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3.4. Beginn in Stuttgart (1882/1883)

„Das Wüten des Sozialistengesetzes stand damals auf seinem Höhepunkte. Groß waren die Opfer, die es erheischte, schwer hatte die Partei zu kämpfen, am schwersten wohl der Verlag und die Druckerei, die Dietz leitete" [Karl Kautsky über den Beginn des Stuttgarter Verlagsgeschäftes (1930).] .

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3.4.1. Ein neuer Lebensabschnitt

Die Wahl in den Reichstag und der fast gleichzeitige Umzug nach Stuttgart markierten in Heinrich Dietz’ Leben einen entscheidenden Einschnitt in mehrfacher Hinsicht. Vorbei war die Beschränkung auf ein überschaubares Lebensumfeld: Von nun an war er ständig unterwegs, pendelte zwischen Stuttgart – von der Familie, der Druckerei und dem Verlag – und Berlin, dann wieder nach Hamburg, und zur Erledigung weiterer Aufgaben für die Partei zwischen verschiedenen anderen Orten hin und her.

In Stuttgart war zum Jahreswechsel 1881/1882 die Entscheidung gefallen: Franz Goldhausen schied aus der ehemaligen Leipziger Genossenschaftsbuchdruckerei aus, Carl Höchberg bestellte Heinrich Dietz endgültig „zum Verwalter der Stuttgarter Ruinen" (Kautsky 1960, S. 516). Die Partei übergab ihm auch hier Druckerei und Verlag als ‘Privatmann’. Am 31. Dezember 1881 wurde der ‘Verlag J.H.W. Dietz’ in das Handelsregister eingetragen [Auch im Berliner Polizeipräsidium wurde die Stuttgarter Transaktion aufmerksam registriert: Der sozialdemokratische Verlag wäre „seit einigen Tagen in den nominellen Besitz des von Hamburg bekannten Dietz übergegangen" (von Madai im Jan. 1882, zit. in: Höhn 1964, S. 103). Um diesen Wechsel in der Geschäftsführung der Stuttgarter Druckerei rankten sich eine Reihe von ‘Nachrichtenfehlern’. Ganz unzutreffend Deckert (1975, S. 214f.): Dietz „gab in Harburg [...] ein Nachfolgeblatt mit dem Titel „Gerichtszeitung" heraus. [...] Im Oktober jedoch wurde der Belagerungszustand über Harburg verhängt, wenig später wurde die „Gerichtszeitung" verboten und das gesamte Personal aus Harburg ausgewiesen. Dietz wandte sich nun nach Leipzig [...] Auch dort wurde er mit der Leitung der Genossenschaftsdruckerei betraut. Die Druckerei stand vor dem völligen Zusammenbruch, da auch in Leipzig im Sommer 1881 der kleine Belagerungszustand verhängt worden war. Unter Dietz’ Leitung jedoch wendete sich das Blatt." Erich Ollenhauer behauptete (sich wahrscheinlich auf Deckert berufend) in seiner Gedenkrede 1952 in Lübeck, daß Dietz nach Leipzig ging, dort Ende des Jahres 1881 die dortige Genossenschaftsdruckerei übernahm und diese sofort nach Stuttgart verlegte (vgl. Redemanuskript Ollenhauer 1952, in: AdSD, Materialordner J.H.W. Dietz). Einen ähnlichen sachlich falschen und politisch irreführenden Text veröffentlichte Ollenhauer 1963: „Dietz ging damals (auch das ist eine interessante Erinnerung!) in das freiere Sachsen, nach Leipzig, in dem die antisozialistischen Kampfmaßnahmen zeitweise nicht so streng waren wie in Preußen. Er übernahm dort die Genossenschaftsdruckerei, welche die Arbeiter sich geschaffen hatten. Zur Sicherheit verlegte er sie aber von Leipzig nach Stuttgart. Nun, die Sache ging auch in Stuttgart nicht gut" (S. 11) . „Im Jahre 1881 kam er Dietz, mit den Trümmern des Hamburger und des bis dahin von Motteler in Leipzig geführten Geschäfts nach Stuttgart" (Heymann 1930). Das Leipziger Börsenblatt: „[...] bewahrte er das Hamburger Geschäft von Leipzig aus vor dem vollständigen Zusammenbruch und unternahm gleichzeitig den heroischen Versuch, die Leipziger Genossenschaftsdruckerei zu halten" (bbb 1952, S. 609). Außerdem im Leipziger Börsenblatt: „Ein Leipziger Verleger beschloß, nun Stuttgart als Ort seines Wirkens zu wählen, und bot Dietz an, dorthin zu kommen und Leiter des Unternehmens zu werden. Danach erwarb Dietz von diesem Verleger den Restteil des Unternehmens in Leipzig und begann sogleich, seine verlegerische Tätigkeit in Stuttgart zu entfalten" (Urojewa/Kopf 1978, S. 816).] . Ab 1. Januar 1882 hätte er von Goldhausen das Geschäft erworben, gab Heinrich Dietz später zu Protokoll, „ohne daß jedoch bis jetzt der Kaufpreis genau bestimmt worden sei" (HStA Stg. E 46, Bü 309a, 19. 1. 1882, S. 11). Allerdings hatte sich die Partei diesmal gegen Verluste durch den ‘Eigentümer’ rückversichert: Der in Leipzig tätige Kommissionär der Stuttgarter, Hamburger und Nürnberger Parteiverlage E. L. Morgenstern sollte eine Kaution stellen, die die Parteileitung einerseits den Gerichten gegenüber als Kaufsumme der Stuttgarter Druckerei deklarieren konnte und andererseits als Sicherheit gegen unberechtigte finanzielle Transaktionen des Verlegers Dietz diente [Morgenstern war als Verleger bisher nicht aufgetreten, unterhielt aber ein Schriftenlager in Leipzig. Nach den Spitzelberichten bleibt der Sachverhalt unklar, zumal der Inhalt einer Überprüfung nicht immer standhält (z.B. wurde die Stuttgarter Druckerei keineswegs nach Leipzig zurückgeführt; 1. 8. 1882). Der am 25. 7. 1882 erwähnte ‘Druckauftrag’ Morgensterns an die Stuttgarter Druckerei ist deswegen nicht anders als durch Kommissions-Bestellungen zu erklären. Als er die Vereinbarung über Zahlung der Kaution nicht einhielt, wurde ihm – nach einem Streit mit Heinrich Dietz, der deswegen eigens nach Leipzig kam – die Kommission Anfang 1883 entzogen (BLHA Pr.Br., Rep. 30, Berlin C, Nr. 10212, 8. 1. 1883; für die Diskussion über die Klärung dieses Sachverhalts danke ich Inge Kießhauer, Berlin).] (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 10212, 8. 1. 1883).

Als Geschäftsführer in Hamburg war Heinrich Dietz bisher noch unter der Leitung der Parteiführung tätig gewesen, jetzt trug er mit der Übernahme des Stuttgarter Geschäfts die alleinige Verantwortung. Dem Parteivorstand war er zwar Rechenschaft schuldig, es geschah im Verlag mit Sicherheit auch nichts ohne Absprachen, aber nur in allergrößter Not konnte Heinrich Dietz noch auf Parteigelder zurückgreifen. Es wurde im Gegenteil von ihm vorrangig die Erwirtschaftung von Gewinnen erwartet. Heinrich Dietz mußte die Verantwortung für das Parteigeschäft übernehmen, als keinerlei finanzielle Reserven mehr vorhanden waren, und es drohte ihm in den ersten Jahren mehrfach der Ruin (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 10212, 1. 11. 1882). Später äußerte er darüber sehr bitter zu Karl Kautsky: „Warum hat man mich erst dann als Arzt geholt, als der letzte gesunde Blutstropfen dem Geschäft verloren gegangen war!" (31. 10. 1883, IISG, K D VIII, Br. 23) Bei Auer stellte er den Verlauf allerdings auch noch so dar, als habe er das Geschäft mit eigenen Mitteln erworben: „Um eine entsprechende persönliche Tätigkeit wieder zu gewinnen, übernahm ich Ende 1881 die [...] nach Stuttgart übergeführte Buchdruckerei nebst Verlag von Franz Goldhausen, dies Geschäft hatte früher, als es noch Eigentum der Genossenschaftsbuchdruckerei (eingetragene Genossenschaft) in Leipzig war, einen Wert von ca. 100,000 M, Ende 1881 repräsentierte es infolge der zahllosen Verbote und Maßregelungen, von denen es betroffen worden, in seinem unglaublich derangierten Zustande kaum einen Materialwert von 10,000 M, für welchen Preis ich es denn auch käuflich erwarb. Die beiden einzigen Verlagsartikel, die „Neue Welt" und der „Omnibus-Kalender", waren infolge der Verbote der früheren Jahrgänge auf 6000, beziehungsweise 20,000 Auflage zurückgegangen – die weitere Herausgabe war also mit großen Kosten verknüpft" (Dietz in: Auer 1913, S. 244; Hervorhebung im Orig.).

Hatte schon der Umzug von Lübeck nach Hamburg für die Familie eine Umstellung erfordert, so zog man 1874 doch von einer Hansestadt in die benachbarte größere. Ungewohnt war das Leben in einer Großstadt, fern der Beschaulichkeit, die das Lübecker Leben noch geprägt hatte. Die neue Heimat in der schwäbischen Hauptstadt aber brachte radikale Veränderungen für die norddeutsche Familie Dietz mit sich, man sprach dort eine andere Sprache, hatte ganz andere Lebensgewohnheiten, eine andere Küche – und Heinrich Dietz hatte im Verlauf der Jahre nicht umsonst den Spitznamen ‘Onkel Grog von der Waterkant’ bekommen (Keil 1956). Man mußte sich in einem neuen Lebensumfeld zurechtfinden, den Umgang mit den dort ansässigen sozialdemokratischen Genossen erst einüben. Hamburger Verhältnisse, was den Stand, die Disziplin und die Stärke der Arbeiterbewegung anging, waren dort ganz und gar nicht anzutreffen. Karl Kautsky spottete: „Ich ging nach Deutschland, um die deutsche Bewegung kennen zu lernen, finde aber, wenigstens im Schwabenland nur sehr viel Spießbürgerei. Das Komischste ist, daß unsere Parteispießbürger sämtlich ‘Anarchischtle’ sind, die einen dicken Bauch haben, viel Bier saufen, mit der Faust auf den Tisch schlagen, auf alles schimpfen und – nicht wählen. Natürlich sind es die harmlosesten Leute von der Welt" (5. 8. 1883, Engels/Kautsky 1955, S. 79).

Eines der herausragenden Merkmale, die Heinrich Dietz’ Leben in seiner zweiten Hälfte geprägt haben, ist die Tatsache, daß er von nun an fast ständig unterwegs sein mußte [Dieses Schicksal teilte er natürlich mit vielen der Abgeordnetenkollegen und besonders den agitatorisch tätigen Parteivorstandsmitgliedern. ] . Im Vordergrund stand seine Tätigkeit in Stuttgart, die von ihm persönlich – zumindest im ersten Jahrzehnt – noch die Erledigung sehr vieler Kleinarbeiten erforderte. Aber Heinrich Dietz kümmerte sich auch später um viele Einzelheiten am liebsten selbst. Die Reichstagsverhandlungen vom Herbst bis zum folgenden Osterfest, manchmal verlängert bis Pfingsten, in großen Ausnahmefällen bis in den Sommer, verpflichteten ihn zu häufigem Pendeln zwischen Stuttgart und Berlin. Ein Leben in der Familie, oder auch die kontinuierliche Erziehung seiner Kinder, das gab es für den Sozialdemokraten Heinrich Dietz nicht (mehr). Die gesamte Zeit der Sessionen konnte und wollte Heinrich Dietz nicht in der deutschen Hauptstadt bleiben, er hatte zuviel zu bewältigen. Die anfallenden Hotelkosten waren im übrigen auf die Dauer auch zu hoch. Die nächste Station, die seine sporadische Anwesenheit erforderte, war die Hamburger Parteidruckerei, sie existierte bis 1890 unter seiner Scheinfirma. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes konnte Heinrich Dietz auch Versammlungen in seinem Wahlkreis abhalten, wenn er auch nicht mehr allzu häufig nach Hamburg kam. Parteikongresse – bis Ende des Sozialistengesetzes im Ausland [1887 konnte Heinrich Dietz am Kongreß in St. Gallen nicht teilnehmen (siehe weiter unten).] , dazu mehrere Treffen in Zürich -, Wahlagitationen, Versammlungen, geschäftliche Treffen im Auftrage der Partei, Teilnahme an Partei-Schiedsgerichtsverhandlungen und viele zusätzliche Verpflichtungen erforderten ihren zeitlichen Tribut. Ein so rastloses Leben griff Heinrich Dietz’ Gesundheit an.

Intensive Kontakte zur Berliner Arbeiterbewegung konnte Heinrich Dietz wegen seiner zahlreichen sonstigen Verpflichtungen nicht aufbauen. Er blieb einsam in Berlin. Eine Wohnung nahm er dort nie; er teilte keine mit einem Fraktionskollegen, auch dann nicht, als ein großer Teil der sozialdemokratischen Abgeordneten nach Berlin übersiedelte. Selbst als ihm August Bebel anbot, während der Reichstagssessionen bei ihm zu wohnen, lehnte er ab. Gelegentlich traf er Verabredungen zum ‘Kneipen’ mit den Abgeordnetenkollegen. Solche Treffen bildeten in Berlin etwas Zerstreuung – und dienten zugleich der zwanglosen Absprache in Parteiangelegenheiten. In seiner Fraktion zählte Heinrich Dietz nicht zu den Wortführern, er gehörte ohnehin nicht zu den radikal auftretenden Sozialisten und hatte sich bisher in keiner Weise exponiert. Auch seine politische Herkunft als ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär führte dazu, daß ihm in Berlin die Gruppe der gemäßigten Kräfte in der Fraktion am nächsten stand.

Die Zeit in der Hauptstadt war weitgehend verplant, mit Reichstagsverhandlungen, regelmäßigen Treffen der Fraktion, später kamen Kommissionssitzungen und ab 1890 noch Termine mit dem Parteivorstand hinzu. Die sozialdemokratische Fraktion traf zu den Sitzungen am Sessionsbeginn in der Regel frühzeitig ein. Die Fraktionssitzungen während der Sitzungsperioden standen den gleichzeitig als Parteileitung fungierenden Abgeordneten als legale – und zudem kostenlose – Treffen, zur Verfügung. Heinrich Dietz allerdings kam manchesmal erst später [Vgl. hierzu die Stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen. Zu Beginn der Sitzungsperiode teilte der Reichstagspräsident mit, welcher der Herren Abgeordneten ‘in das Haus eingetreten’ war, d.h. der Zeitpunkt, zu dem sich der jeweilige Abgeordnete bei der Reichstagsverwaltung anmeldete. Anwesenheitslisten sind nicht erhalten. Ob ein Abgeordneter an den Sitzungen selbst teilnahm, kann dort nur noch für die Tage mit ‘namentlichen Abstimmungen’ festgestellt werden. Wenn jemand ohne Entschuldigung fehlte, so kann das aber auch an der Gewohnheit gelegen haben, daß man sich nach Absprachen der Fraktionen untereinander ‘abpaarte’. Dabei verpflichten sich jeweils zwei Mitglieder verschiedener Parteien, an einer Abstimmung nicht teilzunehmen, bei der sie gegeneinander stimmen würden (SD 8[1886]Nr. 16), um das Kräfteverhältnis nicht zu stören. Im Bestand des Bundesarchivs, Abt. Potsdam, 01.01. Nr. 3678 befinden sich die Urlaubsgesuche der Abgeordneten, die aber nur die ‘geplanten’ Abwesenheiten dokumentieren.] , geschäftliche Verpflichtungen, dringende andere Verabredungen, aber auch finanzielle Gründe spielten wohl eine Rolle.

Das Leben, das die sozialdemokratischen Abgeordneten in Berlin führten, unterschied sich wiederum stark von dem in der noch relativ neuen schwäbischen Heimat: Erstmalig wohnte Heinrich Dietz in Pensionen und in Hotels, ließ sich von bezahltem Personal bedienen. Reichstagsmitglieder waren keine gewöhnlichen Gäste, sie konnten sich sicherlich einer intensiven Aufmerksamkeit erfreuen, selbst wenn sie Abgeordnete der ‘Roten’ waren [„Wenn die 397 Reichstagsherren mit ihren Koffern anrücken, sind die Berliner Hotelbesitzer in gehobener Stimmung. [...] Kein kleiner Batzen Geld, der in dieser Zeit den Spreeathenern zugute kommt. Die Herren sind in der Wohnungsfrage alle gut konservativ. Jeder Reichsbote steigt gern wieder im alten Quartier ab, wenn es seinen Wünschen nur einigermaßen entsprach" (Frenz 1913, S. 30).] . Aber nicht nur die Hoteliers in der Reichshauptstadt waren an den Abgeordneten interessiert, auch die preußische Politische Polizei verfolgte ihre Schritte aufmerksam: Nach Eröffnung der 2. Reichstagssession 1882 interessierten sich die preußischen Spitzel zu offensichtlich für Wilhelm Liebknecht und Heinrich Dietz, die in Berlin gemeinsam unterwegs gewesen waren. Inzwischen kannten die Abgeordneten ihre Schatten schon ganz gut, so veröffentlichten sie ihre Erlebnisse genüßlich im „Sozialdemokrat": „Der berüchtigte ‘August’, Madais Vertrauensspitzel [...] ist abermals das Opfer seines Amtseifers geworden. Er glaubte nämlich am Freitag vergangener Woche das war Anfang September 1882, agr., wo die Abgeordneten Liebknecht und Dietz hier waren, einen famosen Fang gemacht zu haben und geriet mit der den deutschen Spitzeln eigentümlichen ‘Täppigkeit’ in einer Falle, aus der sich herauszuziehen ihm [sic] viel Zeit und Geld gekostet haben wird" (SD 4[1882]Nr. 39).

Die ‘Fürsorge der Polizisten erstreckte sich bis in das Ausland, besonders in der Schweiz spähte man nach den Sozialdemokraten aus. Heinrich Dietz fuhr des öfteren nach Zürich, er arbeitete ja mit dem dortigen Parteiverlag eng zusammen. Im Sommer 1883 notierte von Hepp (als Vertretung für den Polizeipräsidenten von Madai) in den „Übersichten über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung": „Die Abgeordneten erfreuen sich übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch bei ihren Gesinnungsgenossen im Auslande eines großen Ansehens und werden häufig zu Besuchen eingeladen, um die deutschen Verhältnisse zu schildern und Rat zu erteilen [...]. Grillenberger, Dietz, Frohme waren wiederholt in der Schweiz. [...] Die Deutschen sind [...] erheblich rühriger als die Schweizer. [...] Das Bewußtsein des Wertes, welchen ihre Agitation für die Bewegung in Deutschland haben, sowie öftere Besuche von Bebel, Liebknecht, Frohme, von Vollmar, Dietz, Grillenberger tragen dazu bei, ihr Interesse aufrechtzuerhalten" (30.7.1883, zit. in: Fricke/Knaack 1983, S. 187 u. 203; Höhn 1964, S. 172).

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3.4.2. Württemberg unter dem Sozialistengesetz

Die arbeitende Bevölkerung im Königreich Württemberg war vorwiegend auf dem Lande beheimatet und weit zerstreut; die Religion spielte noch lange Zeit eine wichtige Rolle [1895 schrieb Karl Kautsky in seinem letzten Brief an Friedrich Engels: „Tauscher hat kürzlich 3 Monate bekommen wegen Gottesläschterung, weil die Tagwacht den Teufel die einzige anständige Person in der Mythologie genannt hatte. Das war für die hiesigen Mucker zuviel. [...] Sonst ist in Württemberg ziemlich viel Freiheit, nur in der Religion verstehen die Schwaben keinen Spaß" (30. 7. 1895, Engels/Kautsky 1955, S. 444).] ; Industrie konzentrierte sich nur in wenigen Zentren. Die seit Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre einsetzende leichte, nach einem erneuten Rückgang 1883 bis ca. 1886 aber länger anhaltende Verbesserung der wirtschaftlichen Situation (vgl. Ritter/Tenfelde 1992) trug das Ihre dazu bei, daß Handwerker und Arbeiter sich traditionell nicht als ‘Proleta-riat’ fühlten oder für eine sozialistische Partei ansprechbar gewesen wären. Im Züricher „Sozialdemokrat" wurde dafür eine ethnologische Besonderheit verantwortlich gemacht: „Der Schwabe ist durchweg ein sehr ausgeprägter Individualist [...] und hat doch entfernt nicht das Solidaritätsgefühl anderer deutscher Volksstämme, besonders der norddeutschen" (SD 1[1879] Nr. 12 vom 21.12. Hervorhebungen im Orig.).

Zwar war die Arbeiterbewegung ideologisch nicht mit Staat und Gesellschaft einverstanden, sie stellte aber keine ernste Gefahr dar: „Die württembergische Sozialdemokratie war in der Praxis reformerisch und radikaldemokratisch, aber nicht revolutionär" (Schmierer 1970, S. 263). Im Gegenteil gab es bis zum Ende der 70er Jahre eine gewisse Bereitschaft zur kritischen Mitarbeit und gute Kontakte zur eigentlichen Opposition, der Volkspartei. Gegen die ‘Geldsackpartei’ gab es wohl einige scharfe Angriffe der Sozialdemokraten, doch weil sich auch während der ersten Jahre nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes die Verfolgungsmaßnahmen zahlenmäßig im ganzen Staatsgebiet nicht so stark auswirkten, kam es nicht dazu, daß sich größere Bevölkerungsteile mit den Verfolgten solidarisierten.

Im Stuttgarter Stadtgebiet herrschten allerdings andere Verhältnisse. Dort wurde das Sozialistengesetz mit „schwäbischer Gründlichkeit" (Schmierer, ebd.) gehandhabt, der sozialdemokratische Verein verboten (Rieber 1984, S. 187). Die daraufhin einsetzenden weiteren Verbote, Verhaftungen und Überwachungen stärkten die sozialdemokratischen Vereinigungen letztlich. Keil prangerte in seiner 1907 erschienenen „Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung in Württemberg" die volle Schärfe an, mit der die Polizei in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes vorging (S. 6). Erst „nachdem das Schreckensregiment der ersten Zeit sich ausgetobt hatte", wurde es besser: „Das importierte Bismarcksche Giftgeschöpf konnte in dem bürgerlichen, mit freiheitlichen-demokratischen Traditionen genährten Lande Schillers und Uhlands sich nicht ganz so brutal ausleben wie im Junkerland und andern von diesem infizierten Staaten. [...] Nur wenn ihnen von Berlin gepfiffen wurde, koppelten die Behörden ihre Meute los. In den späteren Jahren ließen sie wohl oder übel die Zügel am Boden schleifen und drückten ein Auge zu" (Blos 1907, S. 7).

Die Stuttgarter Sozialdemokraten gaben seit 1873 unter der Redaktion von Carl Hillmann die „Süddeutsche Volkszeitung" bis zu ihrem Verbot 1878 heraus (Mehring 1909, S. 63; vgl. Schmieder 1970), danach die „Stuttgarter Presse" und später, ab 1. Februar 1879, das „Vaterland". Auch hier bestand eine Genossenschaftsbuchdruckerei, die 1879 an einen ‘Privatmann’ [‘Käufer’ war der Buchhändler Reinhold Loebell, der dann auch die Redaktionsverantwortung für das „Vaterland" übernahm (vgl. Rieber, S. 219).] verkauft wurde, dessen Hauptgläubiger Carl Höchberg war (Rieber 1984, S. 211ff.). Das „Vaterland" wurde Anfang August 1881 (gerade rechtzeitig zu den Reichstagswahlen) verboten, „seine sozialdemokratische revolutionäre Tendenz wäre so ziemlich aus jeder der in neuerer Zeit erschienenen Nummern ersichtlich" gewesen (HStA St., E 150, Bü 2043, zit. bei Rieber, S. 230). Die Genossenschaft mußte sich Ende Juli 1881 auflösen, die Druckerei war Anfang des Jahres an die Firma Christmann und Mauser weiterverkauft worden [Christmann gehörte zu den Mitgliedern der Genossenschaft, in seiner Druckerei waren schon bekannte Sozialdemokraten beschäftigt gewesen, einer von ihnen wurde später wegen illegaler Verbreitung des „Sozialdemokrat" aus Zürich verhaftet. Der Staatsanwalt empfahl der Stuttgarter Polizei, „ein besonders wachsames Auge" auf die frühere Genossenschaftsbuchdruckerei zu haben, sie wäre ihm schon länger verdächtig (Rieber, S. 219).] .

Im Königreich Württemberg fanden verfolgte Sozialdemokraten Zuflucht, obwohl das Land im Bundesrat jeder von Preußen verlangten Verlängerung des Sozialistengesetzes zustimmte und sich „nach der Attentatsperiode eine recht niedliche Polizeiwirtschaft zugelegt hatte" (Mehring 1909, S. 227). Die Möglichkeiten politischer Betätigung blieben dann auch ab Ende 1881, als die Zeit der sogenannte ‘milden Praxis’ einsetzte [Vgl. zu diesem Abschnitt z.B. Keil 1907, Schmierer 1970, Miller/Sauer 1971; Rieber 1984, Bassler 1987; Sauer 1989. Zur beginnenden ‘milden Praxis’ mit der kaiserlichen Botschaft vgl. z.B. Rieber 1984, S. 302ff.] , sehr beschränkt.

Als Heinrich Dietz im Herbst 1881 nach Stuttgart kam, war er nicht irgendeiner der vielen Verfolgten: Er nahm eine wichtige Stellung in der Partei ein, gehörte als sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter zu den „Vierhundert, die die Nation selbst sind" (Mann 1989, S. 26) und damit während des Sozialistengesetzes auch zur Parteiführung.

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3.4.3. Beginn mit Schikanen: Die ‘Affäre Dietz’

„Auch im Schwabenlande [...] wurde Dietz mit argen Scherereien empfangen, doch ganz konnte sein neues Unternehmen nicht totgeschlagen werden" (Mehring 1909, S. 227).

Nicht einmal zwei Wochen nach der offiziellen Gründung des Verlages rückte Heinrich Dietz in das Licht des öffentlichen Interesses. Er war während der laufenden Reichstagssession nur kurz aus Berlin gekommen, um im Stuttgarter Geschäft nach dem Rechten zu sehen. Da betrat am Mittwoch, den 11. Januar 1882, „der Amtsrichter Honold in Begleitung von sechzehn Polizisten" die Expedition, „nachdem zuvor von einer ähnlichen Kompagnie sämtliche umliegende [sic] Gebäude besetzt worden waren; es war ein wirklicher Kriegsfall" [Heinrich Dietz im Reichstag (Sten. Ber., 1883, S. 883ff.). Vgl. hierzu HStA Stg. E 46, Bü 309a; BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Nr. 14653. Honold, „der famose Verfertiger des Majestätsbeleidigungsprozesses gegen unsern Genossen Motteler, womit sich anno 1878 die hiesige Polizei und der Streber Staatsanwaltschaftsgehilfe Nestle so gottsjämmerlich blamierten" (SD 4[1882]Nr. 29), war zu der Zeit von seiner Amtrichterstelle beurlaubt und als Polizeikommissär eingesetzt (HStA Stg. E 46, Bü 309a, 29. 1. 1883). Man opferte ihn später wegen der Stuttgarter Affäre Dietz, er wurde versetzt und schied dann ganz aus dem Staatsdienst aus (SD 5[1883]Nr. 1). Außer Honold waren an der Angelegenheit Stadtrichter Köhn und Staatsanwalt Schönhardt beteiligt (vgl. Rieber 1884, S. 586ff.; SD 4[1882]Nr.4).] . Honold suchte den Verleger Goldhausen und wollte eine Haussuchung vornehmen wegen der Verbreitung des von Berlin verbotenen Züricher Kalenders „Der Republicaner". 3.000 Exemplare des „Omnibus-Kalenders" für 1882 nahmen die Polizisten mit, angeblich ein identischer Nachdruck des „Republikaners" – sowie alle Geschäftsbücher [Angeblich wären aus den Geschäftsunterlagen einige Seiten entfernt worden (HStA Stg. E 46, Bü 309, 19. 1. 1882).] . Heinrich Dietz versuchte noch am selben Tage, den zuständigen Untersuchungsrichter zur schnellen Herausgabe der Geschäftsbücher zu bewegen, weil darin die Versandlisten der „Neu-en Welt" lagen, ohne die man nicht weiterarbeiten konnte. Der Richter aber war schon nach Hause gegangen, und anstelle des von Stuttgart abgereisten Franz Goldhausen nahm man Heinrich Dietz in Untersuchungshaft (vgl. StA Lb F 201, Bü 627; vgl. besonders HStA Stg. E 46, Bü 309 a; E 130a, Bü 732; Rieber, S. 346ff.). Vergeblich wies er darauf hin, daß Reichstagsabgeordnete während der laufenden Session Immunität besaßen [„Ohne Genehmigung des Reichstags kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn er bei Ausübung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages ergriffen wird. Auf Verlangen des Reichstags wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuchungs- oder Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben" (Artikel 31 der Reichsverfassung).] .

Auch der Untersuchungsrichter behauptete am nächsten Morgen, die Kalender wären identisch und der „Omnibus-Kalender" mithin auch verboten. Die entsprechende Verfügung aber war nicht aufzutreiben: „Der Untersuchungsrichter [...] entfernte sich, um nach Verlauf einer halben Stunde mit erhitztem Kopf zurückzukommen mit der Bemerkung, er könne das Verbot augenblicklich nicht finden [Man erkundigte sich dann angelegentlich in Berlin, warum denn der „Omnibus-Kalender" nicht verboten worden war, er wäre doch im wesentlichen identisch mit dem „Republicaner" (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 14653, 4. 2. 1881).] , ich hätte mir zweifellos eine strafbare Handlung zu Schulden kommen lassen, ich sei auf der Tat ergriffen und die Immunität der Reichstagsmitglieder schütze mich hier nicht, er müsse die Verhaftung wegen dringender Kollusionsgefahr Verdunke-lung, agr. verfügen" (Sten. Ber. 1883, S. 884). Bemerkenswert aber war die Tatsache, daß zunächst nur die Polizei nach dem verbotenen Kalender suchte und dazu weder ein richterlicher Befehl noch ein Haftbefehl vorlag. Am 14. Januar wurde nach einer weiteren Durchsuchung auch der Expedient Ewald Buchheim verhaftet und das Geschäft für ‘her-renlos’ erklärt. Der Versuch, die Druckerei daraufhin zu schließen, konnte nur durch energischen Protest eines Korrektors (vermutlich Rudolf Seiffert) noch verhindert werden (Dietz in Auer 1889/1913, S. 245).

Die Stuttgarter Justiz hatte damit einen Skandal verursacht, der noch weite Kreise zog: „Die Untersuchung ist nicht eingeleitet worden gegen einen Reichtagsabgeordneten, sondern ursprünglich gegen einen Buchhändler Goldhausen. Nun wird eine Haussuchung veranlaßt, der Angeklagte, gegen den die Voruntersuchung eröffnet worden, ist nicht anwesend, man ergreift statt dessen den Geschäftsführer. Das ist ein Verfahren, wie es kaum gedacht werden kann[...]" (Abg. Klotz, Mitglied der Geschäftsordnungskomm., Sten. Ber. 1882, S. 648). Heinrich Dietz war der erste Abgeordnete, der während einer laufenden Reichstagssession verhaftet wurde („Deutsches Tageblatt", 16. 1. 1882). Nach einigen Schwierigkeiten gelang es ihm, den Präsidenten des Reichstages und seine Fraktionskollegen telegraphisch zu benachrichtigen. Die beiden Telegramme, die Heinrich Dietz in seiner Zelle zur Unterrichtung des Reichstagspräsidenten und seines Fraktionskollegen Moritz Rittinghausen aufsetzte, wurden mit fadenscheinigen Argumenten zurückgehalten. Erst einmal verlangte der Untersuchungsrichter einen Beweis für Heinrich Dietz’ Identität: „Darauf konnte ich weiter nichts antworten, als dem Mann herzlich ins Gesicht lachen." Der Gefängnis-Inspektor erklärte Heinrich Dietz, die Telegramme müßten vom Verhafteten selbst bezahlt werden. Weil man ihm aber seine Geldbörse abgenommen hatte, konnten die Nachrichten nach Berlin erst am frühen Abend des 12. Januar über Helene Dietz weitergeleitet werden. Später persönlich eingezogene Erkundigungen hätten ergeben, diese Beschwerde sei „von dem Gefangenenwärter K. auf dem Wege (wohin?) zerrissen worden, ‘weil er sich dachte, der Gefangene Dietz würde doch wohl bald entlassen werden’. Es fehlte also auch der Humor nicht!" [Im Bericht des württembergischen Justizministeriums an das dortige Ministerium des Auswärtigen wurde der Sachverhalt etwas anders dargestellt. Danach hätte Heinrich Dietz seine Beschwerde erst am folgenden Tag geschrieben, der Beamte Kohlhammer bewahrte die Eingabe bis zum abendlichen Rapport auf, doch der Abgeordnete Dietz wäre ja schon vor dem Abend entlassen worden. Das Beschwerde-Papier blieb als wertlos in der Schublade liegen und wurde später als Notizblatt verwendet. Der Gefängnisaufseher Kohlhammer verwahrte sich gegen Heinrich Dietz’ Darstellung. Die Beschwerde hätte er keinesfalls unterwegs zerrissen (HStA Stg. E 46, Bü 309a, 29. 1. 1883).] (Hein-rich Dietz, in: Auer 1890/1913, S. 245). Die Verhaftung des Abgeordneten Dietz kam im Reichstag sofort zur Sprache. Am 14. Januar war Heinrich Dietz wieder auf freiem Fuß [Sten. Ber. 1882, S. 667. Man hatte ihn aber offenbar erst nach Buchheims Verhaftung freigelassen.] . Seine gerichtliche Verteidigung übernahm Rechtsanwalt Friedrich Payer, Reichstagsabgeordneter der Volkspartei aus dem 6. Württemberger Wahlkreis (Bereich der Oberämter Reutlingen, Rottenburg und Tübingen Sten.Ber. 5. Leg.Per., 1. Session, Anlagen. Für seine Freilassung wurde umgehend gesorgt, die ‘Affäre Dietz’ reichsweit in der Presse erörtert [Der Deutsche Reichstag beschäftigte sich mehrfach und bis ins Jahr 1883 mit dem ‘Fall Dietz’. „Daß Dietz widerrechtlich saß, steht schon fest. Wäre er aber nicht Abgeordneter und tagte nicht gerade jetzt der Reichstag, so säße er natürlich noch heute und wochenlang. Denn daß die Stuttgarter Rechtspfaffen sich um das geltende Recht, wenn es gegen uns geht, den Teufel scheren, geht schon aus dem Umstande hervor, daß sie selbst den Verfassungsparagraphen, der die Abgeordneten schützt, mit Füßen treten" (SD 4[1882]Nr. 4). Vgl. hierzu StA Lb, F 201, Bü 662, sowie die Erörterung dieses Verfassungsbruches im Reichstag 1883, Kap. 4.4. Auszüge aus dem Presseecho in BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 14653.] und selbst von bürgerlichen Abgeordneten scharf verurteilt. Die Rechte der Abgeordneten des Reichstags auf die Einhaltung ihres verfassungsgemäßen Privilegs der Immunität waren hier generell berührt.

Eher lahm brachte der Beauftragte des Bundesrates, Staatssekretär von Bötticher, vor, es wäre auch ihm „etwas auffällig, daß bei einer Strafhandlung, die in maximo nur mit sechs Monaten Gefängnis bedacht ist, die Verhaftung verfügt ist, noch dazu gegen einen Abgeordneten an dem Orte, wo er seinen ständigen Wohnsitz hat [...]", schloß dann aber mit der finsteren Andeutung: „Es ist nicht unmöglich, meine Herren, daß es sich bei der verbotenen Schrift um eine hochverräterische Schrift handelt" (Sten. Ber. 1882, S. 628). Das württembergische Justizministerium sah sich seinerseits zur öffentlichen Darlegung ihres Vorgehens veranlaßt. Darin unterstrich die Justizbehörde noch einmal, Heinrich Dietz wäre ‘auf frischer Tat ertappt’ worden, außerdem hätte Verdunkelungsgefahr bestanden [Rechtfertigung des württembergischen Justizministeriums in „Württ. Staatsanzeiger", 1. 2. 1882. Vgl. dazu StA Lb., F 201, Bü. 662; HStA Stg. E 46, Bü 309a, ausführliche Berichte vom 19. 1. und 27. 4. 1882, 29. 1. 1883; dazu auch die Rechtfertigungsschrift des stellvertretenden Amtsrichters (Cleß 1883).] . Im übrigen hatte sich der verhaftete Heinrich Dietz durch eine Tatsache ganz besonders verdächtig gemacht: „die großartige, geheime Organisation der Sozialdemokraten" (Cleß 1883, S. 60). Man versuchte, wie Heinrich Dietz später berichtete, „meine Verhaftung so darzustellen [...], als hätte ich gewissermaßen in dem Bewußtsein meiner Schuld, als in flagranti Ertappter, von dem mir zustehenden Beschwerderecht keinen Gebrauch gemacht" (Dietz, in: Auer 1890/1913, S. 245; vgl. auch Sten. Ber. 1883, S. 883ff.) .

Tatsächlich waren von den 1881 in Stuttgart gedruckten Exemplaren des „Omnibus-Kalenders" 4.000 Stück [Diese Angabe stammt von Heinrich Dietz selbst. Demnach müßte der „Omnibus-Kalender" in einer Auflage von weit mehr als 7.000 Exemplaren gedruckt worden sein: wenn im Januar 3.000 Exemplare in Stuttgart beschlagnahmt wurden, darüber hinaus wurden 4.000 Kalender nach Zürich geliefert. Außerdem wird zum Jahreswechsel ein nicht unbedeutender Teil wohl auch schon verkauft gewesen sein.] nach Zürich abgegeben worden, wo die Volksbuchhandlung sie mit einem anderen Umschlag unter dem Titel „Der Republicaner" versehen (Sten. Ber. 1883, ebd.) und Werbung für im Reich verbotene Schriften eingedruckt hatte. Die gerichtliche Beschlagnahmung des „Omnibus-Kalenders" wurde zwar am 20. Februar aufgehoben, es sollte aber noch bis zum Mai 1882 dauern, bis das Landgericht Stuttgart darauf erkannte, daß „Der Republicaner" und „Omnibus-Kalender" nicht identisch und damit auch das Verfahren gegen Heinrich Dietz, Franz Goldhausen und Ewald Buchheim [Goldhausen war auf telegraphisches Verlangen des Stuttgarter Untersuchungsrichters in Eupen verhaftet und in die Stadt zurückgebracht worden. Auch Goldhausen und Buchheim mußten freigelassen werden (StA Lb, F 201, Bü. 662).] endlich einzustellen wäre (Sten. Ber. 1883, S. 251f.). Am 17. März 1882 beschwerte sich Heinrich Dietz beim königlichen Polizei-Präsidium in Berlin darüber, daß man den beschlagnahmten Kalender immer noch nicht freigegeben hatte, behielt sich auch Schadenersatzforderungen vor (Brief in: BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 14653). Das preußische Innenministerium zögerte die Freigabe allerdings noch so lange hinaus, bis die Angelegenheit dann im Sande verlief. Erst am 21. 2. 1883 inserierte ‘J.H.W. Dietz, Verlagsbuchhandlung’, daß der „Omnibus-Kalender" – „übrigens ein durchaus harmloses Opus" („Berliner Presse", 18. 1. 1882) – nun wieder zu haben war („Volkszeitung").

Das württembergische Innenministerium hatte schon im März 1882 festgestellt, es hätte sich „im ganzen Kalender nicht eine Stelle gefunden, welche auch nur die geringste Handhabe zu einem Verbot gibt" (HStA St. E 150, Bü. 2043, zit. in Rieber, S. 347). Einer möglichen Willkür bei erneuter Verhaftung der Verantwortlichen vorbeugend, bekam nun Helene Dietz Prokura für den gesamten Geschäftsbereich [„Meine Frau hat seit Beginn des Geschäfts Procura, was sich bei meiner öfteren Abwesenheit als sehr praktisch herausgestellt hat" (HD an KK, 16. 8. 1886, IISG, K D VIII, Br. 123).] . Die Beschlagnahmung der „Omnibus-Kalender" zog eine empfindliche finanzielle Schädigung des Verlages nach sich, denn forthin weigerten sich die Kolporteure, den Kalender noch zu vertreiben. Er ging kurz darauf ein.

Auch in der Stuttgarter Presse hatte man nicht an einen ‘Schwabenstreich’ geglaubt, sondern kritisierte erbittert die Bereitwilligkeit, mit der sich die württembergische Justiz den Wünschen aus Berlin gebeugt hätte [„Der Beobachter" : e. Volksblatt aus Schwaben 52(1882)Nr. 45, 23. 2. 1882 (Red. Reinsburgstraße 44, Vereinsbuchdr. Merzstraße; zit. in Rieber 1984, Hervorhebung im Orig.). Der Stuttgarter „Beobachter" beschwerte sich hier über den Widerspruch zwischen der erzwungenen Aufhebung der Beschlagnahmung des Kalenders und der starren Haltung des Bundesrates.] („Beobachter", 9. 3. 1882, zit. in Rieber 1984, S. 350): ‘Alle hatten Recht; also hatten alle Staatsorgane ein Recht, so zu handeln, wie sie es – gesetzwidrig – taten’, auch „der Staatsanzeiger für Württemberg hatte Recht, die Sache so darzustellen, wie er getan, die öffentliche Meinung hat Recht, derselben nicht weiter nachzufragen[...] [...] kein Recht aber hatte jener Mann, zu fragen: ob wir im 19. Jahrhundert leben?"

Mit wenigen Ausnahmen ließen Stuttgarter Polizei und Justiz den Verlag in den nächsten Jahren in Ruhe, denn der ‘Fall Dietz’ hatte genug Staub aufgewirbelt [Der württembergische Départementschef Faber antwortete dann auf eine der zahlreichen Anfragen äußerst gereizt: „Ich habe übrigens den Eindruck gewonnen, daß der Unsinn, welcher in dieser Sache schon geredet und gedruckt worden ist, alles billige Maß überschreitet" (HStA Stg. E 130, Bü 732, Bl. 14).] . Auch die Hamburger Behörden waren vorsichtiger geworden: Obwohl das „Hamburger Fremdenblatt" nach Aufhebung des Sozialistengesetzes schrieb, Heinrich Dietz hätte bislang als Abgeordneter zu seinen Wählern nicht persönlich sprechen dürfen (2. 12. 1890), stimmte diese Meldung nicht. Ende April 1882 erbat Heinrich Dietz telegrafisch eine Einreiseerlaubnis wegen Regelung geschäftlicher Angelegenheiten. Nach den Erfahrungen der Stuttgarter Behörden im rechtswidrigen Umgang mit dem Reichstagsabgeordneten bekam Heinrich Dietz die Erlaubnis und nahm an einer Versammlung der ‘Tabakinteressenten’ teil [In der Hansestadt plante eine Kommission gewählter Tabakarbeiter zusammen mit den Tabakfabrikanten eine Versammlung am 26. April 1882, kurz bevor sich der Reichstag mit dem Tabakmonopol befassen sollte. Die auf 165,5 Millionen Mark berechneten Überschüsse eines zu schaffenden staatlichen Tabakmonopols sollten angeblich der Unfallversicherung zugute kommen, nach der endgültigen Vorlage fiel der Hauptanteil aber dem Militäretat und ähnlichem zu (Bebel 1914, S. 229). Der Entwurf ‘wanderte schließlich in den Papierkorb’ (S. 230).] , zu der alle Abgeordneten des Vier-Städte-Gebiets eingeladen waren (StAH S 149/63, 29. 2. 1882; BüZtg. 2[1882]Nr. 51, 27. 4.).

Zum ersten Mal sprach Heinrich Dietz öffentlich über seine Arbeit im Reichstag, „mit donnernden Beifallsbezeichnungen" begrüßt, als er den Saal betrat [Einfacher ‘Applaus’ genügte Heinrich Laufenberg später nicht mehr, er mußte eine Steigerung bieten (Laufenberg 1931, S. 308). Über die Versammlung berichtete auch die „Bürgerzeitung" (2[1882] Nr. 51, 27. 4.).] : 3.500 Menschen waren in den Conventgarten gekommen. Ein preußischer Spitzel berichtete empört nach Berlin: „Die Versammlung der Tabakinteressenten Ende April 1882; agr. gestaltete sich zu einer großartigen Demonstration, wie solche hier noch garnicht stattgefunden, nicht allein das Schimpfen des Dietz auf die Regierung, welches mit furchtbarem Beifall aufgenommen wurde". Besonders ärgerte sich der Berichterstatter über den antimonarchistischen Abschluß: „Unter nicht endenwollendem Beifall und Hochrufen auf die Republik und Dietz endete der Vortrag" (StAH Senat, Cl. VII, Bd. 5, Bericht vom 4. Mai 1882) [Georg Hartmann hatte diese Veranstaltung auch besucht, erinnerte den Verlauf aber ganz anders: „Dietz nun aber – der ja überhaupt erst in die sozialdemokratische Lehre getreten war - , konnte kaum die wenigen Worte, die er aufgeschrieben, glatt ablesen" (Hartmann 1893, S. 15). Es verstand sich von selbst, daß Hartmann die Situation durch eine flammende Rede rettete. Auch die „Bürgerzeitung" widmete der Rede von Heinrich Dietz nur einen knappen Absatz, aus dem der Sinn seiner Ausführungen nicht ganz herauszulesen ist.] . Wenn auch Heinrich Dietz keine zündende Rede gehalten haben mochte, so reichte sein Auftritt aus, um den Hamburger Polizeisenator zu verärgern. Das nächste Gesuch um Aufenthalt im nördlichen Belagerungsgebiet (Anfang September 1882) wurde abschlägig beschieden (StAH S 149/63, Bl. 201). Im Januar des folgenden Jahres bekam Heinrich Dietz die Genehmigung nur, weil er versicherte, einzig und allein geschäftliche Gründe würden ihn nach Hamburg führen (Bl. 207 [Ein Jahr später konnte er nur nach Rücksprache und genauer Erläuterung des Zwecks seines geplanten Besuches einreisen, nicht ohne der ‘verehrlichen Polizeibehörde in Hamburg’ wieder einmal versichert zu haben: „Zugleich will ich gern die Erklärung abgeben, daß mein dortiger Aufenthalt für mich keine Veranlassung ergeben wird, in irgendeiner Weise agitatorisch tätig zu sein oder in einer Versammlung aufzutreten. Hochachtungsvoll" (Bl. 221, 9. 4. 1884). Im Oktober standen Reichstagswahlen an.] ).

Ende Mai 1882 sprach Heinrich Dietz erneut auf einer Versammlung: Im Stuttgarter ‘Schützenhof’ wurden am am 31. Mai die Gesetzentwürfe der Kranken- und Unfallversicherung debattiert. Die dazu eingeladenen Reichstagsabgeordneten Grillenberger, Kayser und Dietz wurden „jeder bei Betreten der Tribüne mit stürmischen Bravos’s begrüßt [...] und ernteten begeisterten Beifall. Die Stimmung der Anwesenden war eine sehr gehobene und die andern Parteien durch das unerwartete Auftreten dreier sozialistischer Abgeordneten in hiesiger Stadt [...] verblüfft" (SD 4[1882]Nr. 29 [Etwas pikiert registrierte der Stuttgarter Korrespondent des „Sozialdemokrat" das Fehlen des Reichstagsabgeordneten Geiser, über das allseitiges Befremden herrschte: „Obgleich er in Stuttgart wohnhaft ist, hat ihn ein großer Teil der hiesigen Genossen noch nicht einmal zu Gesicht bekommen, und noch weniger ist bei ihm von öffentlichem Auftreten die Rede" (SD 4[1882]Nr. 29).] ; HStA Stg. E 150, Bü 2043, 9. 6. 1882).

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3.4.4. Verlagstätigkeit im ersten Jahr

Von einer geregelten Verlagstätigkeit, gar mit einem eigenen Profil, kann für die erste Zeit des Dietz-Verlages nicht die Rede sein. Zunächst galt es, das Geschäft finanziell abzusichern und das unmittelbar drängend Notwendige zu erledigen [Vgl. hierzu vor allem die Verlagsbibliographie von Emig/Schwarz/Zimmermann 1981.] . Der Verlag betrachtete später 1883 als Gründungsjahr und bereitete das 50jährige Geschäftsjubiläum erst zum 1. April 1933 vor, weil „die ersten Buchpublikationen, die in dem Jahr 1883 erschienen sind, die erste offizielle Verlagstätigkeit darstellen" (Dietz-Verlag an den Börsenverein, 17. 12. 1930. Abschrift im Archiv des Börsenvereins, Abt. Bibliothek).

Heinrich Dietz verlegte im ersten Jahr neben dem „Omnibus-Kalender" nur noch einen Separatdruck über die Reichstagsrede zum Tabakmonopol, eine Neuauflage der „Edel-steine deutscher Dichtung" (eine von Bruno Geiser herausgegebene ‘Sammlung bester lyrischer und lyrisch-epischer Gedichte’ [Heinrich Dietz hatte offenbar als Verleger nicht viel Freude an der Lyrik: „Gedichte sind nämlich sehr schlimme Artikel" (HD an WL, 10. 9. 1890, IML, NL Liebknecht 34/18). ] ) sowie Wilhelm Liebknechts „Volks-Fremdwörterbuch" [Auch dieses war eine Neuauflage der schon in Leipzig gedruckten Publikation (ESZ 1981, S.35).] . Um Kontakte zum deutschen Sortimentsbuchhandel bemühte sich Heinrich Dietz zunächst vergeblich: „Im Jahre 1882 wurde ich in Leipzig auf drei Stellen geradezu hinausgeworfen mit den Worten: ‘Ach, Sie sind der Nachfolger der Genossenschafts-Buchdruckerei; na, da haben Sie sich eine schöne Empfehlung mitgebracht. Mit solchen Leuten können wir keine Geschäfte machen’, und dergleichen" [1884/85 aber konnte Heinrich Dietz diese Hürde überwinden: „Ich habe seiner Zeit mit der alten Tradition der Kolportage, agr. gebrochen und ganz andere Vertriebskanäle offen gemacht – das hat prächtig gewirkt" (HD an WL, 6. 7. 1891, IML, NL Liebknecht, 34/12). Siehe dazu weiter unten.] (HD an KK, 15. 5. 1886, IISG, K D VIII, Br. 108).

Nach achtmonatiger Pause konnten die Stuttgarter Sozialdemokraten wieder eine Zeitung herausgeben: Das „Schwäbische Wochenblatt" erschien seit dem 1. April 1882 in der Dietzschen Druckerei (Hildenbrand 1909). Redakteur des neuen Blattes wurde der in der Partei-Druckerei tätige Georg Baßler. Der engagierte Sozialdemokrat war seit langem in Stuttgart ansässig (vgl. dazu Rieber 1984; Ege 1992). Das „Schwäbische Wochenblatt" konnte recht bald Gewinne sowohl für die Druckerei als auch für die Partei erwirtschaften [Das teilte Georg Baßler auf dem Kongreß in Kopenhagen stolz mit (SPD-Protokoll 1883, S. 67). Baßler hatte auf die abfälligen Bemerkungen über diverse ‘Wurstblätter’ der Provinz empört erwidert: „Mir hent au so e Wurstblättle, wo i der Oberwurstler bin" (Ege 1992, S. 579). In den bei Ege genannten Quellen – Nachruf im „Wahren Jacob", 161900Nr. 360, S. 2400 sowie das Parteitagsprotokoll 1880 – ist davon nichts erwähnt. Heinrich Dietz sprach aber später selbst vom ‘Oberwurstler’ Baßler (an HS, 6. 11. 1888, AdSD, NL Schlüter, B 30).] .

Noch im Frühjahr 1882 war nicht definitiv geregelt, wer nun die Hauptverantwortung für das Stuttgarter Geschäft tragen sollte und ob es auf Dauer würde überleben können. Offenbar war auch an eine endgültige Auflösung gedacht worden. Nicht nur die Beschlagnahmung des „Omnibus-Kalenders" hatte große Verluste verursacht, auch die „Neue Welt" erwies sich als so defizitär, daß Carl Höchberg „Dietz gestattete, in Verhandlungen wegen eines Verkaufs [...] einzutreten" [„Man hat mich eigentlich die letzten Jahre durch die „Neue Welt" und andere Unternehmungen weit über meine Mittel hinaus engagiert" (Höchberg an Kautsky am 20. 11. 1881). „Der Zuschuß in diesem Jahr betrug 22.000 Mark, also fast ebensoviel wie früher, und die Abonnenten nahmen ab" (28. 11. 1881, beide Briefe zit. in: Kautsky 1960, S. 499). Die „Neue Welt" erschien aber noch mehrere Jahre weiter (dazu siehe weiter unten).] (Kautsky 1960, S. 516f.), aber „aus der Übertragung des Stuttgarter Geschäfts an Viereck wird vorerst nichts werden" schrieb Höchberg an seinen Sekretär Eduard Bernstein [Heinrich Dietz sollte in diesem Fall als Pächter des Unternehmens fungieren (CH an EB, 4. 2. 1882, im ehemaligen ZPA Moskau, nach Mitteilungen von Ursula Herrmann, Berlin).] (CH an EB, 9. 3. 1882, IISG NL Bernstein, Korr., D 281). Viereck setzte Carl Höchberg unter Druck, der daraufhin ärgerlich reagierte und sich wehrte: Viereck, meinte Höchberg, „verfolgt zu offenbar die Tendenz der Auflösung des Geschäftes, und will gewissermaßen das Fell des Löwen schon verteilen, ehe derselbe erlegt ist. Darauf kann ich mich nicht einlassen. Er braucht einige neue Pressen in der Münchener Druckerei; und da kam es ihm gelegen, vielleicht die Stuttgarter zu erhalten. Nun, da ich nicht auf seine Bedingungen eingegangen bin, kündigt er mir die 7000 Mark, die noch von der Leipziger Zeit her bei mir stehen [Nach Schröder 1992, S. 40, hatte Louis Viereck sein Geld ‘im Stuttgarter Geschäft’ stecken. Aus diesem Brief geht jedoch hervor, daß der Kredit schon in Leipzig vereinbart war.] , um damit seine Druckerei zu vergrößern. Er wird sie bald verplempert haben [...] Ich wollte keineswegs vor dem 1. Mai eine Entscheidung fällen, und das paßte ihm nicht" [„Nach Dietz sind die Aussichten der „Neuen Welt" nicht so ungünstig, daß man jetzt schon die Auflösung des Geschäfts beschließen sollte. Jedenfalls ist die Druckerei 7000 Mark wert, so daß ich sie eventuell zu diesem Preise immer verkaufen kann" (ebd.). Die Angelegenheit wurde dann erst auf der Züricher ‘August-Konferenz’ geklärt.] (an EB, 13. 3. 1882, IISG NL Bernstein, Korr., D 281).

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3.4.5. Die Züricher August-Konferenz

Über die Strategie und Taktik der Parteiarbeit in der Illegalität gab es zunehmend Differenzen. Deswegen wurden immer lauter Forderungen nach einer Parteikonferenz erhoben (SD 4[1882]Nr. 35), ganz besonders als sich der Konflikt um den „Sozialdemokrat" zuspitzte. Die Züricher Redaktion, von Karl Marx und Friedrich Engels beeinflußt, stand den staatlichen Sozialreformen – der Versuch Bismarcks und der Reichsregierung, die Partei von ihren Anhängern zu isolieren – ablehnend gegenüber. Gemäßigt argumentierende Abgeordnete warfen dem sozialdemokratischen Auslandsblatt immer wieder vor, man schriebe dort ‘zu radikal’. Wilhelm Blos und Wilhelm Hasenclever eröffneten den Machtkampf [Zwischen Fraktion und Partei hatte es nicht erst während des Sozialistengesetzes Differenzen gegeben. Vgl. dazu u.a. Nowka 1973.] : Sie lehnten die Verantwortung für die Zeitung öffentlich im Reichstag ab. Der „Sozialdemokrat" brachte daraufhin eine ganze Reihe empörter Stellungnahmen, worauf die Fraktion am 16. Februar über das Thema diskutierte (Bebel 1978 2, FN 73, S. 401), sich gegen Blos und solidarisch mit dem „Sozialdemokrat" erklärte und das Blatt rückhaltlos als Zeitung der Partei anerkannte (SD 4[1882]Nr. 8).

Doch damit war der Konflikt noch nicht beigelegt, und die Partei geriet sogar in Gefahr, sich zu spalten [Dazu z.B. Breuel, sozialdemokratischer Kandidat für den 3. Hamburger Wahlkreis. Mit der Aufforderung: „Bleibt, was ihr immer wart: Sozialisten, die mit dem Kopf und nicht mit der Faust für die Erringung der Menschenrechte eintreten wollen" (SD 4[1882]Nr. 9), versuchte er, der Redaktion des SD zu drohen, sie sollte sich ‘nach der Gesamtpartei’ richten, andernfalls müßte er sich mit anderen, die ähnlich dächten, von der Partei trennen (Laufenberg 1931, S. 294).] (vgl. Herrmann/Emmrich 1989, S. 253ff.). Zu einer dreitägigen Konferenz im Züricher ‘Schlößli’ traf sich die Reichstagsfraktion vom 19. bis 21. August 1882 mit August Bebel und Ignatz Auer vom Parteivorstand. Louis Viereck sowie Eduard Bernstein, Carl Derossi und Julius Motteler aus der Züricher Redaktion und Vertriebsorganisation nahmen teil [Von der Reichstagsfraktion fehlte als einziger Moritz Rittinghausen. Er kam zunehmend in Konflikt mit der Fraktion und hatte schon die Erklärung im „Sozialdemokrat" 4[1882]Nr. 8 nicht mit unterschrieben.] . Heinrich Dietz führte Protokoll [Das handschriftliche Konferenz-Protokoll liegt im IISG (Motteler-Nachlaß 1480/1) und wird zur Veröffentlichung vorbereitet. Für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in das Manuskript danke ich Dr. Langkau.] .

Verhandelt wurde in der Hauptsache über die Zukunft des „Sozialdemokrat", sowohl was die politische Linie anging als auch die Finanzierung und seine weitere Verbreitung [Weil der Züricher Verlag das Geschäft nicht mehr allein halten konnte, sollte ein Schweizer Freund – Conrad Conzett - , der über gute Verbindungen zur inländischen Arbeiterbewegung verfügte, aufgenommen werden.] . Über die künftige Haltung der Zeitung wurde heftig und mit persönlichen Angriffen debattiert [Je länger die Sitzungen am Abend dauerten, desto hitziger scheint die Stimmung geworden zu sein, gegenseitige Vorwürfe wie: ‘Schwafeln’ oder: ‘man müsse jedem die Stelle lassen, wo er seine Eier legen kann’ wurden dabei laut (IISG, Protokoll 1882 im Motteler-Nachlaß). Wenn Bebel diese Konferenz als von ‘herzerfrischender Offenheit und Rücksichtslosigkeit’ beschrieb (1914, S. 239), so schien doch eher letzteres zutreffend deutlich zu machen, wie groß die Differenzen trotz des ‘reinigenden Gewitters’ (Bebel, ebd.) in Fraktion und Parteileitung immer noch waren.] . Die Auseinandersetzungen gipfelten in dem Antrag von Ignatz Auer und Wilhelm Blos, der Redaktion in Zürich kategorisch jede Kritik an Fraktionsmitgliedern zu verbieten (IISG, Motteler-Nachlaß 1480/1). Erst nachdem Bernstein (der das Vertrauen der beiden ‘Autoritäten’ in London wie die Unterstützung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht besaß) drohte, als Redakteur zurückzutreten, endete die Debatte einmal mehr „in allgemeiner Harmonie" (EB an FE, 1.9.1882, Bernstein/Engels 1970, S. 125).

Weitere Diskussionen beschäftigten sich mit der Herausgabe neuer Literatur und mit dem von den Mitgliedern verlangten Parteikongreß, er wurde für Ostern 1883 geplant. Über die „Neue Welt" war zu berichten, daß diese bisher nicht verkauft worden war, obwohl sie Defizite verursachte und deswegen die Erwartungen nach ‘Existenzssicherung für schriftstellernde Genossen’ (Blos [Wilhelm Blos schien sich mit seiner Forderung nach Existenzsicherung durchgesetzt zu haben. Er siedelte Anfang 1883 nach Stuttgart (Bad Cannstatt) über, nachdem er in Bremen wegen seiner Konflikten mit den dortigen Parteigenossen nicht mehr bleiben konnte. Blos selbst stellte es später so dar, als hätte Heinrich Dietz ihn 1882 aufgefordert, nach Stuttgart zu kommen (Blos 1919, S. 49; darauf berufen sich fast alle folgenden Texte z.B. Rieber 1984, S. 329).] ) nicht mehr erfüllen konnte. Außerdem gab es einen endgültigen Schiedsspruch über die Differenzen zwischen Louis Viereck und Heinrich Dietz als Herausgeber der „Neuen Welt". Viereck sollte versucht haben, nach gescheiterten Verhandlungen zwischen ihm und Heinrich Dietz als Beauftragtem Höchbergs von diesem das Geld zurückzufordern, das er der Leipziger Druckerei geliehen hatte (Proto-koll der Konferenz und Mitteilungen von Dr. Langkau, IISG). Heinrich Dietz kritisierte, daß Louis Viereck bei der Kündigung seines Darlehens zu wenig Vertrauen in die Partei gehabt hätte (BLHA, Pr.Br. Rep. 30, Berlin C, Nr. 10202, 1. 11. 1882).

Der Schiedsspruch fiel salomonisch aus und machte keine genaue Aussage: Kolportierte Gerüchte über Vierecks Versuche, durch Kündigung seines Darlehens „dem Stuttgarter Geschäft Schwierigkeiten zu bereiten", wären „erklärlich und entschuldbar", andererseits hätte er das Darlehen doch nicht gekündigt [„Nachdem tatsächlich feststeht, daß der Besitzer der Stuttgarter Druckerei und der Schuldner der Mk. 7000 ein und dieselbe Person sind damit war Höchberg gemeint, agr., da ferner feststeht, daß die Kündigung der 7000 Mk. nicht erfolgt ist [...]" (IISG, Motteler-Nachlaß, 1480/3). Louis Viereck bedauerte sehr, daß Carl Höchberg nicht selbst nach Zürich kommen konnte, um Klarheit in die Angelegenheiten zu bringen, er fühlte sich ungerecht behandelt. Denn: „In der Tat gingen ja die Verhandlungen und Vorschläge von uns aus, und nicht von ihm, und daß er seine Interessen gewahrt hat, kann man ihm doch nicht übel nehmen. [...] Daß er Appetit auf die Druckerei hat, ist dabei gleichgültig, denn wir haben denselben erst geweckt, und Pressionen hat er nicht auf mich ausgeübt, denn die Kündigung der 7000 Mark wären eine solche nur gewesen, falls ich nicht gut in der Lage gewesen wäre, dieselbe zu ertragen" (CH an EB, 23. 8. 1882, NL Bernstein, Korr., D 281).] . Am Ende der Konferenz schickten die dort Versammelten an Carl Höchberg einen Gruß, in dem sie ihm mitteilten, daß sie nun „im Begriffe stehen, auf geebneten Wegen und nach glücklicher Überwindung mehrfacher Hindernisse" wieder nach Deutschland zurückzukehren (21. 8. 1882, IISG, NL C.A. Schramm 11a, zit. nach Liebknecht 1988, S. 425).

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3.4.6. Die „Neue Zeit"

„Als sich 1882 zwei Kämpfer – ein sozialistischer Theoretiker und ein sozialistischer politischer Praktiker – die Hände zum gemeinsamen Tun reichten, da wußten sie beide, daß sie die von ihnen angestrebte Zeitschrift zu einer wirklichen Waffenkammer des aufsteigenden Sozialismus gestalten müßten" (Kampffmeyer 1933, S. 70).

Im Frühjahr 1882 hatte sich Karl Kautsky, ein in Wien lebender junger Sozialist, der einem Kreis intellektueller Sozialreformer und Sozialisten um Heinrich Braun und Victor Adler angehörte, vorgenommen, eine theoretische, „im marxistischen Geist gehaltene Zeitschrift ins Leben zu rufen" [Zur Zeitschrift und zu ihrem Programm vgl. z.B. Kautsky 1960, Gilcher-Holtey 1986 und (aus DDR-Sicht) Rieck 1974 (die erstmalig zu diesem Aspekt der Verlagstätigkeit die Briefe von Heinrich Dietz an Karl Kautsky auswertete) sowie Fricke 1976. Die Biographin Gilcher-Holtey mag nicht entscheiden, ob die Idee für „Neue Zeit" allein Kautskys Sache gewesen sein kann, sie schreibt seinem Wiener Kreis zumindest einen nicht geringen Einfluß zu. Bernstein berichtete später, Kautsky sei durch „Heinrich Brauns Verdienst" zu dem Entschluß gekommen (Gilcher-Holtey 1986, S. 32 und FN 53, und bezieht sich auf Bernstein 1928, S. 130).] . Diese Ankündigung wurde bei den führenden Sozialisten „mit lebhaftem Interesse" aufgenommen. Eduard Bernstein empfahl Karl Kautsky, sich wegen des Verlages an Heinrich Dietz zu wenden (KK an HD, 16. 7. 1884, IISG, K C 357 [Transkription großer Teile dieses Briefes bei Schaaf 1976, S. 615.] ), auch August „Bebel unterstützte warm den Plan Kautskys, wegen der Übernahme des Verlags der Zeitschrift an den Parteigenossen Heinrich Dietz heranzutreten, [...] der in Stuttgart ein kleines, mit dem Ruin kämpfendes sozialistisches Verlagsgeschäft übernommen und mit ebenso viel Sinn für geschmackvolle Technik wie Verständnis für die kaufmännischen Anforderungen des Buchhandels zur Lebensfähigkeit entwickelt hatte" (Bernstein 1928, S. 130).

Am Rande der Augustkonferenz wurden dann nicht nur Streitigkeiten über die „Neuen Welt" verhandelt, sondern auch über Kautskys Vorhaben gesprochen (Bernstein 1928, S. 130): „Ich sollte auch nach Zürich kommen, und dort sollte alles entschieden werden" (KK an HD, 16. 7.1884, IISG, K C 357). Weil aber über die Zukunft des Unterhaltungsblatts „Die Neue Welt" noch nicht endgültig entschieden war, bekam Karl Kautsky in Zürich nur eine hinhaltende Antwort [Die Gründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift ‘lag offenbar in der Luft’; Carl Höchberg schrieb darüber an Bernstein kurz nacheinander über zwei Varianten (vgl. die Briefe vom 9. und 13. 3. 1882): Erst formulierte er selbst die Idee mit der Überlegung, Karl Kautsky zum Redakteur zu machen (wobei unklar bleibt, ob nur seine eigene Initiative dahinter stand), vier Tage später berichtete er von Max Neißers Vorschlag (Max Neißer aus Breslau war Mitredakteur der „Deutschen Leitartikelkorrespondenz" von Franz Goldhausen in Bremen gewesen, bevor dieser nach Leipzig übersiedelte, um die Genossenschaftsbuchdruckerei zu übernehmen Kießhauer 1992, S. 106), der „Neuen Welt" ein wöchentlich erscheinendes Blatt mit wirtschaftlich-politischem Inhalt beizulegen, mit Wilhelm Blos als politischem und ihm Neißer selbst als Wirtschaftsredakteur. Carl Höchberg begrüßte diesen Gedanken als Möglichkeit, die Auflage wieder steigern zu können, „indem die Männer dann auch geistige Nahrung erhalten" . Allerdings lehnte er es ab, sich für diese Wochenbeilage ‘finanziell oder moralisch zu engagieren’ (ebd.). Da seine Vermögensverhältnisse sich verschlechterten, war Carl Höchberg nicht mehr in der Lage, größere Summen zur Verfügung zu stellen. Er schlug deswegen auch die Bitte um Betriebskapital für die „Neue Zeit" ab (Brief von Carl Höchberg vom 19. 1. 1883 im ehemaligen ZPA Moskau, nach Mitteilungen von Ursula Herrmann, Berlin).) Bruno Geiser sollte seinerseits vorgeschlagen haben, die „Neue Welt" in eine wissenschaftlich orientierte Monatszeitschrift umzuwandeln (Gilcher-Holtey 1986, S. 33). Kautsky vermutete, daß Höchberg es gestattete, aus dem Verkaufserlös der „Neuen Welt" eine neue Zeitschrift zu gründen, „deren Leitung in die Hände Bruno Geisers gelegt werden sollte, der eben die „Neue Welt" in Grund und Boden gewirtschaftet hatte" (1960, S. 517).] . Erst im Oktober 1882 kamen Karl Kautsky und Heinrich Dietz mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht, letztere als ‘Vertreter der Parteileitung’, in Salzburg [Unkorrekt bei Rieber (1984, S. 366) und deshalb auch bei Sauer: „Bereits im Herbst 1881 hatte er H.D., agr. sich in Salzburg mit Wilhelm Liebknecht und Karl Kautzky sic auf die Herausgabe einer neuen Theoriezeitschrift, die „Neue Zeit" geeinigt" (1989, S. 344).] zusammen. Man traf sich auf dem Kapuzinerberg bei Salzburg (HD an KK, 15. 10. 1904, IISG, K D VIII, Br. 354), denn: „Bis zu dieser Grenzstadt hatten die deutschen Reichstagsabgeordneten freie Fahrt auf der Reichsbahn" (Kautsky 1960, S. 524).

Von Anbeginn war klar: „Wohl sollte unsere Zeitschrift eine private Unternehmung sein, aber doch nur den Behörden gegenüber. Mit der Partei stand sie von ihrem Ursprung an in engstem Kontakt" (Kautsky 1960, S. 524). Zu Kautskys Überraschung war auch sein vermeintlicher Konkurrent Bruno Geiser mit nach Salzburg gekommen, der sich aber mehr für die Annehmlichkeiten einer solchen Kurzreise interessierte [Geiser nahm aber auf die Verhandlungen keinen Einfluß: „Um so mehr interessierte ihn der Peterskeller, mit dem ihn oder vielmehr uns Bebel bekannt machte" (Kautsky 1960, S. 525). Auch Heinrich Dietz sah Geiser eher an einem Ausflug als an der „Neuen Zeit" interessiert: „Geiser stand und steht dem Blatt der „Neuen Zeit", agr. fern. Wenn G. seiner Zeit mit nach Salzburg fuhr, so lag ihm wahrscheinlich das meiste an der Spritzfahrt" (HD an KK, o.Dat. 1883/84, IISG, K D VIII, Br. 12).] . Schriftlich vereinbarten Heinrich Dietz, Karl Kautsky und Heinrich Braun anschließend [Die schriftlich festgehaltenen Vereinbarungen existieren nicht mehr, es hatte sie jedoch gegeben. Karl Kautsky in seinem Brief(entwurf) an Heinrich Dietz vom 16. 7. 1884: Die ihm zugesagten 250 Mark Gehalt „standen im Kontrakt , der nicht mehr existiert" (IISG K C 357). Ähnlich schrieb Heinrich Dietz über „Verpflichtungen, die wir s. Z. schriftlich eingingen" (IISG, K D VIII, Br. 10 Anfang Juni 1884) und noch einmal am 4. 2. 1886: „Wenn wir uns auch ab und zu einige Grobheiten gesagt haben, so werden Sie doch eingestehen müssen, daß unser Ziel der N. Zeit ein gleiches gewesen ist, daß ich den nicht ganz leichten Verpflichtungen nachgekommen bin, auch ohne den auf Betreiben Br.s vernichteten Vertrag" (an KK, IISG, K D VIII, Br. 94). Gemeint war Braun, nicht Liebknecht = L., wie Schaaf wahrscheinlich aufgrund eines Lesefehlers schrieb (1976, S. 616).] , die als nötig angesehenen 9.000 Mark Gründungskapital sollten von ihnen gemeinsam aufgebracht werden (tatsächlich wurde wesentlich weniger eingezahlt [Karl Kautsky sprach davon, er habe 2.000 Mark gegeben, mehr hätte er nicht gehabt, auch Braun sollte 2.000 Mark eingezahlt haben (Kautsky 1960, S. 524 u. 542). Heinrich Dietz beklagte sich später, von K. Kautsky fehlten immer noch 350 Mk. an der vereinbarten Summe (8. 7. 1884, IISG, K D VIII, Br. 43). Ganz zu klären ist der Sachverhalt nicht mehr (vgl. auch Gilcher-Holtey 1986, FN 63, S. 279). Heinrich Braun hatte „versprochen, für die ersten beiden Jahre je 10.000 Mark zuzuschießen" (KK an FE, 3. 10. 1883, Engels/Kautsky 1955, S. 86).] ). Die Redaktion würden Karl Kautsky und Heinrich Braun gemeinsam besorgen [Nach anderen Darstellungen war die Frage strittig, ob Heinrich Dietz auch an der inhaltlichen Gestaltung der „Neuen Zeit" mitwirken dürfte. Kautsky unterstützte Heinrich Dietz (z.B. Gilcher-Holtey 1986, S. 34). Heinrich Braun schied aus der Redaktion und aus der Zeitschrift insgesamt aus (Engels/Kautsky, S. 86). Zum Glück forderte er seinen Anteil nicht zurück, sondern übertrug ihn an Wilhelm Liebknecht (Kautsky, S. 542). Dieser kümmerte sich aber nur sehr selten um den Inhalt der wissenschaftlichen Revue und ab 1884 fast gar nicht mehr.] . Wilhelm Liebknecht übernahm eine Art Aufsichtsfunktion, um, wenn nötig, „irgendwelche programmwidrigen Seitensprünge" in der neugegründeten Zeitschrift zu verhindern (Kautsky, ebd.).

Die wissenschaftliche Zeitschrift erschien mit einer Startauflage von 5.000 Exemplaren (Bartel/Schröder/Seeber 1980, S. 145), die jeweils drei Bogen starken Hefte sollten 50 Pfennige kosten (Kautsky, S. 524). Der Werbeprospekt für die neue Monatsschrift erschien im Dezember 1882, ein kostenlos vertriebenes Probeheft fand sehr gute Resonnanz [„Dietz, der vor einigen Tagen hier war, teilte mit, daß die Herausgabe des Probeheftes einen sehr bedeutenden Erfolg gehabt habe. Die erste Auflage von fünf- oder sechstausend ist nahezu vergriffen, und will er eine zweite veranstalten" (AB an FE aus Borsdorf, 6. Jan. 1883, Bebel/Engels 1965, S. 147).] . Bestellungen wurden über „die nächste Buchhandlung" erbeten (Prospekt in: StA Lb F 201, Bü 666), die erste Nummer der „Neuen Zeit" – „in elegantem Umschlag" (Prospekt) – wurde zum 1. Januar 1883 ausgeliefert. Auf diesen Tag datierte Kampffmeyer „das geistige Geburtsjahr des Dietz-Verlages" (1933, S. 68).

Wegen der Redaktionsführung gerieten Heinrich Braun und Karl Kautsky schon bald in einen Streit. Der Grund dafür lag in der von Heinrich Dietz angeregten Veröffentlichung einer Schrift Jakob Sterns, des wegen religiöser Differenzen zur Stuttgarter jüdischen Gemeinde entlassenen Rabbiners und Schriftstellers. Heinrich Braun erhob dagegen Einspruch gegen die Veröffentlichung, angeblich aus überbetontem intellektuellen Anspruch (Kautsky, S. 542).

Finanziell gesehen war die Herausgabe einer theoretischen Parteizeitschrift lange Zeit ein reines Verlustgeschäft [„Karl Kautsky [...] leitete mit Liebknecht ‘Die Neue Zeit’, formell als Privatunternehmen, faktisch als wissenschaftliches Organ der Partei" (Liebknecht 1988, S. 36). Götz Langkau (IISG) erwähnte Heinrich Dietz’ Mitarbeit in seiner Einleitung zum Briefwechsel nicht, zählte ihn auch nicht zum „Kreis derer, die in den ersten sechs Jahren unter dem Ausnahmegesetz die Gesamtpartei nach außen hin repräsentierten und an der politischen und organisatorischen Leitung mehr oder weniger direkt beteiligt waren" (ebd.).] . Obwohl die „Neue Zeit" auch durch ihren Abonnentenstamm nie große Gewinne brachte, so war die finanzielle Decke im ersten Jahr besonders dünn, ein Grundstock in geplanter Höhe nie vorhanden. Einen so großzügigen und theoriebewußten Mäzen wie Höchberg, der die Zeitschrift womöglich gestützt hätte, konnte die Partei nicht wieder bekommen (Kautsky 1960, S. 514). Schon im ersten Jahr ihres Erscheinens entstand der „Neuen Zeit" ein Defizit von knapp 1.800 Mark, und Heinrich Dietz kürzte das Gehalt des Chefredakteurs von 250 auf 150 Mark monatlich. Jedes Monatsheft verursachte dennoch nicht gedeckte Kosten von etwa 180 Mark, dabei waren die rund 100 kostenlosen Rezensions- und Werbeexemplare noch nicht einmal berücksichtigt (HD an KK, 8. 7. 1884, IISG, K D VIII, Br. 43). „Wir können es uns nicht verhehlen: ca. 2000 Mk. jährlich Subvention bedarf die N.Z., wenigstens so lange, als wir unter dem Sozialistengesetz stehen. Das ist die N.Z. auch wert" (HD an KK, 15. 4. 1884, IISG, K D VIII, Br. 38).

Heinrich Dietz und Karl Kautsky beklagten, es fehlte der „Neuen Zeit" die ideelle Unterstützung durch führende Parteigenossen, obwohl doch August Bebel und auch Friedrich Engels sich nachdrücklich für ihre Existenz einsetzten. Wahrscheinlich meinte Heinrich Dietz auch eher ganz prosaisch Werbung für die „Neue Zeit", denn es fehlte die Menge der Käufer! Bei den geringen finanziellen Mitteln der Mitglieder war das Abonnement einer zweiten Zeitschrift eben fraglich: „Die Leute sagen oft, ein Blatt können wir nur halten, entweder die N.Z. oder den S.D., selbstverständlich geht dann letzterer vor" (HD an KK o.Dat. wahrsch. Ende 1883, IISG, K D VIII, Br. 12). Heinrich Dietz dachte daran, selbst in den Parteiorganisationen für die „Neue Zeit" zu werben. Wenn er nur genügend Zeit hätte, traute er sich zu, an die 800 bis 900 zusätzliche Abonnenten gewinnen. Er mußte sich aber mit ‘schriftlicher Agitation’ begnügen (ebd.).

Über die Kosten der „Neuen Zeit" und darüber, ob dieses Zeitungsunternehmen durch andere Einnahmen des Verlages subventioniert werden sollte, entbrannte später nicht nur ein heftiger Streit. Zunächst aber war Heinrich Dietz optimistisch: „Sie haben keine Ursache, den Mut zu verlieren, Wir treiben im Laufe des Jahres die N.Z. soweit, daß sie sich vollends deckt. Seien Sie also lustig und guter Dinge" (HD an KK, 5. 3. 1883, IISG, K D VIII, Br. 21). Er versicherte Karl Kautsky noch im November: „Wir wollen die N. Z. halten, solange es geht. Geld habe ich noch nicht aufgetrieben, aber hoffentlich wird es mir gelingen. Auch Sie sollten sehen, daß ein Gönner aufgetrieben wird. Unser Verhältnis bleibt dasselbe, bis ich sehe, wie sich der neue Jahrgang macht. Bessert er sich, so bessert er sich für uns alle, wenn nicht, so müssen wir durch Reduktionen versuchen, die Scharte auszuwetzen. [...] Die N.Z. ist mir zu sehr ans Herz gewachsen, als daß ich ruhig zusehen würde, wenn ein Inzest an ihr verübt werden würde" (HD an KK, 31. 10. 1883, IISG, K D VIII, Br. 23, Hervorhebung im Orig.).

Die „Neue Zeit" erschien 35 Jahre lang unter Kautskys redaktioneller Leitung, danach noch weitere sechs Jahre, bis sie 1923 einging. Entstanden in der deutschen Ausnahmesituation als einzige legale (Theorie-)Zeitschrift der illegalen Partei, blieb die „Neue Zeit" während des Sozialistengesetzes ohne eine einzige Beanstandung. Kautsky schrieb zunächst sehr viel selbst (auch unter Pseudonymen), konnte dann aber trotz ungünstiger Ausgangslage Artikel von bedeutenden sozialistischen Schriftstellern aus dem In- und Ausland veröffentlichen. Die „Neue Zeit" wurde schnell zum wichtigsten theoretischen Organ der Sozialdemokratie. Karl Kautsky, der – als Österreicher – nie ein Reichstagsmandat innehatte und sich nie für ein Parteiamt zur Wahl stellte, erreichte mit seiner Zeitschrift mehr Einfluß in der Partei als viele andere Führungsmitglieder. Die marxistische Ausrichtung der „Neuen Zeit" prägte die Theoriedebatte vieler Jahre.

Im Jahre 1882 wurde die Stuttgarter Druckerei noch einmal durchsucht: Während der laufenden Sitzungsperiode des Reichstages kam am 12. Juni die Polizei wegen eines Separatabdruckes der Rede des Reichstagsabgeordneten Georg von Vollmar [Vollmar hatte im Mai für die Sozialdemokraten seine ‘Jungfernrede’ zum Tabakmonopol gehalten. Eine bloße Wiedergabe des reinen Wortlautes fiel nicht unter die Bestimmungen des Sozialistengesetzes. Die Publikation des Textes einer im Reichstag gehaltenen Rede nach den offiziellen Stenographischen Berichten war erlaubt.] (Rieber 1984, S. 352f.). Als Drucker dieser Schrift wurde Heinrich Dietz vorgeworfen, er hätte in der Broschüre wahrheitswidrig ‘Druck der Genossenschafts-Buchdruckerei in Nürnberg, 1882’ angegeben. Der Stadtmagistrat in Nürnberg intervenierte bei den Stuttgarter Amtskollegen und forderte diese zum Einschreiten wegen Verstoßes gegen die §§ 6 und 19 des Pressegesetzes auf (vgl. StA Lb, F 201, Bü 662). Inzwischen aber war man zurückhaltender geworden; ein Strafverfahren gegen Heinrich Dietz wurde zwar eingeleitet, dann aber wieder ausgesetzt. Danach bekam das Stuttgarter Landgericht den diskreten Hinweis, eine Verfolgung nach dem Ende der nächsten Reichstagssession wäre nicht mehr opportun und die Aussicht auf eine Verurteilung wegen dieses geringen Vergehens äußerst fraglich. Das Verfahren wurde schließlich wegen Verjährung eingestellt (StA Lb, F 201, Bü. 662).

Doch aus der Sicht der Behörden, insbesondere der preußischen Politischen Polizei, entwickelte sich das Dietzsche Geschäft schnell zum Zentrum der Partei. Das betraf nicht nur die Stuttgarter Sozialdemokraten [Hier waren die ‘Parteiführer’ Baßler, Löbenberg und Schröter beschäftigt (Fischer 1930).] . Später sollte sogar eine Verbotsverfügung, die den Reichstagsabgeordneten Max Kayser betraf, über den Stuttgarter Verlag zugestellt werden (Stern 1956, S. 403). Diese Zustellung rührte wahrscheinlich daher, daß sich sozialdemokratische Abgeordnete vor der Veröffentlichung ihrer kleineren Schriften oder Separatdrucken von Reichstagsreden zuerst an den neuen Parteiverlag in Stuttgart wandten. Auf diese Weise ‘verlegte’ Heinrich Dietz 1883 auch Karl Frohmes Schrift „Die Entwicklung der Eigentumsverhältnisse", die der Polizei-Präsident in Frankfurt am Main durch die königliche Regierung in Kassel verbieten ließ (StA Lb, F 201, Bü 662, 29. 10. 1883ff.). Anfang November 1883 gab es deswegen eine weitere Haussuchung in der Druckerei. Von den hergestellten 800 Exemplaren fanden sich nur noch fünf an, die Druckplatten waren überhaupt nicht mehr auffindbar. Gegenüber den Behörden schoben sich Karl Frohme und Heinrich Dietz die Verlegerverantwortlichkeit gegenseitig zu [Die Publikation wurde nicht erwähnt bei Emig/Schwarz/Zimmermann 1981. Wahrscheinlich handelte es sich doch um ein Kommissionsgeschäft.] .

Die Verlagsgeschäfte boten manche legale Gelegenheit der Kommunikation unter den Genossen, so daß neben den Treffen der Fraktion in Berlin und der Züricher Auslandszentrale auch das Stuttgarter Geschäft immer mehr zum Drehpunkt für gegenseitige Information wurde und eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt in dieser Situation spielte. Heinrich Dietz bekam dabei zusehends die Funktion eines Vermittlers zwischen Berlin und Stuttgart. Zur selben Zeit versuchte die Berliner Polizei, Heinrich Dietz eine Verbindung zu anarchistischen Kreisen anzuhängen – aber vergeblich: Die Stuttgarter Behörden antworteten, Heinrich Dietz hätte nur Kontakt zu Sozialdemokraten, und auch in seinem Geschäft wären nur solche beschäftigt [In Stuttgart sollte vertraulich nach Heinrich Dietz’ Briefwechsel mit dem Most-Anhänger und ‘eifrigen Agitator’ Stanilaus Dybirsbanski gefahndet werden. Aber dort gab es ‘in diesem Betreff keine Anhaltspunkte’ (StA Lb F 201, Bü 627, 17. 1. u. 17. 3. 1883).] .

Mißtrauen traf Heinrich Dietz aber nicht nur vom politischen Gegner. Er mußte sich auch der Kritik aus dem eigenen Lager stellen, als Höchberg 1882 in Stuttgart die zweite Serie seiner „Staatswirtschaftlichen Abhandlungen" erscheinen ließ. Die wissenschaftliche Zeitschrift, herausgegeben unter Höchbergs Pseudonym ‘Dr. R.F. Seyfferth’, mußte Heinrich Dietz verlegen. Schon weil das Geschäft Höchberg gehörte, konnte er nicht ablehnen, handelte sich damit aber einen Tadel aus London ein. Karl Marx und Friedrich Engels lehnten Höchbergs Ansichten streng ab. Ein 1879 im gleichfalls von Höchberg herausgegebenen „Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschienener und mit drei Sternen gezeichneter Artikel wurde Höchberg selbst, seinem Sekretär Eduard Bernstein und Carl August Schramm zugeschrieben (ESZ 1981, S. 16). Eine Reihe von sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten hatte die sozialpolitischen Reformen [Vgl. hierzu z.B. Laufenberg 1931, S. 287ff u. S. 324ff.] begrüßt sowie den ‘Drei-Sterne-Artikel’ unterstützt. Marx und Engels kritisierten die Zustimmung zu derartigen staatlichen Maßnahmen scharf als ‘gefährlichen Opportunismus’. Also „konnte Dietz" nach der Aufnahme der Höchbergschen „Staatswirtschaftlichen Abhandlungen" [Die „Staatswissenschaftlichen Abhandlungen" wurden mit dem Erscheinen der „Neuen Zeit" eingestellt.] in sein Verlagsprogramm „kaum hoffen, den Beifall der beiden Nestoren des Sozialismus [...] zu gewinnen" (ESZ, ebd.). Er mußte daraufhin mit verstärkter Zurückhaltung – im schlimmsten Fall sogar mit der Ablehnung – durch die legendären Köpfe der Bewegung rechnen.

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3.4.7. Der Verfassungsbruch im Reichstag

Der Reichstag hatte gleich Anfang 1882 vom Bundesrat einen vollständigen Bericht über die Gründe verlangt, warum ein Abgeordneter während der laufenden Session verhaftet wurde, sowie die Sicherstellung, daß künftig alle Gerichte unverzüglich das Reichstagspräsidium zu informieren hätten, falls Reichstagsmitglieder verhaftet wurden (Sten. Ber. 1882, S. 645ff., Beschluß S. 655). Der Bundesrat aber ließ sich Zeit und erklärte, „daß er keine Veranlassung habe, diesem Reichstagsbeschluß Folge zu leisten" (Sten. Ber. 1883, S. 886) [Zur Behandlung der Angelegenheit im Reichstag und Bundesrat vgl. im Bestand des Bundesarchivs, Abt. Potsdam, 15.01., Nr. 14760.] . Im Juli 1882 stellte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion deswegen einen erneuten Antrag auf Vorlage allen Aktenmaterials. Bevor der Reichstag abschließend über das Krankenversicherungsgesetz für Arbeiter verhandelte, kam in der Sitzung am 13. Januar 1883 noch einmal ‘der Fall Dietz’ auf die Tagesordnung, Heinrich Dietz sprach selbst. Ausführlich erläuterte er die Umstände seiner Verhaftung (Sten. Ber. 1883, S. 883 – 885) und betonte dabei besonders seine Parteimitgliedschaft: „Da es sich aber um einen Sozialdemokraten handelte, und die Denunziation dazu noch von dem Berliner Polizeipräsidium ausging, so hielt man sich wahrscheinlich für verpflichtet, sofort ohne Untersuchung darauf loszustürzen" (ebd., S. 885, Hervorhebungen im Orig.). Ob Heinrich Dietz mit seiner Rede die Abgeordneten gelangweilt hatte? Möglicherweise empfand Dr. Meyer aus Halle so. Der Abgeordnete war Mitglied der Geschäftsordnungs-Kommission und nahm anschließend zu Heinrich Dietz Stellung: „Ich will versuchen, aus dem Vortrage, der soeben zur Begründung des Antrags gehalten worden ist, und der manches berührte, was lediglich die Stellung des in diese Angelegenheit verwickelten Abgeordneten betrifft, und manches, was lediglich die Justizaufsicht angeht, dasjenige herauszuschälen, was für die Stellung des Reichstags von Wichtigkeit ist" (Sten. Ber. 1883, S. 885). Großen Wert hatte Heinrich Dietz auf die Feststellung gelegt: „Nun steht es zweifellos fest, daß es sich hier um eine Verfassungsverletzung handelt. Das hohe Haus hat entschieden ein großes Interesse daran, derartige Vorfälle auf das strengste zu verfolgen" (Sten. Ber. 1883, S. 885). Dieser Argumentation schloß sich die Mehrheit der Herren Abgeordneten an.


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