute die einzige Partei, die wahre Kulturinteressen vertritt" (HE 27[1913]Nr. 80, 6. 4.). Den Anträgen im Reichstag auf Genehmigung des Militäretats sowie für Steuererhöhungen aber stimmten die Sozialdemokraten anschließend zu („Hamburgischer Correspondent", 4. 7. 1913). Und auch die Trauer um Jean Jaurès, der am Vorabend der Kriegserklärung ermordet wurde, konnte Heinrich Dietz nicht zum Befürworter des Gewaltverzichts machen.

Gegen die Bewilligung der Kriegskredite regte sich in der Fraktion Widerstand. Als die ‘Rechten’ fraktionierten, notierte Eduard David in seinem „Kriegstagebuch" am Mittwoch, 2. Dezember 1914, wer zu ihnen gehörte und auf wen sie sich noch stützen könnten: „Blos, Stolten, Dietz treten nicht heraus, sind innerlich auf unserer Seite" (David 1966, S. 81; vgl. auch S. 139 sowie Sten.Ber. vom 2. 12. 1914). Es ist nicht mehr festzustellen, ob Heinrich Dietz eventuell zu den Unterzeichnern eines Papiers gehörte, das auf Initiative von Ludwig Frank revisionistische Abgeordnete verpflichtete, unter Bruch der Fraktionsdisziplin im Plenum für die Kriegskredite zu stimmen und danach ihre Mandate zur Verfügung zu stellen. Man hatte offenbar damit gerechnet, daß sich eine Mehrheit in der Fraktion gegen die Bewilligung der Kriegskredite aussprechen würde und wollte dem mit dieser Verpflichtungserklärung vorbeugen (Miller 1974, S. 46ff.).

Mit dem sofort verhängten Belagerungszustand war eine Pressezensur durch das Militär verbunden. Prophylaktisch wurden die „Gleichheit" und der „Wahre Jacob" ‘konfisziert’, d.h. verboten. Heinrich Dietz beschwerte sich beim Reichskanzler darüber und bekam vom Generalkommando des XIII. Armeekorps den Bescheid: Wenn die Zeitschriften „in kommender Zeit eine Haltung einnehmen und beibehalten, welche der gegenwärtigen Volksstimmung und den Beschlüssen der sozial-demokratischen Reichstagsfraktion entspricht", würde man von präventiven Maßnahmen absehen (HD an KK, 9. 8. 1914, IISG, K D VIII, Br. 573). Auch die 14tägig erscheinende „Neue Zeit" mußte nun noch genauer durchgesehen werden, denn die Zensoren waren sehr penibel, warnte Heinrich Dietz seinen Chefredakteur Kautsky: „Je weiter von der Zentralsonne Berlin entfernt, umso strenger werden die Militärs unserer Presse gegenüber. In Berlin konziliant, in den fernen Bezirken eisenhart" (8. 8. 1914, Br. 572). So klagte Heinrich Dietz im zweiten Kriegsjahr, daß die Zensur insbesondere dem „Wahren Jacob" schwer zu schaffen machte, „und dabei ist der W.J. der Nährvater" (6. 7. 1916, Br. 625).

Heinrich Dietz war zu Kriegsbeginn voller Hoffnung auf ein schnelles – und für Deutschland siegreiches – Ende: „Über Dauer und Ausgang des Krieges ist kaum ein Urteil zu fällen. Schlimm wäre es, wenn er bis zum Winter dauern sollte. Mit Englands und Rußlands Hilfe ist das möglich. Die Ernte und das Vieh Ostpreußens ist schon jetzt verloren. Ich habe gehofft, daß der Kriegsschauplatz im Osten sich auf polnischem und litauischem Boden befinden würde, das scheint aber vorläufig nicht der Fall zu sein. Englands raffinierte Politik – sich selbst zu schonen und andere zu hetzen – wird jetzt durchsichtig. Wenn Deutschland-Österreich – wie zu wünschen – Sieger bleiben, so werden sie blutarme Sieger sein und noch lange blutarm bleiben" (HD an KK, 26. 8. 1914, IISG, K D VIII, Br. 574).

Sein jüngerer Sohn Franz, der seinen Militärdienst als Grenadier abgeleistet hatte (HD an WL, 4. 7. 1897, IML, NL Liebknecht 34/84), wurde schnell eingezogen und zunächst an die russische Grenze geschickt. Bevor Franz Dietz seine Heimat verließ, bat er seinen Vater brieflich um Vergebung für all den Ärger, „den er mir allerdings reichlich bereitet hat". Auch die Einberufung der Geburtsjahrgänge 1871/1870 war bald abzusehen, dann hätte auch der ältere Sohn Fritz Soldat werden müssen. Sein Vater war ganz damit einverstanden: „Da er mit der Waffe gedient hat, auch sonst gesund ist, soll er nur mitgehen" (ebd.). Fritz Dietz wurde schließlich zum Wachdienst eingesetzt (HD an Helene Dietz, 17. 8. 1916 [Kopie im Privatbesitz und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von F. Pospiech.] ).

Beide Söhne kamen aus dem Krieg zurück. Heinrich Hans Geiger aber, Sohn seiner verstorbenen Tochter Anna, wurde am 1. Juli 1916 in der Somme-Schlacht von englischen Granatsplittern schwer am Kopf getroffen: „Die fünftägige Offensive bringt uns dem Frieden um keinen Schritt näher. Es kostet nur ungezählte Menschen. Gerade jetzt fallen die Opfer auch von vielen meiner Bekannten, die Söhne im Feld haben. Auch mein Enkel Heinrich Geiger scheint darunter zu sein" (HD an KK, 6. 7. 1916, IISG K D VIII, Br. 625). Heinrich Dietz war richtig unterrichtet worden, Heinrich Geiger starb wenige Tage danach, am 9. Juli 1916, im Feldlazarett in der Nähe von Bapaume [Zwischen Arras und Amiens.] (StandA Stg.). Der Tod seines Enkels traf Heinrich Dietz sehr (Geiger-Hof 1963, S. 42).

Clara Zetkin, die Ende Juli 1915 wegen eines antimilitaristischen Flugblattes (‘Frauen des arbeitenden Volkes! Wo sind eure Männer? Wo sind eure Söhne?’) in Stuttgart verhaftet und nach Karlsruhe gebracht worden war (HStA Stg. E 150, Bü 2051 I), erkrankte im Gefängnis schwer. Heinrich Dietz fühlte sich trotz der politischen Differenzen für sie verantwortlich und stellte 10.000 Mark Kaution – für die entschiedene Antimilitaristin ausgerechnet in Kriegsanleihen. Philipp Scheidemann bezeichnete diesen Schachzug in seinen Erinnerungen hämisch als ‘einen ausgezeichneten Witz, den dem Genossen Dietz so leicht keiner nachmachte’ (1928, S. 277). „Clara ist am Montag 9. 10. 1915, agr. aus dem Gefängnis entlassen worden", schrieb Heinrich Dietz an Karl Kautsky. „Ich habe sie in Karlsruhe abgeholt. Sie war ganz munter" (HD an KK, 13. 10. 1915, IISG, K D VIII, Br. 585). Offiziell galt Haftunfähigkeit als Entlassungsgrund, die Behörden fürchteten wohl eine Zunahme des ohnehin schon großen öffentlichen Interesses an Clara Zetkins Gesundheit (Dornemann 1960, S. 242 und 1973, S. 279ff. [Dornemann nannte den 12. 10. 1915 als Entlassungstag (ebd.).] ).

Heinrich Dietz fühlte sich jetzt zunehmend unwohler (15. 7. 1916, IISG, K D VIII, Br. 626). Seine Verlagsgeschäfte gingen immer schlechter, selbst der „Wahre Jacob" machte Defizite (Br. 627). Um Hilfe beim Parteivorstand wollte er jedoch nicht bitten: „An das Rentamt dagegen gehe ich nicht. Das kümmert sich nicht um mich, warum soll ich da nicht Gegenseitigkeit üben!" (28. 8. 1916, Br. 629). Sorgen machte ihm die große Zahl der Freiexemplare, mit der die Parteipresse, die Vorstandsmitglieder und die Gewerkschaftspresse beliefert werden mußte. Dazu kam, daß die Postverbindungen nach Amerika unsicherer wurden, die Sendungen zum Teil gestohlen wurden, und die überseeischen Buchhändler ihre Bestellungen widerriefen. Man hätte wohl Schriften durchschmuggeln können, vermutete Heinrich Dietz. Dazu hätte der Verlag aber Vertrauenspersonen gebraucht, die man nicht hatte (HD an KK, 2. 10. 1916, Br. 634). Anhaltende Steigerungen des Papierpreises ließen ihn für den Zeitschriftenverlag das Schlimmste annehmen, der Buchverlag war schon ganz am Ende der Zahlungsfähigkeit angelangt.

Überhaupt, so meinte Heinrich Dietz, war es nur eine große Portion Glück gewesen, die bisher die Bewegung insgesamt vorangebracht hätte, nämlich: „Wenn Engels nicht seine Mama und geschäftlich Schwein gehabt hätte, wer kann sagen, was aus ihm, Marx und dem Kapital geworden wäre" (11. 9. 1916, Br. 630).

Heinrich Dietz persönlich ging es finanziell schlecht, befand er: „Nebenbei habe ich jetzt kaum soviel, als zum Leben erforderlich" (2. 6. 1917, Br. 648). Die kriegsbedingte Not zog bei Helene und Heinrich Dietz ein, und manchmal saßen beide vor einem einzigen Hering mit wenig Pellkartoffeln, erinnerte sich die Enkelin Anni Geiger [Die Schriftstellerin Anni Geiger-Hof (auch Geiger-Gog) verfaßte ihre sehr positiv gehaltenen Erinnerungen an den Großvater auf Wunsch des Verlages für den Almanach zu Heinrich Dietz’ Ehren (Alma-nach 1963).] . Heinrich und Helene Dietz waren auf die offiziellen Lebensmittelzuteilungen angewiesen, denn sie hatten in Württemberg keine direkten freundschaftlichen oder verwandschaftlichen Verbindungen auf das Land. Auch das war ein Zeichen der Isolation, denn dem hoch geachteten Parteiverleger hätten die Genossen sicherlich gern geholfen. Andererseits wäre es gegen Heinrich Dietz’ Überzeugung gewesen, besser als die übrige Bevölkerung versorgt zu werden, so stellte es die Enkelin dar (Geiger-Hof 1963, Manuskript S. 6). Auch in Berlin wurde die Versorgungslage während des Krieges immer schlimmer. Die Knappheit traf besonders den Abgeordneten, der in der Stadt nicht heimisch war. Fleisch war meist gar nicht zu bekommen, selbst Wurst war Heinrich Dietz zu teuer geworden, 6 Mark das Pfund: „Ich kaufte natürlich nichts" (HD an Helene Dietz, 21. 5. 1916 [Kopie im Privatbesitz und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von F. Pospiech.] ). In seinem Berliner Hotel Wettiner Hof hatte ihm einmal ein Zimmermädchen Butter angeboten, das Pfund allerdings zu 10 Mark. Nach langem Zögern lehnte Heinrich Dietz jedoch ab. Er wollte es nicht besser als andere Menschen haben, entschuldigte er sich und seine Sparsamkeit bei seiner Frau. Helene Dietz war entsetzt! (Geiger-Hof, ebd.)

In den Briefen an Karl Kautsky gab es neben geschäftlichen Dingen und dem Austausch von politischen Einschätzungen zwischen Parteigenossen von nun an auch Andeutungen, daß Heinrich Dietz abgemagert wäre. Die knappen Lebensmittel spielten noch nach dem Krieg eine wichtige Rolle, und so dankte er Frau Kautsky für Schinken und drei ! Eier, die ihm den Berliner Aufenthalt so erträglich gemacht hätten. Später berichtete er von Apfelsinen und Zitronen, die 1919 in Berlin nicht zu haben waren Br. 673 u. 684). Sorgen machte sich Heinrich Dietz – der selbst an einer schmerzhaften Venenentzündung litt und in Berlin nur herumhumpeln konnte – um seine Frau, die ebenfalls nicht ganz gesund war.

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4.1.16. ‘Onkel Grog von der Woterkant’ und ‘Papa Dietz’ – privat

Auf seine Weise versuchte Heinrich Dietz, Helene etwas Gutes zu tun, als er zurück in Stuttgart und sie trotz der Kriegswirren zur Erholung gereist war: „Ich lege Dir 20 Mark bei für die Reisekosten nach hier. Dann kannst du deine hundert Mark bis auf den letzten Pfennig totschlagen. [...] Sollte es Dir an Geld fehlen, so hole ich das Nötige aus meinem alten Strumpf und schicke es Dir" (17. 8. 1916 [Kopie im Privatbesitz und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von F. Pospiech.] ). Und aus Berlin: „Sobald als irgend möglich komme ich zurück und hoffe, dich wieder wohl und munter anzutreffen. Nimm dich aber recht in acht, damit kein Rückfall eintritt. Herzlichen Gruß und Kuß von Deinem HDietz" (29. 11. 1916). Er hatte so sehr auf einen Brief von seiner Frau gewartet, daß er am selben Tag noch einmal schrieb: „Endlich habe ich Nachricht von Dir. Doris’ Brief war mir eine wahre Erlösung" [Gemeint war Doris Dreher, die jüngere Tochter. Kopien der Briefe im Privatbesitz und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von F. Pospiech.] .

Auffällig blieb, daß Heinrich Dietz in dem umfangreichen Briefwechsel mit Karl Kautsky sich wohl an manchen Stellen mit dessen Familienverhältnissen befaßte, sich auch bedauernd zur Trennung von Louise Kautsky äußerte (der Anlaß des Mitte 1892 ausbrechenden Streites zwischen Karl Kautsky und seiner ersten Frau ging – so schilderte es Kautsky in seinen Erinnerungen – gar nicht von ihm, sondern von Heinrich Dietz aus, der vorgeschlagen hatte, daß die erste Louise Kautsky mit einem Zusatz zu ihrem Namen zeichnen sollte [Zwischen der ersten Louise Kautsky, die inzwischen Friedrich Engels in London den Haushalt führte und dort angefangen hatte, für Wiener Parteizeitungen zu schreiben, und ihrer ehemaligen Schwiegermutter, der in Österreich bekannten Minna Kautsky, sollte es ‘zu einer Reihe von Verwechslungen’ gekommen sein. Und als Kautsky ‘gelegentlich’ mit Heinrich Dietz darüber sprach, schlug dieser vor, Louise Kautsky könnte doch dem (Ehe - )Namen ihren Geburtsnamen hinzufügen: Heinrich Dietz hätte gemeint, „solchen Verwechslungen wäre leicht abzuhelfen, wenn die neue Schriftstellerin Kautsky sich einen Namen beilegte, der sie von der älteren unterschiede. Er meinte nicht einmal einen besonderen nom de guerre, sondern einfach die Hinzufügung des Mädchennamens zum Namen des Gatten. Wenn meine frühere Frau also zeichnen würde Kautsky-Straßer" (Engels/Kautsky 1955, S. 339). Daraus ergab sich eine ernste Kontroverse nicht nur zwischen dem ehemaligen Ehepaar Kautsky; Friedrich Engels als enger Freund von Louise Kautsky war seinem früheren Vertrauten sehr böse.] ). Seine Frau Helene erwähnte Heinrich Dietz in seinen Briefen dagegen erst sehr viel später. 1893 schrieb er an Karl Kautsky, daß er vorhabe, „etwas herumzukutschieren und dabei auch Sie und Ihre Familie zu besuchen. Übernachten möchte ich auf dem Schafberg." Ergänzend – und wenig freundlich – fügte er hinzu: „Die Alte will mit, und da muß ich wohl zu Willen sein" (HD an KK, 19. 7. 1895, IISG, K D VIII, Br. 215). Grüße von seiner Frau gehörten dann zur gewöhnlichen Abschiedsformel in Heinrich Dietz’ Briefen etwa seit Ende 1897, IISG, K D VIII, z.B. Br. 227). Einen schweren Schreck bekam er, als Helene Dietz Anfang 1910 ernstlich krank wurde und mit einer Kopfrose im Krankenhaus lag: „Einige Tage gings hart her" (HD an KK, 21. 1. 1910, IISG, K D VIII, Br. 442).

Auch aus einem Brief von Clara Zetkin ging hervor, daß Helene Dietz wohl mehr im Hintergrund stehen mußte, wenn ihr Mann Besuche empfing. Aus dem Moskauer Hotel Metropol schrieb Clara Zetkin an Anna Geigers Tochter: „Ihre Großmutter aber, Helene, war seine ebenbürtige Gefährtin, Nicht alle, die in dem gastfreien Hause Dietz verkehrten, erkannten den hohen Wert von Helene. Ich rechne es zu den Glücksfällen meines Lebens, daß ich diesen Wert sofort erkannte und gegen alle in die Schranken trat, die glaubten, Helene als ‘Nebensächlichkeit’ behandeln zu dürfen. Ich war sozusagen Helenes treuester Ritter" (an Anni Geiger-Hof, 5. 6. 1932, IML, NL Zetkin, 5/75).

Heinrich Dietz berichtete in den Briefen an Karl Kautsky über seine Kinder und ihre Ehepartner relativ wenig. Dabei schien es doch verschiedentlich Probleme gegeben zu haben: Die Briefe von Julie Bebel enthielten 1906 darüber einen deutlichen Hinweis, als sie ihren Mann nämlich aufforderte, dem jüngeren Dietz-Sohn nicht noch einmal Geld zu leihen (6. 5. 1906, IML, NL Bebel, 22/143). August Bebel sollte Franz Dietz auch keinesfalls die Rückzahlung eines Darlehens erlassen, der würde so eine Geste nur falsch verstehen und noch mehr Geld fordern, anstelle ernsthaft an eine Erstattung zu denken – „so wenig wie sein Schwager". Hier mußte es sich um Gustav Dreher gehandelt haben, denn Julie Bebel ergänzte im nächsten Brief: „Die arme kleine Dreher und auch die Eltern tun mir leid, solches Malheur mit den Kindern zu haben." Sie befand dann, weil „die Eltern z.T. mit Schuld" wären, sollte sich Heinrich Dietz doch seines Sohnes annehmen, das wäre ja seine Pflicht, „er kann es sehr gut" (6. und 16. 6. 1906, IML, NL Bebel 22/143).

Ohne sich dermaßen explizit darüber zu äußern, klang in seinen Briefen aber doch an, daß Heinrich Dietz versuchte, einen engen Kontakt zu seinen Kindern und Enkeln zu halten. Doris Dreher war mit ihren Kindern ein gern und oft gesehener Gast im Elternhaus. Die Enkelin Gertrud wohnte überhaupt ganz bei den Großeltern, auch Anni Geiger kam jeden Tag zum Mittagessen von der nahegelegenen Schule, bevor sie sich auf den langen Heimweg machte (Geiger-Hof 1963). Auch wenn sie sich nicht so entwickelten, wie es in einem sozialdemokratischen Elternhaus zu erwarten gewesen wäre [Nach Clara Zetkin war Anni Geiger-Hof die einzige, die den Weg zur Bewegung gefunden hatte (5. 6. 1932, Brief im IML, NL Zetkin, 5/75). Heinrich Dietz’ Enkelin veröffentlichte in den 30er Jahren einen Reisebericht aus Moskau (GV-neu 1965).] , nahm Heinrich Dietz doch an ihrem Leben Anteil. Er beeinflußte sie nicht politisch, rühmte seine Enkelin Anni Geiger, doch versuchte er, ihnen allen den Weg zu ebnen. Seinem Bruder Georg gegenüber fühlte er sich ebenso verantwortlich. Er holte ihn gleich nach Stuttgart, als dieser in den 80er Jahren in Hamburg in Schwierigkeiten geraten war, und verschaffte ihm anschließend auch in Hamburg eine angemessene Stellung [Ein naher Verwandter im Hamburger Geschäft garantierte auf der anderen Seite auch einen ungestörten Nachrichtenfluß aus dem Norden.] . An das gastfreundliche Haus in der Stuttgarter Tübingerstraße [1900 war die Familie umgezogen, das Haus in der Tübinger Str. 71 lag direkt gegenüber der Dinckelackerschen Brauerei (Adreßbuch Stg.). Heinrich Dietz war schon ab 1899 als Eigentümer eingetragen, ab 1907 ‘gehörte’ es Fritz Dietz. Im Haus wohnte lange Zeit auch die Tochter Doris Dreher mit ihrer Familie.] erinnerte sich nicht nur Clara Zetkin gern, Berthold Heymann fand geradezu begeisterte Worte über ‘den prächtigen Menschen und Kameraden Dietz’: „Wer das Glück hatte, mit ihm in Familienverkehr zu stehen, Stunden froher, zwangloser Geselligkeit mit ihm und bei ihm zu verbringen, der hat erst den ganzen Reichtum dieser Persönlichkeit kennen und ihn lieben gelernt" (Heymann 1930).

Die Enkelin Anni Geiger berichtete über ihren Großvater mit nachdrücklicher Verehrung. Der Eintritt durch die Glastür in die halbdunkle Diele des Großelternhauses vermittelte Ruhe und Geborgenheit, erinnerte sie sich, verbunden damit war aber auch der Drang, hier müßten Gefühle im Zaum gehalten werden. Nie hätte sie von Heinrich Dietz ein lautes oder unfreundliches, gar unbeherrschtes Wort gehört. Der Großvater bestellte sie, die ihre Mutter so früh verlor und schon als Kind gern las, eines Tages „nach dem Essen mit frischgewaschenen Händen" zu sich, notierte Anni Geiger-Hof, und eröffnete ihr, er würde von nun an ihren Lesestoff auswählen. Den Anfang machte er mit einem Buch, das zu seiner eigenen Lieblingslektüre gehörte: Es war der „Robinson Crusoe". „Von jenem Tag ab mußte ich mir alle Bücher von Großvater selbst geben lassen. Er sprach mit mir über das Gelesene und forderte mich immer zu eigener Stellungnahme auf. Er nahm mich ernst und sprach auch so zu uns" (1963, Manuskript, S. 2f.).

Ohnehin hockten die Enkelkinder manche Stunde auf der Trittleiter in Großvater Dietz’ Bibliothek vor den hohen Regalen, die bis in das Zimmer hinein aufgestellt waren, um genügend Platz für all seine Bücher zu schaffen. Ging es aber um eine ernste Unterredung, so bestellte Heinrich Dietz seine Enkel – und vorher wahrscheinlich genau so seine eigenen Kinder – in das Arbeitszimmer im Verlag. Dort mußten die Kinder zunächst einen Raum durchqueren, in dem die Redakteure saßen. Alle Angestellten kannten die Kinder natürlich gut. Dieser Gang war allen sehr peinlich: „Recht klein und zerknirscht kam man bereits beim Großvater an", so daß er kein ‘Donnerwetter’ mehr loslassen mußte, sondern mit seinen ernsten Ermahnungen meistens Erfolg hatte (ebd., S. 5).

An seinem Geburtstag am 3. Oktober versammelte sich regelmäßig die ganze große Familie im Garten der Großeltern. „Es gab Lampions und Knallfrösche, Nüsse und Berliner Pfannkuchen – und einen gütigen alten Mann", der sich über die selbstgemachten Geschenke seiner Enkelkinder herzlich freute (ebd., S. 3).

Am Ende seines Lebens nahmen die Bemerkungen über seine Frau in Heinrich Dietz’ Briefen deutlich zu. An Helene Dietz selbst äußerte er sich sehr besorgt, sorgte sich über ihr Wohlergehen im Kriege, über eine neue Erkrankung und die erhoffte baldige Besserung, verabschiedete sich auch ungewöhnlich liebevoll: „Nun lebe wohl und gehe der vollen Genesung entgegen. Auf Wiedersehen! Herzlichen Gruß und Kuß Dein HDietz" (HD an Helene Dietz, 29. 11. 1916 [Kopie im Privatbesitz und freundlicherweise zur Verfügung gestellt von F. Pospiech.] ).

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4.1.17. Parteispaltung

Immer noch war Heinrich Dietz’ Arbeitstag streng geregelt, dauerte bis spät in die Nacht (Geiger-Hof 1963, S. 39). 1916 übergab er der Deutschen Bücherei in Leipzig einen großen Teil seiner eigenen Bibliothek. Der Börsenverein hatte nach Gründung der Deutschen Bibliothek in Leipzig seine Mitglieder um unentgeltliche Überlassung aller Verlagserzeugnisse gebeten [Schreiben des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, 20. 1. 1914 (Deutsche Bücherei 1915). Die Deutsche Bücherei verpflichtete sich andererseits zur sachgemäßen Aufbewahrung aller Bücher und Zeitschriften (Schenkungsverpflichtung – Formular der DBü , ebd., freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Räuber, Leiter der Abteilung Sozialistica in der DBü).] . Im Jahresbericht der Deutschen Bücherei für 1916 bedankte sich der Börsenverein: „[...] hat Herr Verlagsbuchhändler Heinrich Dietz in Stuttgart seine umfangreiche und in ihrer Vollständigkeit wohl einzigartige, wertvolle sozialdemokratische und sozialistische Privatbibliothek der Deutschen Bücherei in dankenswerter Weise zum Geschenk gemacht" [Eine Liste der eingegangenen Bücher wurde freundlicherweise von Herrn Räuber erstellt. Zahlreiche Bücher enthalten einen Besitzstempel: J.H.W. Dietz, Stuttgart. Lohse schrieb, aus den Zugangsbüchern ginge hervor, daß die Schenkungen 1916 und 1917 in der Deutschen Bücherei eingingen (1970, S. 41). Es handelte sich also nicht um eine testamentarische Verfügung, wie die Formulierungen bei Lohse selbst (1970, S. 41) und deshalb auch bei Emig/Schwarz/ Zimmermann (1981, S. 9, FN) nahelegen.] (Jahresbericht 1917, S. 31). Es handelte sich um 204 Buchtitel aus den Jahren 1856 bis 1913 – darunter befanden sich einige Mehrfachexemplare – und 5 Serien- bzw. Zeitschriftentitel. Vielleicht hatte Heinrich Dietz die Motivation geleitet, Veröffentlichungen aus dem sozialdemokratischen Parteiverlag – und gleichzeitig Zeugnisse seines Lebenswerks – in der deutschen Nationalbibliothek archiviert und dokumentiert zu sehen. Diese Schriften bildeten später den Grundstock der Leipziger ‘Sammlung Sozialistica’ (Wissenswertes 1990). Unter den Geschenken war auch ein Exemplar der russischen Erstausgabe von „Was tun?" [Das Exemplar der Erstausgabe Lenins „Was tun?" nimmt ‘einen Ehrenplatz in der Sondersammlung Sozialistica’ der Deutschen Bücherei ein (DBü-Jahrbuch 1987, S. 62).] .

Gegen Ende des Weltkrieges gab es wenigsten einen Lichtblick. Heinrich Dietz konstatierte nämlich, daß „das bürgerliche Sortiment jetzt die eigentliche Abnehmerin unserer Literatur geworden ist. Wie die Partei, so hat auch das bürgerliche Sortiment seit längerer Zeit schwachen Absatz gezeigt. Während der Kriegszeit ist die Partei immer schwächer geworden, das Sortiment aber seit diesen Jahren kräftiger im Absatz" (HD an KK, 7. 9. 1917, IISG, K D VIII, Br. 652).

1917 war das Jahr der endgültigen Parteispaltung. Seit Kriegsbeginn verhärteten sich die politischen Fronten zunehmend. Heinrich Dietz nahm – als er sich entscheiden mußte – auf der Seite der Gemäßigten Stellung, stimmte im Januar 1916 in der Fraktion gegen Karl Liebknecht (Fraktion 1914 – 1918, S. 155) und trat in Hamburg kurz danach als Redner der Mehrheit auf einer Versammlung der Parteidelegierten auf (Vw 36[1916]Nr. 25, 26. 1. 1916). In seinem Referat legte er den Schwerpunkt auf die Disziplin: Nur diese hätte die Partei zu ihren Erfolgen gebracht, und deswegen wäre die abweichende Erklärung der 20 Reichstagsabgeordneten scharf zu verurteilen. Eine Spaltung der Fraktion bedeutete unweigerlich auch die Spaltung der Partei. Deswegen billigte Heinrich Dietz noch einmal ausdrücklich die Entscheidung der Fraktion, im August 1914 den Kriegskrediten zuzustimmen. Im Anschluß an seine Rede weigerten sich die Hamburger Sozialdemokraten, den Vertreter der Minderheit (Haase) auch nur anzuhören („Hamburger Nachrichten", 26. 1. 1916). Als die Minderheit im März im Reichstag gegen den Notetat sprach, war Heinrich Dietz nicht in Berlin. Er gab später brieflich seine Zustimmung zur Maßregelung der Gruppe um Haase (Fraktion 1914 – 1918, S. 176, S. 181). Toleranz zwischen den ehemaligen Bundesgenossen und Besinnung auf gemeinsame Ziele waren verloren gegangen. Kräfteverzehrender Kleinkrieg und Gehässigkeit waren an die Stelle der politischen Auseinandersetzung getreten (Miller 1974, S. 396f.).

Zum Bruch der entzweiten sozialdemokratischen Gruppen in Württemberg war es schon im November 1914 nach der Absetzung von Arthur Crispien gekommen. Der Nachfolger von Wilhelm Keil wurde als Chefredakteur der „Schwäbischen Tagwacht" entlassen, und Wilhelm Keil übernahm den Posten wieder (vgl. HStA Stg. E 150, Bü 2051 I). Diese Maßnahme geschah sehr gegen den Willen der Parteimitglieder. Als selbst ein Vermittlungsversuch des Berliner Parteivorstandes scheiterte (Mann 1977; vgl. auch Greiffenhagen 1980 a), trennten sich die oppositionellen Parteimitglieder von der Mehrheit. In Württemberg teilte sich deswegen erstmals eine sozialdemokratische Landtagsfraktion in ‘Un-abhängige’ und ‘Mehrheitssozialisten’. Nach offizieller Gründung der USPD am 13. Okto-ber 1917 schloß sich die oppositionelle Gruppe um Arthur Crispien und Friedrich West-meyer sofort der Reichsorganisation an.

Heinrich Dietz weigerte sich, in seinem Verlag auch nur einer der rivalisierenden Strömungen Raum zu geben. Er ‘teilte nach drei Seiten Absagen aus’ und sperrte den Verlag für die Kontrahenten: „Für die Zeitschriften kann ich nicht verantwortlich gemacht werden, wohl aber für den Verlag. Er soll während des Krieges nicht der Tummelplatz der Streithähne sein" (30. 4. 1917, IISG, K D VIII, Br. 644). Eine große Gruppe Autoren der Stuttgarter Verlage, in denen nach der innerparteilichen Arbeitsverteilung die Theoretiker ihre Debattenbeiträge veröffentlichten, hatte sich auf die Seite der USPD gestellt. Die exponiertesten unter ihnen waren Clara Zetkin und Karl Kautsky. Auch die Veröffentlichungen weiterer Schriften von Rosa Luxemburg lehnte Heinrich Dietz ab (Nettl 1967, S. 593).

Bis zuletzt hatte Heinrich Dietz gehofft, daß eine Versöhnung der Opponenten mit der Gesamtpartei möglich sein könnte: „Die Parteispaltung, die so überflüssig wie ein Kropf ist, trägt das Nötige dazu bei, um allen die Besinnung zu rauben" (12. 12. 1917, Br. 660). Dabei war er sicher, daß die Spaltung auch wieder überwunden und sich die Parteiteile wieder vereinigen würden: „Die Weltgeschichte regelt alles wieder zusammen, es wird vergeblich sein, ihr Widerstand zu leisten" (3. 1. 1918, Br. 665).

Dabei war es so wichtig, gegen Kriegsende schon an einen Neuanfang zu denken und rechtzeitig die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Kopfschüttelnd kommentierte Heinrich Dietz die aus seiner Sicht verantwortungslose Zeitvergeudung: „Die Partei selbst ist indifferent geworden in allen ihren Teilen. Die althergebrachten Begriffe sind dermaßen durcheinandergerüttelt, daß bei keinem Teil von einer kleinen Einsicht gesprochen werden kann. Nur ein kleines Häuflein ist nachgeblieben und nicht begriffsstutzig geworden. Es wird Jahre dauern, bis ein Ausgleich vollzogen sein kann. Kommen wird er und diejenigen erwerben sich ein großes Verdienst um die Neuaufbauung sic, die wissenschaftliches Material herbeischaffen zum neuen Werden" (26. 3. 1918, Br. 670).

Zunächst sah Heinrich Dietz allerdings mit an, wie der Parteivorstand Clara Zetkin als Redakteurin der „Gleichheit" nach 25 Jahren und Karl Kautsky nach 35 Jahren Herausgabe der „Neuen Zeit" entließ. Beide konnten sich von ihren Lesern nicht einmal mehr direkt verabschieden, erst die „Leipziger Volkszeitung" gab ihnen dazu Gelegenheit. Clara Zetkin schied von der „Gleichheit" mit Worten des Dankes für alle an der Zeitschrift Beteiligten, „zuletzt und nicht am wenigsten für den Mann, der die Seele des Stuttgarter Unternehmens ist: für Heinrich Dietz, der der ‘alten’ Gleichheit bis zu ihrer letzten Nummer als einsichtsvoller, weitschauender, erfahrener Berater, Freund, Wegbereiter zur Seite gestanden ist" (Zetkin 1917). Der ‘Freund und Berater’ hatte nichts gegen die Entlassung der beiden politisch unerwünschten Redakteure unternommen (LVZ, 4. 10. 1918). Karl Kautsky resümierte dann auch bitter: „Der Schlag, den die Scheidemänner gegen sie die NZ, agr. geführt haben, trifft nicht nur die deutsche Sozialdemokratie" (Kautsky 1917), und gelobte ‘an der Bahre der gemeuchelten Zeitschrift’, sie zu rächen!

Heinrich Dietz mußte zusehen, wie der Ertrag seiner gesamten Arbeit für den Verlag ihm in den Kriegsjahren unter den Händen zerrann. Er fühlte sich zunehmend alt, resigniert und den Anforderungen nicht mehr gewachsen: „Sie haben recht", schrieb er an Karl Kautsky, zu dem er nach wie vor guten Kontakt hielt, „das Beste vom Leben haben wir gehabt. Mir genügt es vollständig. Ich verlange nicht noch mehr. Gewiß wird eine bessere Zeit kommen – ob sie mir aber passen wird, bezweifle ich. Doch darum wird sich die Weltgeschichte verflucht wenig kümmern. Ich danke fürs Genossene und wünsche den Nachkommenden guten Appetit und dito Verdauung" (7. 9. 1917, Br. 652). 1917 wurde Heinrich Dietz wieder einmal schwer krank und mußte mehrere Wochen mit einer Venenentzündung pausieren (4. 9. 1917, Br. 651; BA-Po ). Im Herbst versuchte er, die Arbeit erneut aufzunehmen, Heinrich Dietz war jedoch zu früh an sein Pult zurückgekehrt. Er mußte im Krankenhaus behandelt werden und fuhr anschließen noch einmal zur Kneipp-Kur (29. 11. 1917, Br. 658). So recht heilte sein Bein aber gar nicht mehr aus.

Vieles mußte in diesen Wochen und Monaten ungetan liegen bleiben, obwohl er gern seine Sachen geregelt hätte. Denn Heinrich Dietz rechnete damit, nicht mehr lange Zeit zur Verfügung zu haben: „Sollte ich bald das Erdenjammertal verlassen, was ich vermute", so hoffte er doch, wenigstens Berlin noch einmal wiedersehen zu können, um „manches dort zu ordnen, was später Schwierigkeiten machen könnte" (23. 1. u. 11. 2. 1918, Br. 668 u. 669).

Die Aussichten auf einen Frieden schienen ihm im dritten Kriegsjahr endlich besser zu werden, dazu erhoffte er dringend nötige Veränderungen in Rußland, an das er sich immer noch gern erinnerte (Br. 684). Heinrich Dietz hatte auch einen guten Rat parat: „Bebel – wenn er Russe gewesen wäre und Diktator dazu – hätte ihn den Frieden, agr. gemacht und dazu den Staatsbankrott erklärt. Aber Kerenski! [...] Er führt Rußland in eine unglaubliche Situation, aus der kaum eine Rettung möglich ist" (6. 8. 1917, Br. 650). Die Revolution in Rußland und eine Sowjetunion unter den Bolschewiki fanden nicht seine Zustimmung. Heinrich Dietz warnte Karl Kautsky sogar vor einer vorschnellen Reise dorthin, das wäre noch viel zu gefährlich.

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4.1.18. Nachkriegszeit

Als am Ende des Krieges der Untergang der deutschen Monarchie immer wahrscheinlicher wurde, Philipp Scheidemann die Deutsche Republik ausrief und Friedrich Ebert als erster Sozialdemokrat Reichskanzler wurde, als große Teile der Bevölkerung Deutschlands sich auf eine Demokratie vorbereiteten, stieg das Interesse an Literatur der Sozialdemokratie in bürgerlichen Kreisen wieder sprunghaft an. Wo bisher die Schriftsteller Mühe hatten, ihre Werke zu veröffentlichen, gab es nun Angebote in größerer Zahl: „Ich glaube es gern, daß jetzt die Verleger nach sozialdemokratischen Schriften gieren, das ist der Witz der Weltgeschichte" (HD an KK, 9. 12. 1918, Br. 679). Ein gutes Jahr später stellte Heinrich Dietz sogar fest: „Jetzt ist die Bourgeoisie hinter der soz. Literatur her wie der Teufel auf eine arme Seele. Wie lange noch?" (27. 2. 1920, Br. 692).

Wie Ironie des Schicksals mutet es an, daß die parteieigenen Verlage mit der Produktion nun gar nicht nachkommen konnten. Die zu geringen Kapazitäten sowie die kriegs- und nachkriegsbedingte Papierrationierung verhinderten, daß die steigende Nachfrage mit hohen Gewinnen in Parteihand verbleiben konnten (HD an KK, 16. 12. 1918, IISG NL Kautsky, D VIII, Br. 680): „Wenn die bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften à la Lenin-Radek-Trotzky verboten worden wären, hätten die sozialdemokratische Presse Papier im Überfluß!" (16. 12. 1918, Br. 680). „Wer heute keine sichere Papierfabrik hinter sich hat, kann größere Werke überhaupt nicht mehr herausgeben", schrieb Heinrich Dietz an Karl Kautsky. Der Grund dafür war, daß die Papierpreise besonders stark stiegen. Gegen die Konkurrenz zum Beispiel der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, die selbst drei Papierfabriken besaß und zusammen mit einem weiteren Verlag Lassalles Briefwechsel mit Karl Marx herausbringen wollte, konnte der Parteiverlag in Stuttgart natürlich nicht ankommen (1. 4. 1920, Br. 693).

Das alles verbitterte Heinrich Dietz, der auch noch feststellen mußte, daß bisher durch Verlag und Druckerei finanzierte Sozialdemokraten – wie Wilhelm Keil und Wilhelm Blos – nun Karriere im republikanischen Nachkriegsdeutschland machten: „Mein Versprechen an Bebel und Singer, das Geschäft hier zu halten, bindet mich nun seit bald 14 Jahren. Meine Mitarbeiter sind samt und sonders in die Ministerkarriere eingetreten, und ich muß wie ein Bauer das Land bebauen, um Brot für alle zu schaffen" (ebd.). Oft kamen die Kontrahenten zu Heinrich Dietz, um bei ihm ihr Gezänk abzuladen [Willi Münzenberg war über die Stuttgarter Soldatenräte und die alte SPD-Führung sehr enttäuscht, als er in den württembergischen Landtag kam: „Das war ein einziger Schrei nach Ruhe, Ordnung, Disziplin und Kasernenhof" (Münzenberg 1930/1978, S. 269 ). Wilhelm Keil hatte mit seinen Anhängern schon während des Krieges die Redaktion der „Schwäbischen Tagwacht" unter seine Kontrolle gebracht hatte (dazu siehe weiter oben). Wilhelm Blos war auf dem Weg, Staatspräsident in Württemberg zu werden (Blos, 1922). „Während die sozialdemokratische Führerclique von Tag zu Tag schärfer nach rechts schwenkte" meinte Münzenberg, „wandten sich die Mitglieder der SPD immer mehr dem Programm der Spartakusgruppe zu" (Münzenberg, S. 272).] (Geiger-Hof 1963, Manuskript, S. 6). Selbst die sozialdemokratische Reichsregierung suchte während des Kapp-Putsches Mitte März 1920 kurzfristig Zuflucht in Stuttgart. Dahin wurde auch die Nationalversammlung einberufen (Mann 1977; vgl. auch Greiffenhagen 1980 b).

Heinrich Dietz’ Auffassung von Pflichterfüllung ließ ihn weiter für die anderen sorgen: „Es ist ganz selbstverständlich, daß in der jetzigen Zeit für alle die weitgehendste Freiheit vorhanden sein muß", schrieb er an den ‘werten Kollegen’ Wilhelm Blos, der inzwischen an der Spitze der provisorischen Regierung Württembergs stand. „Herr Belli wird Ihnen das Gehalt für November zusenden" (2. 12. 1918, BA-Po, NL Blos, 90 BL 2, Korr. Dietz). Heinrich Dietz selbst zog sich immer mehr zurück (Geiger-Hof 1963, S. 42).

Die „Neue Zeit", die auf Wunsch Kautskys und Wurms und mit Einverständnis des Parteivorstandes zu Beginn des Weltkrieges in den Berliner „Vorwärts"-Verlag übernommen worden war [Karl Kautsky war der Meinung, der Verlag sollte am gleichen Ort wie die Redaktion angesiedelt sein, um wegen des Belagerungszustandes auf mögliche Zensureingriffe schnell reagieren zu können (vgl. Briefwechsel HD an KK, IISG, K D VIII, 1914f.; SPD-Protokoll 1919, S. 36).] , kehrte ab 1915 wieder nach Stuttgart zurück. Nachfolger als Chefredakteur des 1917 entlassenen Karl Kautsky wurde Heinrich Cunow. Kautsky, der seine Schriften nicht mehr in Stuttgart verlegen konnte oder wollte, äußerte mehrfach Bedenken über die Entwicklung der „Neuen Zeit" und diskutierte brieflich mit Heinrich Dietz darüber, der seinerseits auf Kautskys Kritik recht unwirsch reagierte [Heinrich Dietz reagierte überhaupt auf Kritik sehr gereizt, fast schon beleidigt. Zum Beispiel bemerkte er, als er einmal Wilhelm Blos sein Honorar überwies und diesen über die Auflagenhöhe informierte, abschließend eher ‘beiläufig’: Er hätte eigentlich gedacht, Wilhelm Blos mit der Neuauflage seiner beiden Werke – gemeint waren „Die deutsche Revolution" und „Die französische Revolution" (ESZ 1981: A 98 und A 43) – einen Gefallen getan zu haben. „Aber wenn das nicht der Fall sein sollte, stelle ich Ihnen das Verlegerrecht gern zur Verfügung, sobald die Auflage abgesetzt sein wird" (HD an WB, 22. 10. 1906, BA-Po, NL Blos, 90 Bl. 2, Korr. Dietz).] : Zu keiner Zeit hätte er in den innerparteilichen Auseinandersetzungen auf einer Seite Stellung bezogen. Denn der Verlag publizierte Autoren aus beiden Lagern: „Ich bin nicht offizieller Verleger der Mehrheit und wills auch gar nicht werden. Ich verlege, was mir paßt! [...] Ich hätte während der letzten Jahre viel, sehr viel verlegen können, habe es aber abgelehnt" (10. 9. 1919, Br. 687). So betonte er auch in seinem Beitrag zum Bericht des Parteivorstandes zur Konferenz in Weimar 1919: „Der Buchverlag hat sich von Beginn des Krieges an von allen Unternehmungen ferngehalten, die irgendwie mit den Grundsätzen unserer Partei nicht übereinstimmten und geeignet waren, schwere Meinungsdifferenzen innerhalb unserer Partei hervorzurufen" (SPD-Protokoll 1919, S. 36).

Im Geschäftsbericht hieß es weiter: „Die marxistische Literatur war das eigentliche Gebiet, das vom Verlag kultiviert worden ist. Und davon ist auch nicht abgewichen worden. Bis zum Jahre 1917 war die Nachfrage nach Büchern unseres Verlags eine sehr geringe und da, wo sie eintrat, kam sie vorzugsweise aus dem bürgerlichen Sortiment. Von da ab hob sich der Absatz in erfreulicher Weise und dauert noch bis zur heutigen Zeit an. Einen hervorragenden Platz nehmen die Autoren Marx, Engels, Kautsky, Mehring und Bebel ein, zu denen sich in letzterer Zeit noch Renner und Ballod gesellten. Leider war es nicht möglich, die früheren billigen Preise aufrechtzuerhalten. Wiederholt mußten wir zu Preiserhöhungen schreiten, die ihre Ursachen in der teilweise vierfachen Erhöhung der Herstellungskosten hatten" (SPD-Protokoll 1919, S. 36f.). Die Zeitschriften des Verlages hatten insbesondere durch die Besetzung Elsaß-Lothringens einen starken Rückgang der Abonnentenzahlen registrieren müssen. Die noch ausstehenden Rechnungsbeträge „in diesen Gebieten, die erheblich sind" meinte Heinrich Dietz, „werden wohl am St. Nimmerleinstag kassiert werden" (ebd., S. 36).

Heinrich Dietz seinerseits war froh, nun kein Mandat mehr annehmen und auch nicht „in dem Weimarer Theater" sitzen zu müssen. Er hätte es kaum ausgehalten, meinte er, nicht zuletzt, weil ihm „die verlängerten Sessionen in Berlin zuletzt zur körperlichen und geistigen Tortur geworden" waren (23. 8. 1919, Br. 684). So sah er sich zur Mitarbeit am Aufbau eines demokratischen Deutschland nicht mehr in der Lage und kommentierte die neue Situation eher bitter: „Ich will froh sein, wenn die Nationalversammlung zusammentreten kann – mit dem alten Reichstag ist nichts mehr zu machen. Berlin sieht mich als Volksboten nie wieder. Das würde mir grade noch fehlen" (HD an KK, 16. 12. 1918, IISG, K D VIII, Br. 680).

Selbst das gemütliche Stuttgart war ihm nicht mehr recht, er fühlte sich zunehmend alleingelassen, wäre gern in Hamburg oder wenigstens in Berlin gewesen. Dafür würde er gern auch ‘sein’ Haus hergeben, das ihm ohnehin nicht wirklich gehörte. „In Berlin finde ich Menschen, hier Philister. Da lasse ich mir lieber etwas Kommunistisches gefallen, als das ewige Salbadern von Ordnung und Eigentum mit dem obligatorischen Schoppen" (2. 10. 1919, Br. 688). Mochte er am Ende seines Lebens nun gar keinen Wein mehr? In Württemberg wurde er, der nach so vielen Jahren in Schwaben immer noch seinen norddeutschen Dialekt nicht verloren hatte, der ‘Onkel Grog von der Waterkant’ genannt (Keil 1956).

War es Heimweh nach dem Norden Deutschlands? Von seiner Heimatstadt Lübeck hatte er stets mit großem Stolz erzählt, wußte Anni Geiger (Geiger-Hof, Manuskript S. 4). Auch Karl Kautskys Bedauern, Berlin verlassen und nach Wien übersiedeln zu müssen, weil er für sich keine Publikationsmöglichkeit in Deutschland mehr sah, konnte Heinrich Dietz nachvollziehen. Sich in der Fremde ärgern zu müssen: „Den Kummer kenne ich", schrieb er an Louise Kautsky (17. 8. 1919, IISG, K D VIII, Br. 686). Oder schlug bei Heinrich Dietz nun etwa eine altersbedingte Unzufriedenheit durch? Immer wieder kam er darauf zurück: „Eine von mir begangene Dummheit bedauere ich, und die ist, daß ich nicht 1905 mit dem Buchverlag nach Hamburg gezogen bin. Ich Schafskopf lasse mich von Singer und Bebel breittreten, hier zu bleiben, um das Geschäft weiterzuleiten. Die 14 Jahre haben mich mürbe gemacht" (an Louise Kautsky, ebd.). Tatsächlich stand Heinrich Dietz in seinem hohen Alter nun wieder vor ‘Ruinen’: „Wir haben seit 1914 keinen Pfennig erübrigt, trotzdem ich meine Arbeitskraft während fast 15 Jahren umsonst dahingab als Opfer von Singer und Bebel, und als Resultat stehe ich vis à vis de rien" (an KK, 8. 7. 1920, Br. 695).

Auch 1920 hatte sich sein Beinleiden nicht gebessert. Obwohl Heinrich Dietz vorhatte, Karl Kautsky in Berlin zu besuchen, als er zu einer Parteivorstandssitzung kam, mußte er Kautsky doch zu sich ins Hotel Wettiner Hof bitten. Er selbst wäre so schlecht zu Fuß, daß er sich nicht traute, den Weg nach Charlottenburg zu machen (HD an KK, o. Dat. Mitte 1920, IISG, K D VIII, Br. 19). In dieser Situation traf ihn Kautskys Absicht, Berlin zu verlassen, besonders hart. Die beiden Männer verband eine sehr enge Freundschaft, umso mehr, als viele von Heinrich Dietz’ ehemaligen politischen Weggefährten längst gestorben waren, so daß er am Ende seines Lebens recht einsam zurückblieb. Mehrfach versuchte Heinrich Dietz, den Freund zum endgültigen Bleiben zu bewegen [Karl Kautsky zog jedoch erst 1924 nach Wien.] . Es gelang ihm jedoch nicht, auch nicht mit der Perspektive bzw. der Hoffnung, Karl Kautsky könnte die Redaktion der „Neuen Zeit" wieder übernehmen (27. u. 31. 5. 1921, Br. 704f.; Gilcher-Holtey 1986, S. 271): „Ich hoffe, daß nichts aus dem Umzug wird, und zwar in Ihrem Interesse. Sie gehören nach Berlin bzw. Deutschland. Jeden anderen Schritt werden Sie bereuen" (9. 7. 1921, IISG, K D VIII, Br. 707).

Die ökonomischen Verhältnisse blieben weiterhin schlecht, die Erträge der ohnehin defizitären Zeitschriften gingen noch mehr zurück. Ohne Zuschüsse war kein Auskommen mehr: „Es wird nichts anderes übrig bleiben, als die beiden Zeitschriften [...] eingehen zu lassen. Das hat natürlich – von Berlin abgesehen, wo alles Wurst ist – eine böse Wirkung in der Partei" (HD an Karl Hildenbrand, 29. 7. 1920, AdSD Kleine Korr. Dietz). Der Buchverlag stand noch recht gut da, mit seinen Überschüssen war aber die Subvention der Zeitschriften nicht länger zu bestreiten, denn der Buchverlag hatte „bereits alle Barmittel hergegeben für den Zweck. Weiteres kann er nicht tun, wenn er nicht selbst ins Gedränge kommen soll" (HD an Karl Hildenbrand, 29. 7. 1920, AdSD Kleine Korr. Dietz). Außerdem läßt sich vermuten, daß Heinrich Dietz nur noch aus Gewohnheit das Heft nicht aus der Hand legen konnte: „Meine Gesundheit ist stark erschüttert, indessen ich haspele mein Pensum ab, so gut es gehen will", schrieb er an Karl Kautsky (1. 4. 1920, IISG, K D VIII, Br. 693). An parteioffiziellen Veranstaltungen, wie zum Beispiel den Parteitagen, nahm er nicht mehr teil.

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4.1.19. Fusion der Parteiverlage

Im Sommer 1920 blickte Heinrich Dietz auf die lange Zeit zurück, in der Karl Kautsky und er befreundet waren. Obwohl Karl Kautsky Mitglied der USPD geworden war, tauschten sie ihre Gedanken immer noch intensiv aus: „Als wir uns kennenlernten, befand sich Deutschland in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes. Wir haben es ausgehalten und dann nachher den Aufstieg der Partei mitgemacht. Die heutige Zeit – obwohl sie uns dem Ziel näher gebracht hat – ist aber eine recht unerquickliche, da der Mangel, der ganz gewöhnliche Mangel am Notwendigsten das Leben und die Unternehmungslust darniederdrückt. Dazu kommt noch der Parteikrakehl, der heute gefährlicher ist als seiner Zeit 1869 – 75. Wenn man eine Parallele ziehen will, so kann man die Eisenacher mit der USP und die SPD mit den Lassalleanern vergleichen. Die ersteren siegten trotz der geringeren Kopfzahl, und die Lassalleaner unterlagen trotz guter Organisaton. Die Führung entschied. Wo ist diese heute? Ein Mensch mit dem Einfluß eines Bebel ist zur Zeit undenkbar. Sie und Haase hätten die Rolle übernehmen können und dabei viele SPD sic hinübergezogen. Alles ist jetzt im Parteistreit zerstört" (29. 7. 1920, Br. 697).

Ähnliche Bedenken über die Struktur und die Haltung der jeweiligen sozialdemokratischen Gruppierungen hegten beide, sowohl in Bezug auf die SPD als auch die USPD. Nach Heinrich Dietz’ Meinung erstreckte sich die um sich greifende Oberflächlichkeit bis auf die Gewerkschaften. Für die Zukunft sah er nichts Gutes voraus (25. 8. 1920, Br. 700). Zur selben Zeit hatte Heinrich Dietz dem Parteivorstand notgedrungen den Vorschlag gemacht, die größeren Werke durch Kommissionskonten zu finanzieren. Dieser Plan aber schlug fehl: Obwohl Otto Wels ‘ein paar Anteile’ von je 50.000 Mark in Aussicht stellte und Heinrich Dietz selbst zwei Anteile einbringen wollte, reichte die Finanzdecke schließlich doch nicht aus (HD an Karl Hildenbrand, 29. 7. 1920, AdSD Kleine Korr. Dietz).

Heinrich Dietz mußte nun miterleben, wie sein Lebenswerk in den Strudel der Wirtschaftkrise geriet. Die nach dem Krieg schon einsetzende Inflation stieg 1921 und seit Anfang 1922 so enorm an [Der amerikanische Dollar kostete 1914 4,20 Mark, im Juli 1919 bereits 14 Mk., im Januar 1922 191,80 Mk., Ende Mai 320 Mk. (HD an Louise Kautsky, 30. 5. 1922, IISG K D VIII, Br. 723. Da hoffte Heinrich Dietz noch auf Besserung im Herbst.). Im Januar 1923 war der Dollarpreis auf 17.972 und im August 1923 über 4,6 Mio. Mark gestiegen (Müller 1986, S. 242).] , daß die Preise der Verlagserzeugnisse ständig erhöht werden mußten, die der Zeitschriften am Ende sogar wöchentlich [Das Abonnement der „Neuen Zeit" kostete 1922 noch 15 Mark im Jahr (Schimeyer 1973). 1923 war der Preis auf 5.800 Mark angestiegen. Seit 1920 stieg der Verkaufspreis auch des „Wahren Jacob" von zunächst 20 Pfg. rapide an (Ende 1920: 60 Pfg., im August 1921 80 Pfg., November 1 Mk., Ende 1921: 1,30 Mk.). Die Nummer 943 des „Wahren Jacob" vom 5. Sept. 1922 kostete bei Redaktionsschluß 7,50 Mk und die letzte Nummer 1923 20 Millionen Mark!] . Die Kosten für zwei Parteiverlage, in Stuttgart und in Berlin, stiegen ins Unermeßliche, obwohl man schon eine Betriebsgemeinschaft gebildet hatte (HD an KK, 20. 9. 1921, IISG, K D VIII, Br. 712). Gewinne waren unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise nicht mehr zu erwarten, so daß 1921 in der Partei endgültig beschlossen wurde, den Stuttgarter mit dem Berliner Verlag zu fusionieren. Dabei handelte es sich lediglich um eine ‘innere Angelegenheit’, wie Heinrich Dietz formulierte, ‘die praktisch notwendig’ war. Sie nahm ihm persönlich zwar keine Last von den Schultern (HD an KK, 11. 6. 1921, IISG, K D VIII, Br. 706), sondern bot im Gegenteil noch mehr Anlaß zur mißtrauischen Vorsicht: „Der Vertrag mit der Vorwärts-Buchhandlung ist so einseitig zu Gunsten der letzteren, daß wir ein derartiges Risiko [...] nicht übernehmen können, das muß die V.B. schon selbst tragen. Unser Verhältnis zur V.B. ist ungefähr wie das Oberschlesiens zur Entente. Das Weitere können Sie sich selbst ausmalen" (an Louise Kautsky, 26. 10. 1921, IISG, K D VIII, Br. 713).

Eine Zusammenführung SPD mit dem größeren Teil der USPD erlebte Heinrich Dietz nicht mehr. Anfang 1922 wurde er erneut krank, Mitte des Jahres sah er immer noch keine Möglichkeiten zur Erholung: „Ich werde auch heuer nicht in Ferien gehen können – seit 1913 nicht. Da wars zum letzten Mal, und stets ein Mangel an Geld – Zeit. Heute ist es noch schlimmer, da ich mein kleines Vermögen bis fast auf 0 während der Zeit zugesetzt habe. Wenn Sie mich auf den Friedhof fahren, habe ich Dauerferien. Die genügen. Ich gehe im Oktober ins 80. Lebensjahr – habe also lange genug gelebt, und meine Frau im August in 76. Lebensjahr, die sich auch nichts mehr aus diesem Jammertal macht" (9. 6. 1922, Br. 724). Einen Monat später – auch Karl Kautsky war schwer krank gewesen – schrieb er mit ähnlichem Lebensüberdruß von sich und seiner Frau Helene: „Beide haben wir angesichts der Verhältnisse das Leben satt und wünschen das Ende. Möge es bald kommen" (an Louise Kautsky, 13. 7. 1922, IISG, K D VIII, Br. 729).

Heinrich Dietz – aus dem Verlag gekommen – legte sich am 28. August, dem 75. Geburtstag seiner Frau, nur ein wenig zum Ausruhen hin. Als ihn Helene Dietz zu den Gästen holen wollte, mußte sie feststellen, daß er nach einem Schlaganfall still eingeschlafen war. Nach Anni Geiger-Hofs sehr sentimentaler Schilderung hatte Helene vorher noch ein paar Minuten bei ihrem Mann gesessen und seine Hand gehalten. Bevor er einschlief, hätte er sich von ihr verabschiedet: „Wir haben ein schönes Leben zusammen gehabt, Helene. Ich danke dir für alles" (Geiger-Hof 1963, S. 42).

Heinrich Dietz, für den Verlag tätig bis zum letzten Tag und „in den Sielen" gestorben (Cu-now 1922), wollte verbrannt werden. Seine Urne wurde auf dem Stuttgarter Prag-Friedhof beigesetzt [Das Grab wurde in den 70er Jahren aufgelassen (Mitteilung der Friedhofsverwaltung 1993).] (Vorwärts 1922 a). Für den Parteivorstand kam Otto Wels aus Berlin und hielt die Totenrede. Karl Hildenbrand und Wilhelm Keil sprachen im Namen der Würt-temberger Sozialdemokraten und Karl Frohme für die Hamburger. Arthur Crispien brachte dem verstorbenen Parteiverleger Dank und Anerkennung der USPD zum Aus-druck (Vorwärts 1922 b). Anschließend fand eine kleine Feier im Englischen Garten statt (Heinrich Cunow an KK, 9. 9. 1922, BA-Po, NL Blos, 90 Bl. 2, Korr. Cunow).

Der Parteivorstand ehrte den Verleger mit der Gründung einer ‘Heinrich-Dietz-Gesellschaft zur wissenschaftlichen Förderung des Sozialismus’ (Kampffmeyer 1922, S. 7f.; Vorwärts 1922 c). Diese sollte die Aufgabe haben, „nicht nur würdige, textlich gereinigte und kritisch bearbeitete Ausgaben sic! der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels und der anderen großen Sozialisten herauszubringen, sondern auch durch selbständige, neue Forschungsarbeiten den Sozialismus als Wissenschaft zu befestigen und zu vertiefen" [Vgl. Kap. 3.7, FN 9.] (Kampff-meyer, S. 8). Die im Sinne Ferdinand Lassalles zum Bündnis von Wissenschaft und der Arbeiter gegründete ‘Dietz-Gesellschaft’ (Kampffmeyer) konnte aber die Inflation nicht überstehen.

Die Druckerei in Stuttgart mußte auf der Höhe der Wirtschaftskrise endgültig verkauft werden. Die dortige Verlagsniederlassung wurde aufgelöst, und alle Rechte gingen auf den Berliner Teil über. Die „Neue Zeit" – von der Heinrich Dietz und Karl Kautsky gehofft hatten, er bekäme 1921, spätestens aber nach dem Zusammenschluß der Mehrheitssozialisten und der USPD die Redaktionsführung wieder übertragen (HD an KK, 27. 5. 1921, IISG, NL Kautsky, K D VIII, Br. 704; Miller 1992, S. 398) – erschien nur noch bis 1923. Auch der „Wahre Jacob" ging wegen der Teuerungen ein [Nach der „Neuen Zeit" erschien 1924 „Die Gesellschaft", herausgegeben von Rudolf Hilferding. Der „Wahre Jacob" wurde von 1924 bis 1927 durch das Satireblatt „Lachen links" fortgeführt.] .

Helene Dietz überlebte ihren Mann um fünf Jahre, sie starb am 26. November 1927.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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