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Systemkrise in der Sowjetunion


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Die Sowjetunion befindet sich zur Zeit in einer vierfachen Krise. Es handelt sich um eine Krise der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft und des föderativen Systems. Die Schärfe der gleichzeitig auftretenden Krisen- und Zerfallserscheinungen macht die Zukunft der Sowjetunion im Prinzip unberechenbar. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, die die Prognose erlauben, daß das bisherige Sowjetsystem letztendlich in eine formal parlamentarisch bürokratische Diktatur münden wird.

Die politische Systemkrise zeigt sich vor allem im Zerfall der bisherigen Ordnungsmacht der KPdSU, in dem (mißlungenen) Versuch, die neue Präsidialmacht auszubauen, in der Bewahrung des monströsen Staats- und Verwaltungsapparates, dem Machtkampf zwischen alter und neuer bürokratischer Elite (Gorbatschow – Jelzin) und der Schwäche der demokratischen Opposition.

Die Krise der Wirtschaft: Die Talfahrt scheint unaufhaltsam. Ein halbes Dutzend Wirtschaftsprogramme unter Gorbatschow trugen bisher nicht zur Besserung der Lage bei. Es handelt sich nicht um eine zyklische Wirtschaftskrise, sondern um eine Krise des Systems, das radikal geändert werden müßte. Mit der Einführung der Marktwirtschaft in der Sowjetunion ist jedoch vorerst nicht zu rechnen. Das Privateigentum an Grund und Boden bleibt weiterhin tabu. Die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Zentrum und Republiken, steigendes Budgetdefizit, wachsende Auslandsverschuldung und Inflation beschleunigen den wirtschaftlichen Zerfall.

Die Krise der Föderation resultiert vor allem aus der Tatsache, daß sechs der 15 Republiken dem neuen Unionsvertrag nicht beitreten wollen. Hinzu kommt, daß das Referendum über den Unionsvertrag, dessen jüngster Entwurf sehr widersprüchlich ist, vom Moskauer Zentrum für seine Zwecke mißbraucht wurde. Zur Verschärfung der Krise trägt auch bei, daß Moskau je nach Zweckmäßigkeit gegenüber den Republiken einmal das Prinzip des Rechts auf Selbstbestimmung ein anderes Mal das Prinzip der Integrität des Staatsterritoriums anwendet.

Die Krise der Sowjetgesellschaft resultiert aus dem Zerfall des föderativen und wirtschaftlichen Systems sowie der Zaghaftigkeit und den Fehlern der Perestrojka-Politik Gorbatschows. Die Gesellschaft läßt sich nicht modernisieren auf Befehl von oben. In der Gesellschaft dominieren populistische, konservative und nationalistische Strömun-

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gen. Es verbreitet sich der Mythos der Russophobie mit antisemitistischer und antiislamischer Ausrichtung. Die Streik- und Arbeiterkomitees sind die einzige gesellschaftliche Kraft, auf die sich eine Politik der Systemänderung stützen könnte.

Die westliche Welt hält hartnäckig an einer von Präsident Gorbatschow geprägten Sowjetunion fest. Seine Person und Rolle sind bekannt und berechenbar. Die sich wandelnde Sowjetunion bleibt dagegen ein Rätsel. Zwar gelang es Gorbatschow, die höchste Leiterstufe der Nomenklatura zu erklimmen, trotzdem kann er nicht völlig unabhängig von der Nomenklatura handeln. Zu Beginn seiner Amtszeit standen die Massen hinter ihm. Heute könnte er eine direkte Präsidentschaftswahl nicht mehr gewinnen. Der neue Hoffnungsträger des Volkes heißt Boris Jelzin. Seine Legitimität ist stärker begründet. Jelzin wurde vom Volk zum russischen Präsidenten gewählt. Gorbatschow kann sich nur auf ein nicht frei gewähltes ihm ergebenes Unionsparlament (Oberster Sowjet) berufen.

Niemand weiß, wie die Sowjetunion nach Gorbatschow aussehen wird. Festzustehen scheint jedoch, daß eine Rückkehr zum stalinistischen Herrschaftssystem nicht mehr möglich ist. Ebenso unrealistisch ist die Vorstellung, daß die Sowjetunion die westliche Demokratie und Marktwirtschaft einfach übernehmen kann. Die politischen Entscheidungsträger brüten deshalb bereits über der Möglichkeit eines dritten Weges.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001

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