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3.2. Ausweisung aus Hamburg, Aufenthalt in Harburg (1880/1881)

„In Hamburg, in Harburg zerschlug die brutale Polizeifaust das Dietzsche Buchdruckergeschäft; von der Stätte jahrelangen erfolgreichen Wirkens, von Hamburg verwies ihn ein in allen Nücken und Tücken des Ausnahmegesetzes geschultes, rohes Bütteltum" (Kampffmeyer 1922, S. 3).

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3.2.1. Ausweisung des ‘notorischen Sozialdemokraten’

Im Herbst 1880 nahm der politische Druck auf die Hamburger Sozialdemokraten zu. Die Parteileitung machten sich zunehmend Gedanken, wie verschärften Verfolgungsmaßnahmen zu begegnen sein würde. Wieder einmal traf man Vorbereitungen zum Erhalt der Druckerei. Heinrich Dietz als der verantwortliche Leiter nahm an den Beratungen sicherlich teil [Quellenangaben über den Teilnehmerkreis solcher Beratungen sind nicht erhalten. Die Tatsache, daß Heinrich Dietz schließlich – wenn auch nur nominell – die Verantwortung für das Geschäft übernommen hatte, läßt aber den Schluß zu, daß er zu den Treffen herangezogen wurde.] . Im September 1880 wurde er wegen eines Verstoßes gegen das Pressegesetz noch einmal zu einer Geldstrafe von 25 Mark verurteilt (StAH S 149/63, Bl. 158 und 170).

Obwohl Hamburg immer noch eines der wichtigsten Zentren der Sozialistischen Arbeiterpartei war, hatte der Senat die Anwendung vom § 28 des Sozialistengesetzes (Verhängung des Belagerungszustandes) bereits mehrfach abgelehnt. Nach dem Wahlerfolg der Sozialdemokraten im Juni 1880 verdichteten sich aber Gerüchte, daß die preußische Regierung ihren Druck auf den Hamburger Senat verstärkte. Angeblich machte der Wahlsieg des Sozialdemokraten Hartmann den Ausnahmezustand nötig [Preußen richtete Anfang August 1880 – direkt nach der Reichstagsnachwahl, aber noch vor dem Kongreß in Wyden – das amtliche Ersuchen an den Hamburger Senat, gemeinsam mit den umliegenden Regionen Altona und Wandsbek den Belagerungszustand über das Stadtgebiet zu verhängen. Später wurde es so dargestellt, als wäre der eigentliche Anlaß erst der Kongreß und die dortige Änderung des Programms gewesen.] , zusätzlich diente ihr Kongreß vom 20. bis 24. August 1880 im Schweizer Schloß Wyden als Vorwand [Fortan sollte mit allen Mitteln (und nicht mehr nur mit allen gesetzlichen Mitteln) um die Verwirklichung der Ziele gekämpft werden (vgl. z.B. bei Hellfaier 1958, S. 239ff.). Die Hamburger Polizei hatte lange Zeit vermutet, die Konferenz sollte im Gebäude der „Gerichts-Zeitung" abgehalten werden (StAH S 14). ] . Der Kongreß konnte seine wichtigste Funktion eindrucksvoll erfüllen: den Zusammenhalt der Partei auch nach außen hin zu demonstrieren, der Resignation entgegenzuwirken sowie in den innerparteilichen Auseinandersetzungen ein deutliches Zeichen zu setzen. Die Partei zeigte sich danach relativ stabil: „Trotz der in aussichtstehenden Verlängerung des Sozialistengesetzes [...] findet man gegenüber den früher gemachten Wahrnehmungen von den Sozialdemokraten ein sicheres und bestimmtes Auftreten und ist nirgends, wie früher oft bemerkt, eine gedrückte Stimmung zu finden" (Der Landrat von Pinneberg im April 1880, zit. in Kutz-Bauer, S. 307).

Die Einberufung eines Kongresses in dieser brisanten Lage erschien vielen Hamburger und Altonaer Mitgliedern als taktisch sehr unklug und die Gefahr zu groß, daß die Delegierten sofort nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz verhaftet werden würden (was nicht geschah). Möglicherweise drohte sogar eine Schließung der Genossenschaft: „Die Schuld wird dafür den Amelungern aufgebürdet, welche für die Veranstaltung des Kongresses und für die etwaigen Folgen verantwortlich gemacht werden" (StAH Senat, Cl. VII, Bd. 4, Bericht vom 27. Aug. 1880).

Die Hamburger Regierung ‘zierte’ sich noch eine Weile, gab aber schließlich doch dem Drängen Preußens nach, weil Bismarck sie mit einer Stärkung der Hamburger Position in der Zollanschlußfrage köderte (Thümmler 1979, S. 55). Nach außen hin versuchte der Senat, „die öffentliche Meinung dahingehend zu beeinflussen, daß er nur unter Bismarcks Druck der Verhängung des Kleinen Belagerungszustandes zugestimmt habe und daß dieser eigentlich für Hamburg nicht notwendig gewesen sei." Gleichlautende Verfügungen galten auch in den anderen Teilen des Vier-Städte-Gebietes. Betroffen waren rund 600.000 Einwohner in dem über zwanzig Quadratmeilen großen nördlichen Belagerungsgebiet (Laufenberg 1931, S. 208). Selbst das „vollständig unschuldige Lauenburg" wurde einbezogen – eine Maßnahme, die der unmittelbaren Bequemlichkeit des Reichskanzlers diente, weil „Friedrichsruh in dieser Landschaft liegt. Die Lauenburger Wilddiebe haben einem großen Forstbesitzer schon viel Kopfweh gemacht, jetzt ist das Mittel gefunden, sich ihrer zu entledigen[...]" (IA an JM, 29. 10. 1880, zit. nach Kutz-Bauer, S. 307, Original im IISG, NL Motteler).

Als erste Maßnahme verbot der Senat die Ausgabe der „Gerichts-Zeitung" vom Samstag, 30. Oktober 1880 (StAH S 10, Bl. 110f.). Gleich Anfang November wurden 75 Personen ausgewiesen. In die Druckerei der „Gerichts-Zeitung" brachte der Hamburger Polizeioffiziant Schulke am 2. November insgesamt 28 Ausweisungsbefehle. Alle Betroffenen sollten das Hamburger Stadtgebiet innerhalb von wenigen Tagen verlassen. „Morgens 10 Uhr fanden sich zwei Polizeibeamte bei mir im Geschäftslokal ein mit Ausweisungsdekreten für das gesamte Redaktions- und Expeditionspersonal", berichtete Heinrich Dietz vom Besuch der Polizei. „In der Setzerei begnügte man sich mit der Ausweisung der bereits aus Berlin ausgewiesenen Setzer [...] und im Kesselhause mit der Ausweisung des Berliner Heizers. Keine dieser Personen war auf Grund des Sozialistengesetzes bestraft" (Dietz, in: Auer 1913, S. 242f., Hervorhebungen im Orig.).

Wider Erwarten konnte die „Gerichts-Zeitung" weiter erscheinen. Deswegen wurden neue Redakteure ernannt und andere Leute in der Expedition eingesetzt, „aber die Polizei hatte einen Spion im Geschäft, den man nicht kannte. Nach wenigen Stunden erschien sie wieder und brachte die Ausweisungsbefehle für sämtliche Ersatzmänner" (Laufenberg 1931, S. 211 [Laufenberg schilderte die Folgen sehr eindringlich im Abschnitt ‘Die Ausweisung der Hundertfünf’ (1931, S. 210ff). Vgl. auch Auer (1889/90 und 1913) und Thümmler (1979).] ). Heinrich Dietz selbst sollte das Stadtgebiet innerhalb von drei Tagen verlassen: „Einige Stunden später kamen wiederum zwei Polizeibeamte, die mir mein Ausweisungsdekret überreichten, nachdem sie mich zuvor ‘in meiner Wohnung vergeblich gesucht’ hatten. Dadurch gelangte meine Familie etwas früher zur Kenntnis der mir bevorstehenden Überraschung – eine Liebenswürdigkeit, die mich tief gerührt hat", stellte Heinrich Dietz mit dem ihm eigenen Humor fest (in: Laufenberg, S. 242f.).

Wenn dieser Anweisung nicht rechtzeitig Folge geleistet würde, drohte Heinrich Dietz eine Geldstrafe von immerhin 1.000 Mark oder sogar Gefängnis bis zu sechs Monaten (Jensen 1965, S. 248). Die Polizei ‘begründete’ die Ausweisungsverfügung mit der lapidaren ‘Feststellung’: „Der frühere Schriftsetzer, jetzige Zeitungsverleger und Buchdruckerei-Besitzer Johann Heinrich Wilhelm Dietz [...] ist notorischer Sozialdemokrat. 29. 10. 1880" (StAH S 149/63, Bl. 159). Ihm selbst wurde darüber nichts dergleichen mitgeteilt.

Senator Kunhardt verlängerte die Ausreisefrist mehrere Male, denn Heinrich Dietz argumentierte als Arbeitgeber: Er müßte seine geschäftlichen Angelegenheiten ordnen, berief

sich auf Geschäftspartner, die er nicht enttäuschen könnte, dann auf Aufträge, die noch auszuführen seien, und schließlich darauf, daß seine Anwesenheit noch zur Regelung einer Vertretung nötig wäre. Am 10. November 1880 bewilligte Senator Kunhardt ihm einen letzten 14tägigen Aufschub. Heinrich Dietz verabschiedete sich von seinen Kunden mit einer zweispaltigen Annonce in der „Gerichts-Zeitung": Das Geschäft werde keinesfalls geschlossen werden. Aufträge erledigte man so zuverlässig wie bisher. Auch die Zeitung erschiene weiterhin und würde keinesfalls eingestellt. Nur er selbst könnte die Leitung nicht mehr persönlich wahrnehmen, ein geeigneter Stellvertreter wäre gefunden (GZ 31880Nr. 262, 7. 11.).

In der Stadt reagierten auch bürgerliche Kreise empört auf die Ausweisungen. Sie nahmen diese preußische Einmischung in Hamburger Angelegenheiten genau so ernst wie Bismarcks Versuch, die Stadt in das Zollgebiet zu zwingen und ihr das Freihafenprivileg zu nehmen: „Freund und Gegner kamen in der Auffassung überein, daß die Verhängung des Belagerungszustandes aller rechtlichen und tatsächlichen Begründung entbehrte" (Laufenberg 1931, S. 206). Selbst die Fortschrittler bildeten deshalb Komitees und sammelten genauso Geld zur Unterstützung der Ausgewiesenen wie die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei (Laufenberg 1931, S. 215). Das „Hamburger Fremdenblatt", die freisinnige „Re- form" und der nationalliberale „Hamburgische Correspondent" verspotteten den Senat: „Kein Mensch am Orte ist zu finden, der auch nur irgend etwas von den Voraussetzungen verspürte, die zur Verhängung des kleinen Belagerungszustandes gesetzlich erforderlich wären [...] , es muß sich also um eine verborgene, für das Publikum unsichtbare Gefahr handeln, und man darf gespannt sein, worin dieselbe besteht" (zit. nach Jensen 1966, S. 102f.).

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3.2.2. Liquidation der Genossenschaft

In den Tagen nach der Verhängung des kleinen Belagerungszustandes war die Parteileitung fieberhaft aktiv. Am dringlichsten erschien es, die als Genossenschaftsversammlungen getarnten Parteiversammlungen dem Blickfeld der Polizeibehörde zu entziehen. Deshalb ließ man sich eine Statutenänderung genehmigen, die Vorstand und Aufsichtsrat zur Auflösung der Genossenschaft ermächtigten. Gleich am anderen Morgen wurde sie zur Liquidation in das Handelsregister eingetragen [Polizeipräsident von Madai registrierte den Beginn der Liquidation erst in seinem Bericht vom 14. 6. 1882 (zit. in: Höhn 1964, S. 123). Die Liquidation wurde erst nach 1884 abgeschlossen (StAH Handesreg. A 19, Bd.1). Nach Eisenberg (1985, S. 149) erfolgte die Liquidation schon 1877 aufgrund zu geringer Abonnentenzahlen. Sie berief sich auf Laufenberg (1911, S. 569-573), dort aber nichts über eine Liquidation.] .

Im Juni 1880 schon hatten sich Wilhelm Hasenclever und Wilhelm Liebknecht in Hamburg mit Carl Höchberg zu Beratungen über den Erhalt der „Gerichts-Zeitung" getroffen. Die eigentlich schon nominell Heinrich Dietz gehörende Druckerei wurde nach Verhängung des Belagerungszustandes endgültig an ihn ‘verkauft’ [Läuter (1966, S. 202) registrierte überhaupt nur den zweiten ‘Verkauf’.] . Der neue ‘Vertrag’ – wieder von Höchberg finanziert – wurde am 3. November unterzeichnet [Auch Spitzel ‘Hans’ berichtete der Hamburger Polizeibehörde vom Verkauf der Genossenschaftsdrukkerei an Dietz mit Geldern von ‘Hechtberg’ (StAH S 14, 12.6. 1880). Danach hätte Carl Höchberg aber angeblich 200.000 Mark zahlen wollen.] . „Das Geschäft kaufte ich s. Z. ohne allen Vorbehalt (1881) sic, nachdem durch die Maßregelungen das ältere Geschäft gänzlich wertlos gemacht worden war. Um weitere Mittel zu beschaffen, die Kosten für die Ausweisungen zu bestreiten (die Geschäftskasse sprang sofort mit 10.000 Mark zur Hilfe), verkaufte ich 2 Doppelmaschinen [Zur Aufbesserung der Hamburger Parteikasse verkaufte man „auch eine Druckereipresse der Hamburger Genossenschaftsdruckerei und anderes Material" , allerdings auch dies nur zum Schein, um der Druckerei nicht ernsthaft zu schaden (Laufenberg 1931, S. 53 und 222).] , und das so reduzierte Geschäft (die Setzerei für die Zeitung wurde als vorläufig unbrauchbar beiseite gestellt) ließ ich von einer Kommission Hamburger Buchdruckereibesitzer taxieren" (HD an HS, 1. 4. 1888, AdSD, NL Schlüter, B 30).

Nach diesem neuen Gutachten setzte man den Kaufpreis entsprechend niedrig an: „Der Tagwert (20.000 Mark) bildete die Kaufsumme, um die ich die Buchdruckerei gegen jährliche Abzahlung = 5.000 Mark übernahm." Außerdem hinterlegte Heinrich Dietz zwei Schuldverschreibungen, die im Falle seines Todes Forderungen der ehemaligen Eigentümer absicherten [„Für einen Todesfall habe ich zwei unanfechtbare Schulddokumente hinterlegt" . Die Gelder wären allerdings schon lange in Raten zurückgezahlt, schrieb Heinrich Dietz an Hermann Schlüter (1. 4. 1888, AdSD, NL Schlüter 30/33), als später die Erben Höchbergs immer noch Anspruch auf Auszahlung der Summe erhoben. Höchberg hatte in seinem Testament sämtliche ‘sozialdemokratische’ Schulden für getilgt erklärt (IISG, NL Motteler). ] (HD an HS, ebd.). Auch das war ein Versuch, neue Streitereien um die Bilanz der Genossenschaft zu verhindern. Es stand immer noch zu befürchten, daß die Behörden aufgrund der massiven Angriffe aus den oppositionellen Kreisen der Genossenschaftsmitglieder gegen die ‘Amelunger’ Rechnungsführung doch noch auf die fingierten Eigentumsverhältnisse aufmerksam würden.

Der zweite Vertrag berücksichtigte die vom ‘Käufer’ Dietz bis dahin schuldig gebliebene Kaufsumme [Im Herbst 1878 hatte der Preis für die Druckerei 150.000 Mark betragen.] als Passivum in der Bilanz der Genossenschaft. Damit verminderte sich das Vermögen der Genossenschaft erheblich. Bei einer Zwangsliquidation wären dann erheblich weniger Geld in die Hände der Behörden gefallen. Entsprechende Vertragsklauseln sicherten der Genossenschaft die Verfügungsgewalt über die Druckerei so lange, bis der volle Kaufpreis bezahlt war [Die Bestimmungen sind bei Laufenberg genau ausgeführt. Aus ihnen wird ganz deutlich, daß mit der Bezahlung der Kaufsumme gar nicht gerechnet wurde (1931, S. 212f.). ] , denn: „Dietz selbst war besitzlos" (Kautsky 1960, S. 517). Auf ähnliche Weise konnte auch die 1878 abgetrennte kleinere Druckerei dem Zugriff der Polizei entzogen werden. Reinhard Bérard, der diese Einrichtung bisher geführt hatte, bekam Prokura für das ‘Dietzsche’ Geschäft und übernahm die Geschäftsführung in der ehemaligen Genossenschaftsdruckerei. Heinrich Dietz mußte nun endgültig das Hamburger Stadtgebiet verlassen. Er meldete sich am 18. November 1880 (StAH S 149/63, Bl. 167ff.) nach Harburg [Das südlich der Elbe gelegene Harburg gehörte damals zu Hannover und damit nicht zum nördlichen Belagerungsgebiet. Bei Osterroth/Schuster: „Dietz war 1881 aus Hamburg ausgewiesen worden" (1963, S. 62). ] ab.

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3.2.3. Verlagerung des Parteizentrums nach Harburg

„Ich selbst ging nach Harburg, um dort im Verein mit den Herren Auer und Hillmann [...] die Redaktion der „Gerichtszeitung" weiter zu leiten" [Auch Laufenberg schrieb, von Harburg aus sollte Heinrich Dietz „mit Hillmann die Redaktion [...] besorgen" (S. 213). Die hier zitierten Angaben stammen zwar von Heinrich Dietz persönlich, doch seine Aufgabe in der Redaktion dürfte nur so weit gegangen sein, wie alle an der Erstellung der Zeitung Beteiligten zusammenarbeiteten.] (Dietz in: Auer 1913, S. 243; ).

In Harburg ließen sich „mehr als sechzig Ausgewiesene aus Hamburg und Altona" nieder, „was die dortige Polizei in Ängste setzte wegen der zu gewärtigenden Ausdehnung des kleinen Belagerungszustandes" (Laufenberg 1931, S. 222). Heinrich Dietz ließ seine Familie am 17. November 1880 in Hamburg zurück und mietete sich bei der Schmiedemeister-Witwe Margarethe Bergmann in der Harburger Schloßstraße Nr. 6 ein (StAH, Meldewesen, A 42/3; Adreßbuch Ha.). Ignatz Auer fuhr zunächst nach Nürnberg, kam aber schon Anfang Dezember nach Harburg zurück, man brauchte ihn in der Redaktion. Zur Gruppe der Hamburger Ausgewiesenen in Harburg gehörten außerdem noch Carl Hillmann und Heinrich Braasch, kurze Zeit darauf kamen auch Georg Wilhelm Hartmann, die Brüder Kapell [Sie wohnten bei Braasch und blieben bis zum 21. November 1881 in Harburg.] und Heinrich Garve, der zunächst bei Heinrich Dietz in der Schloßstraße wohnte. Wilhelm Blos schrieb für die „Gerichts-Zeitung" weiter, zunächst aus Mainz, später aus Bremen (Laufenberg 1931, S. 221f.).

Die örtliche Nähe ermöglichte den ausgewiesenen Sozialdemokraten einen nahezu ungestörten Kontakt mit den Hamburger Parteigenossen: „Von Harburg aus wird die größte Agitation betrieben, indem hauptsächlich sonntags die Führer von hier dorthinfahren, woselbst sie ihre Zusammenkünfte mit Auer, Kapells, Braasch und Garve abhalten" (StAH Senat, Cl. VII, Bd. 4, Bericht vom 26. Jan. 1881). Die Verhältnisse in Harburg wurden im übrigen als voller „Galgenhumor" geschildert (Laufenberg 1931, S. 222). Im strengen Winter 1880/1881 sollten einige der Ausgewiesenen – dabei „auch Auer, Dietz und Garve" – mehrmals über die zugefrorene Elbe zu Besuchen in die Hansestadt gelaufen sein, um schließlich „in Rothenburgsort Butterbrot zu essen und einige Glas Grog zu trinken. Das erste Mal wurden sie für unschuldige Fußgänger gehalten, das zweite Mal steckten die Gäste und Wirtsleute aber verdächtig die Köpfe zusammen, so daß die Vermutung auftauchen könnte, die Fußgänger seien erkannt worden. Es ist aber nichts passiert und nachts um 12 Uhr waren sie wohlbehalten wieder in Harburg" (Laufenberg 1931, S. 222).

Die Wohnung von Heinrich Garve (Buxtehuder Straße 9) wurde ab Januar 1881 zum Zentrum der Harburger Sozialdemokraten [Zur Hamburger Parteiorganisation in der Illegalität vgl. z.B. Hellfaier 1958, S. 115ff.] . Auch Ignatz Auer und Heinrich Dietz wohnten schließlich dort (Adreßbuch Ha. 1881; StAH Meldewesen A 42/3). Das Manuskript für die „Gerichts-Zeitung" wurde jeden Tag von einem Boten in die Druckerei gebracht und die Hamburger Organisation von Harburg aus geleitet (StAH S 1309, Bericht vom 2. Juni 1881). Die Harburger Polizei kümmerte sich wenig um die Ausgewiesenen; sie sah überhaupt keinen Grund zum Eingreifen, man „konnte es gar nicht begreifen, wie solche netten, ruhigen Leute ausgewiesen werden könnten", denn es gab ja keinerlei Anlaß zur Beschwerde: „es wären weder Trunkenbolde noch Skandalmacher darunter" (StAH Senat, Cl. VII, Bd. 4, Berichte vom 20. April und 28. Mai 1881).

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3.2.4. Das Verbot der „Gerichts-Zeitung"

„Der Zollanschluß, der Zollanschluß,
der macht Hammonia viel Verdruß!"
(W.J., 13. 5. 1880)

In der Nr. 69 der „Gerichts-Zeitung" vom 23. März 1881 war ein kritischer Artikel über die Ermordung des russischen Zaren Alexander II. und die nun zu erwartende Verfolgungs- und Verbannungswelle erschienen. Diesen Artikel nahm die Politische Polizei zum Vorwand für ein endgültiges Verbot [Vgl. hierzu ausführlich Laufenberg 1931, S. 228ff.; Stern 1956, S. 135ff.; Jensen 1966, S. 107ff.] – ohne weitere Begründung (Laufenberg 1931, S. 228; Jensen S. 107f.; Stern 1956, S. 135). Der eigentliche Grund lag jedoch in der eindeutigen Haltung der „Gerichts-Zeitung" gegen den Hamburger Zollanschluß, der ihr große Zustimmung auch bei bürgerlichen Lesern einbrachte [Viele „unsere[r] Artikel gegen den Zollanschluß [...] rührten von einem höheren Beamten, nämlich von Dr. Voigt, her, dem Landherrn der Geestlande, einem sehr sachkundigen Mann" (Blos 1914, S. 255, Hervorhebung im Orig.). Auch Franz Mehring sah den Grund des Verbots in der Opposition des Blattes gegen den Zollanschluß (Mehring 1909, S. 187).] .

Am nächsten Tag ersuchte Heinrich Dietz per Telegramm aus Harburg den Polizeisenator dringend um eine persönliche Unterredung, zu diesem Zweck benötigte er eine Einreisegenehmigung in das Belagerungsgebiet. Er durfte vom 25. März bis zum 3. April nach Hamburg kommen. Die Beschwerde, die er gegen das Verbot der „Gerichts-Zeitung" vom 28. März vorbrachte, wurde der Reichskommission am 31. März übersandt, die ihr Urteil – gerichtet „An den Verleger [...] Herrn J.H.W. Dietz, Wohlgeboren zu Hamburg" – Ende April fällte: abschlägig beschieden (StAH S 10, Bl. 160 und 165). „Für die Richtigkeit der dem jetzt fraglichen Artikel hier gegebenen Auslegung spricht die notorisch den Interessen der sozialdemokratischen Partei dienstbare Tendenz der „Gerichts-Zeitung". Sie wird aber auch noch dadurch bestätigt, daß bei der polizeilichen Durchsuchung der Geschäftsräume der Expedition der „Gerichts-Zeitung" am 23. März d.J. größere Bestände sozialistischer verbotener Druckschriften vorgefunden worden sind" (zit. in: Stern 1956, S. 136).

Heinrich Dietz bat die Hamburger Polizeibehörde um Aufhebung seiner Ausweisung. Er als Geschäftsmann, dessen Druckereigeschäft durch das Verbot der „Gerichts-Zeitung" schwer geschädigt worden war, hätte nun die Pflicht, für seine Angestellten zu sorgen, dazu müßte er persönlich in Hamburg sein, um verhandeln zu können. Außerdem könnte es für sein Aufenthaltsverbot doch gar keinen Grund mehr geben, wenn die sozialdemokratische Zeitschrift nicht mehr existierte, argumentierte Heinrich Dietz (StAH S 149/63, 1. 4. 1880). Senator Kunhardt genehmigte ihm einen Aufenthalt bis zum 15. April 1881, die Aufhebung der Ausweisung lehnte er dagegen kommentarlos ab (StAH S 149/63, Bl. 176).

Die danach von den Hamburger Sozialdemokraten als weiterer Versuch einer ‘farblosen’ Zeitung herausgegebenen „Allgemeinen Nachrichten für Hamburg, Altona und Umgebung" gelangten noch nicht ein einziges Mal an ihre Leser: Die Probenummer vom 30. März 1881 wurde sofort wegen Verstoßes gegen das Sozialistengesetz „frischweg von der Maschine konfisziert" [Eines der beschlagnahmten Exemplare befindet sich deswegen noch im StAH.] . Die „Allgemeinen Nachrichten" sollten eigentlich dreimal in der Woche unter der Redaktion und im Verlag von Theodor Kramer [Kramer war ab 1876 Schriftführer und ab Oktober 1880 Vice-Präses des Buchdruckervereins in Hamburg-Altona (Corr. 14[1876]Nr. 107 vom 15.9 und 18[1880]Nr. 127 vom 31. Okt.). Er verließ Hamburg, als er mit der Herausgabe der neuen Zeitung scheiterte (StAH V 2, Bericht vom 30. 5.1881).] erscheinen und politische und wirtschaftliche Nachrichten, einen umfangreichen Tagesbericht und ein reichhaltiges Feuilleton enthalten (Laufenberg 1931, S. 233). Polizeisenator Kunhardt gab dem bei ihm zur Beschwerde über die Maßnahme erschienenen Heinrich Dietz wütend verstehen, daß er die andauernden Schwierigkeiten mit der sozialdemokratischen Druckerei endlich satt hätte:

„Ich lasse nichts mehr aus Ihrer Druckerei heraus, und wenn es Bibelsprüche wären, ich würde sie verbieten!" (Echo 1955 [Belegt ist dieser sehr oft kolportierte Ausruf nur durch mündliche Berichte von Heinrich Dietz. Ob er tatsächlich so gefallen ist, muß bezweifelt werden. Auch Jensen ist nicht von der Authentizität dieser Worte überzeugt (1966, S. 110)] )

Die Sozialdemokraten gewannen in dieser Situation Johannes Wedde als Herausgeber einen weiteren Blattes. Wedde galt zwar als Sozialdemokrat, er war Lehrer und Journalist, hatte in den vergangenen Jahren überwiegend Theaterkritiken für die „Hamburger Nachrichten" geschrieben und verfügte außerdem über gute Verbindungen zum Senat. Ab Mitte April 1881 gab er die „Bürgerzeitung" heraus [Die „Bürgerzeitung" „stand unter der Leitung des genialen Johannes Wedde, eines freiheitlichen Mannes, der eine ebenso schöne wie scharfe Feder zu führen wußte" (Behrend, 1912). Die erste Nummer erschien am 17. April 1881.] , die in der Stadt sehr schnell als Nachfolgerin der „Gerichts-Zeitung" [Die Hamburger Politischen Polizei war darauf aufmerksam gemacht worden, daß Wedde sich regelmäßig mit der Leitung der Genossenschaftsbuchdruckerei in Harburg träfe und wohl auch monatlich Gelder an die Partei abführe (StAH, zit. bei Jensen 1966, S. 126).] angesehen wurde: „Gegenwärtig vertritt die „Hamburger Bürgerzeitung" die Stelle eines Parteiorgans, findet aber im Allgemeinen wenig Beifall, weil sie angeblich die Arbeiter in das fortschrittliche Lager hinüber zu ziehen bemüht ist" [Laufenberg stellte die Gründung der „Bürgerzeitung" so dar, als hätte es sich tatsächlich um eine seit ihren Anfängen politisch von der sozialdemokratischen Parteilinie bestimmte Zeitschrift gehandelt. Jensen (1966, S. 121) bezweifelte das wohl zu recht und kritisierte die betont neutrale Haltung der „Bürgerzeitung" zu den Wahlen sowohl 1881 als auch 1883 (zur Stichwahl wurde sogar gegen August Bebel Stellung genommen). Einen zunehmenden sozialdemokratischen Einfluß sah Jensen erst ab 1884, etwa seit dem Eintritt von Wilhelm Metzger in die Redaktion. ] (von Madai im Jan. 1882, in: Höhn 1964, S. 103). Zu einem Verbot reichten aber die Vermutungen der Hamburger Behörden nicht aus; die „Bürgerzeitung" konnte sechs Jahre überstehen, obwohl immer wieder Vorstöße unternommen wurden, sie zu verfolgen (Jensen 1966, S. 130).

Gedruckt wurde die Zeitung nicht mehr in der Parteidruckerei. Seit dem letzten Verbot des Polizeisenators mußten sich die Sozialdemokraten nach einem anderen Drucker umsehen. Sie wandten sich an Carl Reese, ein früheres Mitglied des Bundes der Kommunisten (Laufenberg 1931, S. 250). Heinrich Dietz hatte nun die Aufgabe, ‘sein’ Geschäft drastisch zu verkleinern. Wegen des Mangels an Aufträgen mußten die Angestellten der ehemaligen Genossenschaftsdruckerei entlassen werden. Nur Reinhard Bérard wiederum hielt mit vier Beschäftigten des technischen Personals einen stark verkleinerten Druckerei-Betrieb aufrecht (Laufenberg 1931, S. 233f.; StAH S 149/63, Bl. 181f.). „An Druckern, Setzern, Kolporteuren, sowie an Redaktions- und Expeditionspersonal waren ca. 85 Personen nebst ihren Familien brotlos geworden."

Die Spitzel hatten ohnehin verschiedene Vermutungen nach Berlin gemeldet. Einmal sollte die Genossenschaftsdruckerei nach Lübeck verlegt und die dort erscheinende „Nor-dische Zeitung" (oder aber das ‘Sonntagsblatt’ StAH Senat, Cl. VII, Bd. 4, Bl. 136) als Ersatz für die „Gerichts-Zeitung" nach Hamburg expediert werden (StAH Senat, Cl. VII, Bd. 4, Berichte aus Leipzig vom 19. 10. und 9. 11. 1880). Angeblich war geplant, schon zum 28. Oktober 1880 die Gründung eines ‘sozialistischen Organs’ in Lübeck unter der Redaktion „eines Herrn Köhler aus Breslau" [Wilhelm Heinrich Köhler war im März 1881 als Buchhalter in der Genossenschafts-Buchdruckerei angestellt (StAH S 10, Bericht vom 23. 3. 1881) und blieb auch nach der Verkleinerung des Geschäfts dort.] vorzunehmen: „Das Ganze als Vorbeugung für das Verbot der Gerichtszeitung" (StAH Senat, Cl. VII, Bd. 4, Bl. 52). Heinrich Oldenburg, bisher Redakteur am HAV und der „Gerichts-Zeitung", war im Dezember 1880 nach seiner Ausweisung aus Hamburg nach Lübeck übergesiedelt und gründete dort Anfang April 1881 eine eigene Firma [AHL Pol.amt Nr. 502, Bericht vom 2. Jan. 1881. Oldenburg fertigte zunächst Merkantil- und Akzidenzdrucke an, gab später den Lübecker „Sonntagsboten" und dann die „Neue Zeitung" heraus, ein „freisinniges Organ für Lübeck und Umgebung" (Buchdrucker-Verein 1924, S. 29; Rey/Schmidt-Römhild 1924, S. 44). Er wäre also in der Lage gewesen, eine Zeitung als Ersatz für die „Gerichts-Zeitung" herzustellen. Dieser Plan – falls er tatsächlich existiert hat – wurde aber von den Sozialdemokraten nicht verwirklicht.] , als die „Gerichts-Zeitung" verboten wurde.

Der nominelle Besitzer der Hamburger Genossenschaftsbuchdruckerei, die weiterhin seinen Firmennamen führte, kehrte gar nicht mehr nach Harburg zurück. Heinrich Dietz meldete sich am 1. Mai 1881 von dort ab [„Nebenbei verhängte man bald darauf über das Amt Harburg den kleinen Belagerungszustand, wodurch auch dieser Zufluchtsort uns genommen worden war" (Dietz, in: Auer 1913, S. 243, Hervorhebung im Orig.). Heinrich Dietz, der gar nicht nach Harburg zurückkehrte (StAH S 149/63, Bl. 177), nannte später seine Abreise im April 1881 gern in einem Atemzug mit dem auch dort verhängten ‘kleinen Belagerungszustand’. Der stand damit aber nicht im Zusammenhang, das nördliche Belagerungsgebiet wurde erst am 25. Oktober 1881 auf Harburg ausgedehnt. Heinrich Garve und Ignatz Auer verließen die Wohnung in der Harburger Buxtehuder Straße 9 erst im Juni (Auer) bzw. im November (Garve).] (StAH Meldewesen A 42/3, Bd. 2), denn die Partei konnte ihn in Norddeutschland nicht mehr beschäftigen.


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