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Der Karabach-Konflikt : Moskaus Hand in Transkaukasien / Henrik Bischof. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1995. - 36 S. = 110 Kb, Text . - (Studie zur Außenpolitik ; 67). - ISBN 3-86077-369-0
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


  1. Die Entwicklung in Armenien
  2. Die Entwicklung in Aserbaidschan
  3. Krisenmanagement Berg-Karabach

Abstract

The Study depicts the domestic development in Armenia and Azerfaijan between 1991 and 1994 as well as the influence of Russia on the balance of power within and between the two countries. A special section is dedicated to the "treaty of the century" on oil development reached between Azerbaijan and western consortiums. The final section addresses the Karabakh conflict, the way in which Moscow has used the conflict as well as the great power rivalry (United States - Russia) and the regional powers (Iran and Turkey) in Transcaucasia. The paper also examines the issue of an OSCE peacekeeping mission in the region.

Am Anfang schien der Karabach-Konflikt eine "innere Angelegenheit" Aserbaidschans zu sein, auf dessen Territorium Berg-Karabach liegt. Doch dann weitete sich der Konflikt zu einem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan aus. Danach traten die südlichen Nachbarstaaten Türkei und Iran auf den Plan, um ihre eigenen - konkurrierenden - Interessen im Transkaukasus zu sichern. Und als nächstes tauchten die westlichen Großmächte, USA und Großbritannien, auf, um ihre Einflußmöglichkeiten in der Region wahrzunehmen. Schließlich schalteten sich auch noch die internationalen Organisationen, vor allem die KSZE/OSZE, aber am Rande auch die UNO, "friedensstiftend" in den Konflikt ein. Inzwischen scheint die Lösung des Karabach-Konfliktes in weite Ferne gerückt zu sein - nicht wegen der Kompromißlosigkeit der unmittelbar beteiligten Konfliktparteien (Armenien, Aserbaidschan), sondern vielmehr wegen des Eigeninteresses von Drittstaaten und Organisationen, es sei denn, Rußland gelingt es, mit Hilfe des Karabach-Konflikts die vollständige Kontrolle über den Transkaukasus zurückzugewinnen.

Moskaus Hand war von Anbeginn bis heute sowohl im Karabach-Konflikt als auch bei der Destabilisierung der Regime in Armenien und Aserbaidschan immer im Spiel. Durch die Schürung von Konflikten erreichte Moskau eine ständige militärische Präsenz im Transkaukasus sowie die - aus der Not geborene - GUS-Mitgliedschaft der Kaukasus-Republiken (Armenien, Aserbaidschan, Georgien), womit die russische Hegemonie gesichert werden soll. In der vorliegenden Studie sollen sowohl die Politik Rußlands im Karabach-Konflikt und im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan als auch westliche Fehlleistungen dargestellt werden. Zum besseren Verständnis wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung in Aserbaidschan und Armenien vorangestellt.

Inhaltsverzeichnis

I. Die Entwicklung in Armenien

Die Armenier sind ein indogermanisches Volk, das (im 6. Jahrh. vor Chr.) in die Region einwanderte und sich mit der Urbevölkerung (Churriter) vermischte. Sie gehören zu den ältesten Völkern des Kaukasus-Gebiets und verfügen über ein reiches nationales Kulturerbe (Baukunst und Literatur) sowie eine eigene Schrift (mit 38 Buchstaben), die auf byzantinische Wurzeln zurückgeht. Die Armenier sind Anhänger des monophysitischen Christentums. Ihre um 300 nach Chr. gegründete Gregorianische Kirche wurde Staatskirche (Oberhaupt Katholikos). Das historische Armenien gehört heute politisch größtenteils zur Türkei.

1. Vorgeschichte

Die Ursprünge des armenischen Staates gehen auf den Sklavenhalterstaat Urartu (9. Jahrh. vor Chr.) zurück. Als selbständiger Staat wurde Armenien erstmals um 500 vor Chr. im Großreich der Achämeniden und im Zusammenhang mit der Eroberung durch die Perser erwähnt. Nach dem Zerfall des Seleukidenreiches entstanden zwei unabhängige Teilstaaten Armeniens, das östliche Großarmenien und das westliche Kleinarmenien, die sich zu einer Großmacht der Antike entwickelten.

Im 3. Jahrh. nach Chr. geriet Großarmenien unter die Herrschaft der persischen Sassaniden, um später von Rom und Persien in Einflußzonen aufgeteilt zu werden. Im 7. Jahrh. fielen die Byzantiner und Araber in das Land ein. Erst im 9. Jahrh. gelang es Aschot I., erneut ein selbständiges armenisches Königreich der Bagratiden zu schaffen, das im 11. Jahrh. von den Seldschuken und im 13. Jahrh. von den Mongolen verwüstet wurde. Im 15. und 16. Jahrh. teilten die Perser und Türken, im 19. Jahrh. die Russen (Jerewan) und Türken (Kars, Ardahan, Batum) Großarmenien untereinander auf.

Kleinarmenien blieb zunächst ein römischer Vasallenstaat. Erst 1080-1375 entstand hier unter dem Bagratiden Ruben der blühende Feudalstaat Kilikien, der nacheinander von den Ägyptern, den Turkmenen, den Persern und schließlich von den Türken erobert wurde. Die Türken brachen den Widerstand der Armenier durch blutige Pogrome 1895/96 und Völkermord 1914/15, dem rund 1,5 Mill. Armenier zum Opfer fielen. Der Friedensvertrag von Sèvres 1920 sah zwar ein unabhängiges Großarmenien vor, der größte Teil Armeniens blieb jedoch bis heute unter türkischer Herrschaft, zumal Moskau im sowjetisch-türkischen Vertrag vom 16. März 1921 Kars, Ardahan und Artwin endgültig der Türkei überließ.

Auf dem vom russischen Zarenreich beherrschten Gebiet des östlichen Armenien entstand nach 1917 ein unabhängiger armenischer Staat unter Führung der sozialrevolutionären und nationalistischen Parteien der Daschnaken und Mussawatisten sowie der Menschewiken. 1920 wurde Armenien von der Roten Armee besetzt, und am 29. November 1920 wurde die Armenische SSR ausgerufen. 1921 mußte Sowjetarmenien weitere Gebiete an Aserbaidschan (Karabach und Nachitschewan) und Georgien (Batum, Lori und Achkalak) abtreten. Nach einem mißglückten Aufstand der Daschnaken 1921 wurde Armenien 1922 mit Georgien und Aserbaidschan zur Transkaukasischen SFSR zwangsvereinigt. Am 30. Dezember 1922 traten die drei Gebiete gemeinsam der UdSSR bei. 1936 wurde Armenien eine Unionsrepublik der UdSSR.

1989 hatte Armenien rund 3,3 Mill. Einwohner, darunter Armenier (93,3%), Aseri (2,6%), Kurden (1,7%), Russen (1,6%) sowie Georgier, Griechen, Juden, Ukrainer, Deutsche, Jesidi u.a. (0,8%). 1989 lebten insgesamt 1,3 Mill. Armenier auf dem Gebiet der UdSSR außerhalb Armeniens, die meisten von ihnen in Aserbaidschan und Georgien. Weitere 4 Mill. Armenier leben in der Diaspora (vor allem im Nahen Osten, den USA, Australien und Westeuropa).

Das tragische Schicksal des armenischen Volkes - zwischen Moskau und Ankara zerrissen, die Mehrheit in der Diaspora lebend, während sich ihre Kirche gegenüber Rom und Byzanz behauptete - führte dazu, daß die armenische nationale Frage trotz Russifizierung und Sowjetisierung auch unter der kommunistischen Herrschaft virulent blieb. Die Besonderheit der kommunistischen Nomenklatura Armeniens lag darin, daß viele ihrer Mitglieder - als Nationalkommunisten der ersten Stunde im Sowjetblock - sich sowohl mit den in der Stalinzeit liquidierten armenischen Revolutionären als auch mit den Daschnaken identifizieren konnten. Die letzteren hatten im Rahmen der 1890 gegründeten Armenischen Revolutionären Föderation (Hay Hepapochakan Daschnaksutjun) in Rußland und der Türkei für kulturelle Autonomie und Demokratisierung gekämpft. Im Mai 1918 hatten sie die Unabhängige Armenische Republik ausgerufen und bis 1920-22 einen Zweifrontenkampf gegen Moskau und die Türken geführt. In der Diaspora blieben sie weiter aktiv.

Moskau benutzte seinerseits die Armenien-Frage je nach Interessenlage zur Gestaltung der sowjetisch-türkischen Beziehungen. 1921 verzichtete es aus pragmatischen Gründen zugunsten der Türkei auf armenische Gebiete. 1945-46 verlangte die UdSSR (Noten von Molotow und Wyschinskij) die Rückgabe dieser Gebiete (an Georgien), wodurch die Türkei 1951 in die NATO getrieben wurde. Auch in der Breschnew-Ära ließ Moskau aus außenpolitischen Erwägungen armenische Demonstrationen (seit 1965) zu, um die Armenien-Frage gegenüber der Türkei jederzeit aktivieren zu können. Unbewiesen blieb allerdings, ob hinter den seit 1975 verübten Anschlägen der armenischen Geheimorganisation "Asala" gegen türkische Beamte das sowjetische KGB stand.

Das Dilemma der Armenier besteht bis heute darin, einerseits ihre nationale Identität, Sprache und Kultur bewahrt zu haben, andererseits jedoch gegenüber den türkischen, turkstämmigen und islamischen Nachbarn auf die Schutzmacht Rußland angewiesen zu sein. Die vom KGB zerschlagene Dissidenten-Bewegungen (die illegale "Nationale Unabhängige Partei" der 60er, die "Helsinki-Gruppe" und die "Vereinigung für nationale Selbstbestimmung" der 70er Jahre) forderten die Wiederherstellung eines armenischen Nationalstaates sowie die Wiedervereinigung mit Nachitschewan und Berg-Karabach.

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2. Innenpolitische Kräfteverhältnisse

"Perestrojka" und "Glasnost" haben die Probleme aufgedeckt, die sich aus den Emotionen der Nationen und Nationalitäten im Vielvölkerstaat UdSSR ergaben. Bereits seit 1987/88 hatte sich die Sowjetführung mit dem Wiedererwachen des armenischen Nationalismus auseinanderzusetzen. In der Gorbatschow-Ära (1985-1991) entstanden auch in Armenien zahlreiche unabhängige politische Parteien, Organisationen und Bewegungen, darunter der Armenische Jugendbund, der Armenische Studentenbund, der Freie Gewerkschaftsbund (gegründet im Juni 1990), der Armenische Frauenbund (gegründet Juni 1989), die Organisation "Chronik für die Armenische Historische Aufklärung" (gegründet Juli 1989), die Gesellschaft "Maschtost" für die Rettung der armenischen Sprache, die Organisation der Umweltschützer (gegründet im Mai 1989), die Organisation "Wachtturm" für den Schutz historischer Gebäude (gegründet Februar 1989), die Gruppe "Nareg" zur Förderung der Beziehungen zu den Auslandsarmeniern, die Vereinigung "Barmherzigkeit", die Vereinigung für die "Verteidigung der Armenischen Sache" (gegründet 1988), der Bund für die verfassungsmäßigen Rechte, die im August 1990 neugegründete Armenische Revolutionäre Föderation, die Sozialdemokratische Partei "Hnchakian" (gegründet 1887; Neugründung Oktober 1990), die Liberal-Demokratische Partei (gegründet 1921; Neugründung Juni 1991), die aus der Dissidenten-Bewegung der 60er Jahre hervorgegangene Republikanische Partei (gegründet 1990) und die Armenische National-Demokratische Allianz (gegründet im Juli 1991). Zur größten oppositionellen Organisation entwickelte sich die aus der Armenischen Volksfront hervorgegangene Armenische Nationale Bewegung (Hayots Hamasgain Scharshum), die am 4. November 1989 gegründet wurde. Auf diese rund 40 Gruppen umfassende Bewegung unter Vorsitz von Lewon Ter-Petrosjan stützte sich das im Mai 1988 gegründete elfköpfige Karabach-Komitee.

Die Demonstrationen, die im Herbst 1987 in Jerewan als Protestkundgebungen gegen die geplante Eröffnung eines Chemie-Werkes begannen, entfalteten sich unter dem Einfluß der Pogrome gegen Armenier im Februar 1988 in Aserbaidschan und der negativen Reaktion Moskaus in der Karabach-Frage zu einer Massenbewegung. Nach den scharfen Angriffen Gorbatschows gegen die armenische Parteiführung auf dem Juni-Plenum des ZK der KPdSU 1987 kam es zur Verflechtung der Interessen der armenischen Nationalbewegung und der kommunistischen Partei- und Verwaltungsbürokratie. Da die armenische nationale Nomenklatura um ihre Macht und Privilegien bangte, war sie selbst an einer Aktivierung der nationalen Frage interessiert. Zwar wurde der Erste Sekretär der Armenischen KP, Demirtschjan, im Mai 1988 durch Suren Arutjunjan abgelöst, doch beteiligten sich die armenischen Kommunisten weiter an nationalistischen Demonstrationen und Kundgebungen. Die Mitglieder des Karabach-Komitees wurden im Dezember 1988 und im Januar 1989 verhaftet, aber im Juni 1989 wieder freigelassen. Zwei von ihnen wurden in den Obersten Sowjet Armeniens aufgenommen. Voraus ging ein Beschluß des Parlaments, den 28. Mai als Tag der Wiederherstellung des armenischen Staatswesens zu feiern und die Armenische Nationale Bewegung formell anzuerkennen.

Die armenischen Parlamentswahlen im Mai 1990 wurden mit überwältigender Mehrheit von der demokratischen Opposition gewonnen. Neuer Vorsitzender des Obersten Sowjets Armeniens wurde der Führer der Armenischen Nationalen Bewegung, Lewon Ter-Petrosjan, neuer Ministerpräsident Wasgen Manukjan (Führungsmitglied der Armenischen Nationalen Bewegung und Koordinator des Karabach-Komitees). Am 23. August 1990 verabschiedete das neue Parlament die Deklaration über die Unabhängigkeit Armeniens. Parallel dazu entstanden in Armenien drei inoffizielle paramilitärische Gruppen zur Verteidigung der armenischen Unabhängigkeit, darunter die radikale Armenische Nationale Armee (ANA), die sich aus den Beständen der in Armenien stationierten sowjetischen Truppen mit Waffen versorgte.

Auf den Wahlsieg der demokratischen nationalen Opposition reagierte Moskau mit Druck und Repression. In der Karabach-Frage unterstützte es einseitig den Standpunkt Aserbaidschans, wo zu diesem Zeitpunkt noch die Kommunisten unter der Führung von Parteichef Mutalibow an der Macht waren. Bereits im Mai 1990 forderten die Zusammenstöße zwischen armenischen Nationalisten und Truppen des sowjetischen Innenministeriums (OMON) zahlreiche Todesopfer. Der neue Parteichef Armeniens, Wladimir Mowsisjan (Mitglied des Politbüros der KPdSU), erklärte aus diesem Anlaß den 29. Mai zum "Nationalen Trauertag". Mit Dekret vom 25. Juli 1990 stellte Präsident Gorbatschow Armenien das Ultimatum, die paramilitärischen Gruppen bis zum 10. August zu entwaffnen und aufzulösen. Unter Berufung auf das natürliche Recht des armenischen Volkes zur Selbstverteidigung wies das armenische Parlament den Erlaß Gorbatschows zurück. Angesichts der prekären geographischen und politischen Situation Armeniens entschied sich Ter-Petrosjan mit diplomatischem Geschick für eine interne armenische Lösung: Die Milizen der Armenischen Nationalen Bewegung (AOD) wurden offiziell der Regierung und dem Parlament unterstellt, während sich die radikale Armenische Nationale Armee (ANA) Ende August 1990 selbst auflöste. Der vom armenischen Parlament am 29. August verhängte Ausnahmezustand wurde erst am 15. August 1991 aufgehoben.

Armenien befand sich 1990/91 - ähnlich wie Tschetschenien 1994/95 - in völliger Isolation. Das Land litt unter der totalen Wirtschaftsblockade Moskaus, Aserbaidschans und Georgiens. Der Westen machte sich die Position der kommunistischen Führung unter Gorbatschow zu eigen, die die territoriale Integrität der UdSSR verteidigte. Man weigerte sich im Westen, Armeniens Unabhängigkeit anzuerkennen und Kontakte zur antikommunistischen Regierung Armeniens aufzunehmen. Unter diesen Umständen verzichtete die armenische Führung um Ter-Petrosjan auf den "baltischen Weg" der Unabhängigkeit. Sie wollte zunächst die wirtschaftlichen Bedingungen für die Selbständigkeit schaffen. Dessenungeachtet war Armenien nicht bereit, am Unionsreferendum vom 17. März 1991 teilzunehmen und den neuen Föderationsvertrag Gorbatschows zu unterzeichnen. Vielmehr bezeichnete das armenische Parlament die Ergebnisse des Unionsreferendums als rechtsunwirksam für die Republik Armenien und beschloß, ein Republikreferendum zur Frage des Austritts aus der UdSSR durchzuführen.

An dem Referendum, das am 21. September 1991 stattfand, beteiligten sich 95% der Stimmberechtigten (rund 2 Mill.). 94,39% stimmten für "eine unabhängige und demokratische Republik Armenien außerhalb der UdSSR". Daraufhin erklärte das armenische Parlament am 23. September einstimmig die formelle Unabhängigkeit Armeniens.

Noch im Sommer 1991 beschloß das armenische Parlament, das Präsidialsystem einzuführen und setzte einen Termin für Präsidentschaftswahlen am 16. Oktober 1991 fest. An den Wahlen nahmen fünf der ursprünglich neun registrierten Kandidaten teil: Lewon Ter-Petrosjan (Armenische Nationale Bewegung), Paruir Airikjan (Vereinigung für Nationale Selbstbestimmung), Rafael Kasarjan (Karabach-Komitee), Aschot Nawasardjan (Republikanische Partei) und Sos Sarkisjan (Armenische Nationale Union). Ter-Petrosjan gewann die Wahlen mit 83,3% der abgegebenen Stimmen vor Paruir Airikjan (7,21%). Die Wahlbeteiligung lag bei 70,42%. Im Dezember 1991 wurde eine Allparteien-Regierung gebildet, der u.a. auch der frühere KP-Chef Wladimir Mowsisjan angehörte.

Das im März 1991 verabschiedete Gesetz über gesellschaftspolitische Organisationen war Grundlage für die Entstehung eines Mehrparteiensystems in Armenien. Im Mittelpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzung standen der Karabach-Konflikt und der Unabhängigkeitskurs. Die Armenische Nationale Bewegung unter Ter-Petrosjan, die in allen strittigen Fragen eine gemäßigte und ausgleichende Position vertrat, erlitt das gleiche Schicksal wie die nationalen und antikommunistischen Bewegungen in Litauen (Sajudis) und Polen (Solidarnosc). Sie brachen auseinander. Ein radikaler Flügel unter Führung von Ministerpräsident Wasgen Manukjan konstituierte sich im Juli 1991 zur Armenischen National-Demokratischen Allianz. Die Vereinigung für Nationale Selbstbestimmung des ehemaligen Dissidenten Paruir Airikjan (1988 aus der UdSSR ausgewiesen) forderte sofortige Unabhängigkeit, den bedingungslosen Austritt aus der UdSSR sowie die Schaffung einer armenischen Nationalgarde. Die Armenische Revolutionäre Föderation (Daschnaken), die mit zehn Abgeordneten im Parlament vertreten war, setzte auf eine stufenweise Unabhängigkeit. Sie verbündete sich mit der Republikanischen Partei und der Liberal-Demokratischen Partei zu einer radikal-nationalistischen Regierungsopposition, der Nationalen Union. Die Nationale Union forderte die Umwandlung der Präsidialherrschaft in ein parlamentarisches Regierungssystem. Das Vermögen der KP Armeniens wurde bereits im April 1991 verstaatlicht, die Partei nach dem Moskauer Putschversuch vom August 1991 aufgelöst. Der reformistische Flügel gründete im September 1991 die Demokratische Partei Armeniens unter Vorsitz von Aram Sarkisjan (mit sozialdemokratischem Programm). Die neu formierte und nationalkommunistisch ausgerichtete KP Armeniens blieb ohne Einfluß. Nur die Hälfte der 210 Abgeordneten im Parlament war in Parteien, Fraktionen und Gruppen organisiert. Die Regierungspartei Armenische Nationale Bewegung verfügte über 52 Abgeordnete.

Unter dem Eindruck der militärischen Erfolge Aserbaidschans in Karabach sowie der sich ständig verschlechternden Wirtschaftslage in Armenien kam es im Sommer 1992 zur ersten großen politischen Auseinandersetzung zwischen Präsident Ter-Petrosjan und der radikal-nationalistischen Opposition. Die Armenische Revolutionäre Föderation (Daschnaken) wurde zur populärsten Partei im Lande, während das Ansehen der regierenden Armenischen Nationalen Bewegung sank. Die Daschnaken forderten die Ausweitung der armenischen Hilfe für Karabach. Nachdem sich dem Oppositionsbündnis der "Nationalen Union" sieben Fraktionen und Gruppen angeschlossen hatten, stimmte das Parlament mehrheitlich für die Anerkennung der Unabhängigkeit von Karabach. Präsident Ter-Petrosjan warf den Daschnaken "Abenteurertum" und "Einmischung in ausländische Angelegenheiten" vor. Er verweigerte Hrair Maruchjan, dem Vorsitzenden des "Weltbüros der Daschnaken" (mit Sitz in Athen), der am 25. Kongreß der Daschnaken in Jerewan teilnehmen wollte, die Einreise und beschuldigte ihn der Kollaboration mit dem KGB, um Armenien zu destabilisieren.

Die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1993-94 standen im Zeichen der Verfassungsdebatte. Der von der Regierung im Juli 1993 vorgelegte Verfassungsentwurf sah ein Präsidialsystem vor. Sechs Oppositionsparteien (Armenische Revolutionäre Föderation, Republikanische Partei, Liberal-Demokratische Partei, Demokratische Partei, Demokratische Agrarpartei, Bund für die verfassungsmäßigen Rechte) legten im Januar 1994 einen alternativen Verfassungsentwurf vor, der ein parlamentarisches System favorisierte. Die Oppositionsparteien forderten die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung zur Verabschiedung ihres Verfassungsentwurfs. Die Armenische Kommunistische Partei bestand darauf, die neue Verfassung durch das bestehende Parlament zu verabschieden. Präsident Ter-Petrosjan schlug ein Referendum über den Regierungsentwurf vor. Im Falle der Annahme des Verfassungsentwurfs der Regierung sollten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden und das Präsidialsystem weiterbestehen. Im Falle der Ablehnung sollte eine weitere Volksbefragung über den Verfassungsentwurf der Opposition durchgeführt werden. Falls die oppositionelle Verfassung angenommen würde, wollte Präsident Ter-Petrosjan zurücktreten. Bei der Abstimmung im armenischen Parlament im April 1994 fand keine der beiden Varianten die erforderliche Zweidrittelmehrheit.

Um aus dieser Pattsituation herauszukommen, kündigte Präsident Ter-Petrosjan Parlamentswahlen für Mai 1995 an. Im Dezember 1994 versuchte er, darüber mit einigen Oppositionsparteien Einvernehmen zu erzielen, darunter mit der Republikanischen Partei, der Liberal-Demokratischen Partei, der Demokratisch-Liberalen Partei (eine Abspaltung von den Liberal-Demokraten), der Sozialdemokratischen Partei (Hntschak) sowie der neugegründeten Partei der Intellektuellen und der Christ-Demokratischen Union. Gleichzeitig ließ der Präsident mit Dekret vom 28. Dezember 1994 die Aktivitäten der Armenischen Revolutionären Föderation vorübergehend verbieten. Den Daschnaken wurde Kollaboration mit einer geheimen Terrororganisation (Anschläge gegen die in Armenien stationierten russischen Truppen, politische Morde, Drogenhandel) vorgeworfen.

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3. Wirtschaftslage

Es grenzt an ein Wunder, daß die Volkswirtschaft Armeniens nicht vollständig zusammengebrochen ist. Armenien, das keine nennenswerten Rohstoffe besitzt, zählte zu den ärmsten Unionsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion. Hinzu kamen eine sehr ungünstige geopolitische Lage, ein schweres Erdbeben (1988), der Krieg mit Aserbaidschan um Berg-Karabach, die Handels- und Wirtschaftsblockade und die vergebliche Hoffnung auf westliche Unterstützung. Die nichtkommunistische Regierung Armeniens geriet 1990-1994 von allen Seiten in eine politische und wirtschaftliche Isolation.

Von den Folgen der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Dezember 1988, die mehr als 25.000 Menschenleben forderte, mehrere Städte und Siedlungen zerstörte sowie über 150 Fabriken, zahlreiche Schulen und das einzige Atomkraftwerk des Landes beschädigte, konnte sich Armenien bis heute nicht erholen. Nur ein geringer Teil des Wiederaufbauprogramms konnte verwirklicht werden. Von den zugesagten 10 Mrd. Rubel stellte Moskau nur 3 Mrd. Rubel zur Verfügung. Der Großteil der westlichen Hilfsgüter und Spenden floß ab 1991/92 nicht mehr nach Armenien, sondern nach Moskau und St. Petersburg.

Die notwendigen Reformen beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft wurden dadurch erschwert, daß sich Armenien praktisch im Kriegszustand befand. Die Zahl der armenischen Flüchtlinge beläuft sich auf 360.000. Sie flohen nach den Pogromen von 1988 aus Aserbaidschan und Nachitschewan oder wurden aus Berg-Karabach zwangsweise nach Armenien deportiert. Aus den Flüchtlingen rekrutierten sich später die armenischen Karabach-Kämpfer.

Die Handels- und Wirtschaftsblockade durch Aserbaidschan und die Türkei hat die Energie- und Nahrungsmittelversorgung der stark importabhängigen armenischen Wirtschaft seit 1989 praktisch lahmgelegt. Bis 1989 waren 87% der Frachtgüter für Armenien durch die Eisenbahngesellschaft Aserbaidschans befördert worden. Nach der Einstellung des Eisenbahnverkehrs durch Aserbaidschan mußten zahlreiche armenische Betriebe schließen. Im Frühjahr 1993 stoppte die türkische Regierung den Transport europäischer Hilfssendungen durch die Türkei. Zwar gibt es auch eine Straßenverbindung zwischen Armenien und Iran über eine Brücke am Arax-Fluß, doch ist sie für Gütertransporte kaum geeignet. Ähnliches gilt für die Bahnlinie, die Armenien mit Georgien verbindet.

Noch problematischer wurde für die armenische Wirtschaft die Energiekrise, nachdem Aserbaidschan am 5. November 1991 die Erdöl- und Erdgasleitungen nach Armenien gekappt hatte. Armenien hatte 82% der Brennstoffimporte für seine Wärmekraftwerke aus Aserbaidschan und 16% aus der Russischen Föderation bezogen. Die letzte Erdgasleitung, die von Georgien nach Armenien führt und Gas aus Turkmenistan liefert, wurde im Januar und Februar 1993 sowie erneut im Dezember 1994 gesprengt. Weitere Ereignisse komplizierten die Erdgasversorgung Armeniens: Ab Oktober 1994 erhielt Armenien nur 3 statt 5 Mill. cbm turkmenisches Erdgas, nachdem Georgien die Leitung für seinen Eigenbedarf angezapft hatte, da Rußland die Erdgaslieferungen an Georgien wegen nichtbezahlter Schulden (12 Mrd. Rubel) eingestellt hatte. Dann stellte Turkmenistan im November 1994 die Erdgaslieferungen an Armenien ein, weil Usbekistan zu hohe Transitgebühren forderte. Schließlich sagte Rußland Armenien bis zur Wiederaufnahme der turkmenischen Lieferungen die Lieferung von täglich 2 Mill. cbm Erdgas aus Stawropol zu. Eine Einigung der drei beteiligten Parteien Armenien, Turkmenistan und Georgien kam im Dezember 1994 zustande. Danach soll Armenien 1995 täglich 1,5 Mill. cbm Erdgas aus Turkmenistan erhalten.

Der Mangel an Energie und Rohmaterialien beschleunigte die Wirtschaftskrise und führte zur Drosselung der Produktion. Das Nationaleinkommen ging 1993 im Vergleich zu 1990 um 57%, die Industrieproduktion um 63,3% und die Agrarproduktion um 12,3% zurück. Der Anteil der Arbeitslosen (über 100.000) an der Gesamtbevölkerung betrug im September 1994 fast 7%.

Die wirtschaftliche Not war es nicht allein, die Armenien zwang, der von Moskau dominierten GUS beizutreten. Ohne GUS-Mitgliedschaft hätte Armenien auch keinerlei Einfluß mehr auf das Schicksal der Armenier in Karabach gehabt, nachdem die Wirtschaftsstrukturen Karabachs inzwischen an Armenien angebunden worden sind. Die GUS-Mitgliedschaft brachte dem wirtschaftlich völlig von Moskau abhängigen Armenien zunächst kaum Vorteile. Rußland war an einem Verbleib Armeniens in der Rubelzone nicht interessiert. Die riesigen Mengen von in Rußland ungültigen Rubelnoten, die von überall nach Armenien flossen, zwangen Jerewan, im November 1993 eine eigene Währung, den Dram, einzuführen (1 Dram = 200 Rubel). Erst 1994 spielte Armenien in der Transkaukasus-Politik Moskaus wieder eine gewichtige Rolle. Im Juli 1994 gewährte Rußland Armenien einen Staatskredit von 110 Mrd. Rubel (Rückzahlungsfrist: 1996-1999). Davon sind 10 Mrd. Rubel für den Aufbau der 1988 vom Erdbeben betroffenen Gebiete im Norden Armeniens sowie 60 Mrd. für die Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerkes Medzamor, das im März 1989 aus Sicherheitsgründen abgeschaltet worden war, vorgesehen. Die schwere Energieversorgungskrise, die entstand, nachdem Aserbaidschan sämtliche Eisenbahn- und Pipeline-Verbindungen unterbrochen hatte, zwang Armenien zur Reaktivierung des erdbebengefährdeten Kraftwerkes.

Trotz der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen ist Armenien im Transformationsprozeß unter allen GUS-Staaten am weitesten vorangeschritten. Die Privatisierung der Landwirtschaft hatte noch im Rahmen der bestehenden UdSSR im Januar 1991 begonnen. Bis Ende 1994 wurden 97% der 450.000 ha Land privatisiert, 715 der 860 Kolchosen und Sowchosen in 167.000 private und 9.500 genossenschaftliche Betriebe umgewandelt. Die Privatisierung der Industriebetriebe (aufgrund des Gesetzes vom August 1992) kommt zwar langsamer voran, doch sollen bis 1997 fast 5.000 Betriebe in Privathand überführt werden. Das staatliche Außenhandelsmonopol wurde gleichzeitig mit der Steuerreform vom Januar 1992 abgeschafft. Im April 1993 wurde ein zweistufiges Bankensystem (Zentralbank und 65 private Geschäftsbanken) eingeführt (vgl. Neue Zürcher Zeitung, 26. Oktober 1994).

Über die Gründe für den besonderen Entwicklungsweg Armeniens läßt sich nur mutmaßen: War es die wirtschaftspolitische Bedeutungslosigkeit Armeniens, die wirtschaftsstrategische Bedeutung des erdölreichen Aserbaidschans, die politische Rücksichtnahme auf den NATO-Partner Türkei oder auf Gorbatschow und später Jelzin in Moskau? Festzuhalten ist, daß der Westen Armenien, obwohl es als erstes Land unter den ehemaligen Unionsrepubliken der UdSSR über eine frei gewählte demokratische und nichtkommunistische Regierung verfügte und marktwirtschaftliche Reformen einleitete, in der Zeit von 1991-1994 keine nennenswerte wirtschaftliche und finanzielle Hilfe beim Transformationsprozeß leistete, während z.B. die Staaten Zentralasiens, in denen die alte kommunistische Nomenklatura an der Macht geblieben war, schon längst in den Genuß westlicher Hilfe kamen. Ohne die "reiche" Diaspora hätten breite Schichten der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1991-1994 kaum überleben können.

Erst fünf Jahre nach der Unabhängigkeit zeigt der Westen Bereitschaft, die armenische Wirtschaft zu unterstützen. Ein neues Wirtschaftsprogramm wurde von der armenischen Regierung gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds (IMF) erarbeitet und vom armenischen Parlament am 19. November 1994 verabschiedet. Das Programm, das am 1. Dezember 1994 in Kraft trat, sieht Preisliberalisierung, Währungsstabilisierung, die Reduzierung des Haushaltsdefizits, die Streichung von Subventionen sowie Kreditzusagen internationaler Finanzinstitute in Höhe von 500 Mill. Dollar vor. Ende Dezember 1994 stellte der IMF hierfür den ersten Teilkredit von 25 Mill. Dollar zur Verfügung.

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4. Außenbeziehungen

Die Grundprinzipien der armenischen Außenpolitik, an denen Jerewan bis heute festhält, legte Präsident Ter-Petrosjan vor der UNO-Vollversammlung im September 1992 dar: Normalisierung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten, Lösung von Konflikten auf dem Verhandlungswege, aktive Mitarbeit in der GUS, der KSZE und im Rat für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Schwarzmeer-Länder sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Nahost-Ländern. Armenien stellt keine territorialen Ansprüche an Aserbaidschan, fordert jedoch das Selbstbestimmungsrecht für die Bevölkerung von Berg-Karabach.

Die Beziehungen Armeniens zum Nachbarstaat Georgien sind zwar durch bilaterale Abkommen geregelt, blieben jedoch, nicht zuletzt wegen der unsicheren innenpolitischen Lage in Georgien, nicht ungetrübt. In Armenien befinden sich keine georgischen Minderheiten. Dagegen leben viele Armenier in den georgischen Gebieten Achalkalak und Achaltsiche sowie in Tiflis. Nicht wenige wurden im Zuge des wachsenden georgischen Nationalismus zur Annahme georgischer Namen gezwungen.

Problemlos gestalteten sich bis heute die Beziehungen Armeniens zum Nachbarstaat Iran, der über die neue Brücke von Meghri einen direkten Zugang zu Armenien hat. Armenien ist sowohl an einem größeren Einfluß Irans in Transkaukasien als auch an Vermittlungsdiensten Teherans im Karabach-Konflikt interessiert. Iran stärkt seinerseits die Position Armeniens, das in Teheran als ein Sperriegel gegen den türkischen Drang nach Zentralasien angesehen wird. Von der Diaspora in Iran (Täbris, Teheran, Isfahan) erhält Armenien aktive Unterstützung. Bei einer bestimmten Kräftekonstellation in der Transkaukasus-Region könnte Armenien Bindeglied einer russisch-iranischen Zusammenarbeit werden.

Das Verhältnis Armeniens zur Türkei blieb - trotz gelegentlicher Annäherungsversuche - bis heute gespannt. Schon während der Transkaukasien-Krise vom Februar 1988 war in der Türkei eine Wiederbelebung der unrealistischen rassistisch angelegten pantürkischen Ideologie von 1910 festzustellen, die die nicht-türkischsprechende Bevölkerung wie Kurden, Armenier und Tadschiken als nicht existent betrachtet. Auf einem Kongreß in Kayseri, Türkei, wurde z.B. 1990 behauptet, daß alle Bewohner von Karabach und 90% der Bevölkerung Jerewans Türken seien (East-European Newsletter, 10. September 1990). Die unbewältigte Vergangenheit, d.h. das türkische Schweigen über den Genozid an den Armeniern 1915-18, steht nach wie vor einer echten Normalisierung der armenisch-türkischen Beziehungen im Wege. Das unabhängige Armenien mit seinem neugewählten Parlament stellt keine territorialen Forderungen (Rückgabe des Kars-Gebiets) gegenüber der Türkei, wie dies die frühere Sowjetrepublik Armenien auf Geheiß Moskaus seit Mitte der 60er Jahre gelegentlich getan hatte. Die Regierung von Präsident Ter-Petrosjan verfolgte 1991 gegenüber der Türkei, wie auch im Falle Irans, eine pragmatische und realistische Politik, die ihr seitens der armenischen Opposition den Vorwurf des Verrats nationaler Interessen einbrachte. Demgegenüber stellte sich die Türkei im Karabach-Konflikt auf die Seite Aserbaidschans und begann Anfang 1992 eine umfassende militärische Zusammenarbeit mit Baku. Dadurch hat sich das Mißtrauen der Armenier gegenüber der Türkei vertieft. Die anfänglichen militärischen Erfolge Aserbaidschans in Karabach nährten die Befürchtungen Armeniens und vor allem Moskaus, daß es gelingen könnte, eine Landverbindung zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan herzustellen und damit den alten pantürkischen Plan von der Vereinigung der türkischen Bevölkerung von Anatolien bis Zentralasien zu verwirklichen. Diese Überlegungen führten zu einer Anlehnung Armeniens an Rußland und einer politischen Kursänderung Moskaus in Transkaukasien.

Moskau hat seit 1994 die Rolle einer Schutzmacht Armeniens übernommen, das keine gemeinsamen Grenzen mit der Russischen Föderation hat. Die gemeinsamen Sicherheitsinteressen gegenüber dem historischen Rivalen Türkei eröffnen die Möglichkeit einer relativ harmonischen Zusammenarbeit zwischen Moskau und Jerewan - vorausgesetzt, daß eine für Armenien annehmbare Lösung im Karabach-Konflikt gefunden wird.

Noch zu Zeiten der UdSSR hatte Moskau im Karabach-Konflikt einseitig Partei für Aserbaidschan ergriffen. Im Dezember 1988 (zur Zeit der Erdbebenkatastrophe) beschimpfte Gorbatschow die Armenier mit erhobener Faust. Die Armenier, die an sich bereit waren, Gorbatschows neuem Unionsvertrag als assoziiertes Mitglied beizutreten, weigerten sich daraufhin, sich am Moskauer Referendum vom 19. März 1991 zu beteiligen. Im Dezember 1991 trat Armenien der GUS bei. Die armenische Forderung, auch die "Republik Karabach" in die GUS aufzunehmen, lehnte Moskau ab. Auch Präsident Jelzin und der Transkaukasische Militärdistrikt der GUS stellten sich im Karabach-Konflikt zunächst auf die Seite Aserbaidschans. In den Jahren 1992-93 wurde die angestrebte Änderung der Armenien-Politik Moskaus vom russischen Parlament durchkreuzt, das traditionell die aserbaidschanische Position verteidigte. Es weigerte sich, den 1992 unterzeichneten Vertrag über kollektive Sicherheit zwischen Moskau und Jerewan zu ratifizieren. Im Gegenzug lehnte das armenische Parlament die Ratifizierung des Vertrages über den Status der russischen Truppen in Armenien ab.

Erst 1994 änderte sich die Politik Moskaus gegenüber Armenien. Für die Annäherung gab es nicht nur strategische, sondern auch ökonomische Gründe: Armeniens Wirtschaft ist weitgehend von russischen Rohstoff- und Nahrungsmittellieferungen abhängig, während die russische Rüstungsindustrie auf die Lieferung von Computer-Technologie aus Armenien angewiesen ist. Das russische Militär wechselte nunmehr die Seiten im Karabach-Konflikt, was Armenien militärische Vorteile im Krieg mit Aserbaidschan brachte. Moskau stellte Armenien Kredite für die erdbebengeschädigten Gebiete und die Instandsetzung des Atomkraftwerkes zur Verfügung. Am 19. Oktober 1994 unterzeichneten Rußland und Armenien in Moskau ein Abkommen über die Errichtung eines russischen Militärstützpunktes für zwei Staffeln MIG-23-Abfangjäger in der Nähe der armenischen Stadt Gumri (früher: Leninakan). Vorausgegangen war bereits eine Vereinbarung über die Entsendung russischer Grenztruppen zum gemeinsamen Schutz der armenischen Grenzen.

Der Westen, der in anderen Fällen von Menschenrechtsverletzungen sensibel reagiert, zeigte bei den Pogromen gegen Armenier in Aserbaidschan keine Reaktion. Man unterstützte das Moskauer Zentrum Gorbatschows und Jelzins und vertrat, wie heute im Fall Tschetschenien, den Standpunkt, es handele sich um "innere Angelegenheiten". Zwischen 1991 und 1994 gab es praktisch keine westliche Armenien-Politik, die diesen Namen verdient hätte. Die westliche Passivität garantierte jedoch den Erfolg der russischen Strategie in Armenien.

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II. Die Entwicklung in Aserbaidschan

Über die Geschichte der Aseris und die innenpolitische Entwicklung in Aserbaidschan bis zum Sommer 1992 ist in einer früheren FES-Studie bereits ausführlich berichtet worden (vgl. Henrik Bischof, Regimewechsel in Aserbaidschan und der Krieg um Berg-Karabach, September 1992). Nachfolgend werden hier deshalb nur die wichtigsten Ereignisse und Zusammenhänge für diesen Zeitraum zusammengefaßt:

In der Sowjetrepublik Aserbaidschan versuchte die durch Vettern- und Clanwirtschaft korrumpierte kommunistische Nomenklatura, mit der Schürung antiarmenischer Ressentiments sowie Maßnahmen gegen die Karabach-Armenier die wachsenden sozialen Probleme (Massenarbeitslosigkeit) zu überdecken. Die manipulierten Massen veranstalteten 1988 in Sumgait und Kirowabad und 1990 in Baku Pogrome gegen die Armenier. Der 1990 von Moskau neu ernannte Parteichef Ajas Mutalibow und sein Clan gaben sich - vor allem im Karabach-Konflikt - besonders nationalistisch, wenn es um die Erhaltung ihrer Macht ging. Nachdem die kommunistische Nomenklatura aus den Parlamentswahlen vom 30. September 1990 gestärkt hervorgegangen war, gewann Mutalibow auch die Präsidentschaftswahlen vom 8. September 1991. Gleichzeitig gelang es dem früheren Statthalter Breschnews in Aserbaidschan, Gajdar Alijew (Parteichef Aserbaidschans von 1969-1982), seine Macht als Gegenspieler von Mutalibow in Nachitschewan auszubauen. Er wurde dort Parlamentspräsident.

1989 formierte sich unter Führung von Ebulfes Eltschibey eine in sich zerstrittene und gespaltene extrem nationalistische Opposition, die Volksfront Aserbaidschans, eine heterogene Sammelbewegung, die sich nur in der Frage des Sturzes der kommunistischen Nomenklatura einig war. Sie forderte eine militärische Lösung des Karabach-Konfliktes. Berichte über Massaker an aserbaidschanischen Flüchtlingen sowie die von der Volksfront organisierten Massendemonstrationen zwangen Präsident Mutalibow am 6. März 1992 zum Rücktritt. Eine erneute militärische Niederlage, die Einnahme der Stadt Schuscha durch die Armenier sowie das mehrheitlich von der Nomenklatura besetzte aserbaidschanische Parlament, verhalfen Mutalibow am 14. Mai 1992 zu einer zweiten Amtszeit als Präsident für vier Tage.

Die Anhänger der panislamisch und pantürkisch sowie antiarmenisch und antirussisch eingestellten Volksfront stürmten am 15. Mai das Parlament und den Präsidentenpalast und verjagten Mutalibow. Ein paritätisch von der Nomenklatura und der Volksfront gebildeter Nationalrat setzte Mutalibow am 17. Mai 1992 als Präsident der Republik ab und bildete bis zu den Präsidentschaftswahlen eine Koalitionsregierung. Nachdem die Armenier inzwischen auch die Stadt Latschin erobert hatten, war es keine Überraschung mehr, daß der Vorsitzende der Volksfront, Ebulfes Eltschibey, die Präsidentschaftswahlen am 7. Juni 1992 gewann. Zwar übernahm er am 16. Juni als erster demokratisch gewählter Präsident Aserbaidschans die Macht, doch gab es während seiner Amtszeit weder Demokratisierung noch marktwirtschaftliche Reformen. Mit seiner islamisch-nationalistischen und pantürkischen Linie erfüllte er die Erwartungen seiner Anhänger nur in einer Hinsicht: Es gelang ihm, den Konflikt um Karabach in einen regelrechten Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien umzuwandeln.

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1. Innenpolitische Kräfteverhältnisse

Unter dem Eindruck der militärischen Erfolge der Armenier, der Besetzung der aserbaidschanischen Bezirke Kelbadschar und Latschin, verloren Präsident Eltschibey und die Volksfront ihre Popularität. Zwar gelang es Eltschibey, seinen Widersacher Mutalibow auszuschalten - er ging ins Exil nach Moskau -, doch der Führer der im Juli 1991 gegründeten Nationalen Unabhängigkeitspartei, Etibar Mamedow, und der Parlamentspräsident von Nachitschewan, Gajdar Alijew, verbündeten sich gegen ihn. Nach einem gescheiterten Putschversuch der Volksfront Eltschibeys im Oktober 1992 in Nachitschewan gründete Alijew im November 1992 seine eigene Partei "Neues Aserbaidschan" (Eni Azerbaijan).

Präsident Eltschibey setzte weiter auf innenpolitische Konfrontation mit antidemokratischen Methoden. 1993 schaltete er das Parlament aus, verhaftete seine politischen Gegner und verbot ihre Parteien. Neun der 23 offiziell registrierten Parteien schlossen sich im Februar 1993 zu einem Oppositionsblock, "Neue Front", gegen die Alleinherrschaft der Volksfront zusammen, darunter die Partei Neues Aserbaidschan Alijews, die Nachfolgepartei der Kommunisten, die Partei der Revolutionären Wiedergeburt von Sajad Sajadow, die Partei des Unabhängigen Aserbaidschan (Mustakil Azerbaijan Partijazi) unter Führung von Nisami Sulejmanow sowie die Partei Vereintes Aserbaidschan (Wahid Azerbaijan).

Im Frühjahr 1993 tauchten Gerüchte über einen Putsch gegen Präsident Eltschibey auf, der offen eine antirussische und protürkische Politik betrieb. Die letzten russischen Soldaten, ein Luftlande-Regiment in Gandscha, verließen im Mai 1993 das Land. Der Kommandeur der aserbaidschanischen Truppen in Karabach, Suret Chussejnow, schlug sein Hauptquartier in Gandscha auf. Ein außerordentlicher Kongreß der regierenden Volksfront entschied sich im Dezember 1992 für das türkische Entwicklungsmodell. Per Gesetz wurde Türkisch als Amtssprache in Aserbaidschan eingeführt. Neben dem bereits existierenden aserbaidschanischen Zweig der türkischen Terrororganisation "Graue Wölfe" unter Führung von Zohrab Mamedow (Kelbalak) etablierte sich im März 1993 die protürkische Boz Gurd-Partei Aserbaidschans (Graue Wölfe) unter Führung von Schakir Mahesamow und des Innenministers Iskender Chamidow, die sich der Volksfront anschloß.

Nach der Vertreibung der Armenier aus Aserbaidschan, der Unabhängigkeitserklärung der Armenier in Berg-Karabach und der Machtübernahme der extrem nationalistischen Volksfront in Baku begannen weitere der rund 90 ethnischen Minderheiten Aserbaidschans, sich politisch zu organisieren. Zunächst gründeten die Kurden, die vor allem in den Bezirken zwischen Karabach und Armenien (Latschin, Kelbadschar, Kubatlin, Sangelan, Dschebrail) leben, im Juni 1992 eine "Kurdische Befreiungsbewegung" unter Führung von Wakil Mustafajew. Bereits in den 20er Jahren hatte es in diesem Gebiet ein autonomes "Rotes Kurdistan" gegeben, das 1931 von Stalin aufgelöst worden war. Tausende von Kurden waren damals nach Zentralasien und Kasachstan deportiert worden. Die Aseris verfolgten gegenüber den Kurden die gleiche Politik wie die Türkei. Zu Zeiten der UdSSR waren die Kurden als ethnische Minderheit in den Statistiken gar nicht aufgetaucht. Ihre Zahl dürfte sich in Aserbaidschan schätzungsweise auf 200.000 belaufen. Die rund 60.000 in Armenien lebenden Kurden verfügen dagegen sogar über kurdischsprachige Schulen. Die Auflehnung der Kurden gegen Baku kam dem militärischen Ziel der Armenier, den sog. Latschin-Korridor zwischen Karabach und Armenien einzurichten, entgegen.

Ähnlich wie die Kurden lassen sich die in Aserbaidschan lebenden Lesginen und Talischen von Drittstaaten zu Zwecken der Destabilisierung bzw. Einflußnahme aktivieren. Die rund 300.000 Lesginen leben je zur Hälfte im Norden Aserbaidschans (Region Kusari) und in Dagestan. Ihre Befreiungsbewegung "Sadwal" kämpft für die Wiedervereinigung im Rahmen einer autonomen Republik. Die ebenfalls etwa 300.000 Talischen leben im Süden Aserbaidschans (Region Lenkoran). Eine noch größere Zahl lebt in Iran. Die Talischen, die eine persische Sprache sprechen, wehren sich im Rahmen des neu gegründeten "Talisch Kulturzentrums" und der "Talisch Volkspartei" gegen die fortgesetzte Turkisierung.

Die Folgen der militärischen Niederlagen, die Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien seit 1992 erlitten hat, waren innenpolitische Destabilisierung, bürgerkriegsähnliche Zustände und erneute Machtwechsel. Nachdem Präsident Eltschibey den Kommandeur des in Karabach eingesetzten 2. Korps der aserbaidschanischen Armee, Oberst Suret Chussejnow (zu Zeiten der UdSSR Direktor einer Fleischfabrik, danach Textilfabrikant und Baumwollhändler), im Februar 1993 abgelöst hatte, begab sich Chussejnow mit seiner von ihm finanzierten "Privatarmee" im Mai 1993 nach Gandscha, um von dort aus einen bewaffneten Aufstand gegen die Machthaber in Baku zu beginnen. Das 104. Luftlande-Regiment der russischen Armee, das im Mai 1993 seinen Stützpunkt in Gandscha aufgab, stellte ihm seine gesamte Militärtechnik sowie rund 100 Soldaten (als Söldner) zur Verfügung. Den Regierungstruppen gelang es nicht, den am 4. Juni 1993 begonnenen Aufstand in Gandscha niederzuschlagen. Vielmehr schlossen sich den Aufständischen Garnisonen der Städte Lenkoran, Mingetschaur und Jewlah an.

Die Opposition, die Nationale Unabhängigkeitspartei von Etibar Mamedow und die Partei Neues Aserbaidschan von Gajdar Alijew, nutzte die Gunst der Stunde, um mit Hilfe des von der alten kommunistischen Nomenklatura gestützten Oberst Suret Chussejnow einen Machtwechsel zu erzwingen. Präsident Eltschibey verlor die Kontrolle über die Lage. Ministerpräsident Panach Chussejnow trat am 7. Juni, Parlamentspräsident Isa Kambarow am 13. Juni 1993 zurück. Oberst Suret Chussejnow verlangte auch den Rücktritt von Präsident Eltschibey und setzte seine 3.000 Mann starke Privatarmee in Richtung Baku in Marsch. Das Parlament (Milli Medschlis) wählte am 15. Juni Gajdar Alijew zum neuen Parlamentspräsidenten und übertrug ihm auch die Exekutivgewalt. Am 17. Juni flüchtete Präsident Eltschibey in sein Heimatdorf Keleki in Nachitschewan. Am 25. Juni enthob das Parlament Eltschibey seines Amtes und übertrug die Machtbefugnisse des Staatschefs Gajdar Alijew. Am 30. Juni berief das Parlament Suret Chussejnow zum neuen Ministerpräsidenten, der auch die Posten des Innen- und Verteidigungsministers übernahm. Die dritte Führungspersönlichkeit im Oppositionsbündnis gegen Eltschibey, Etibar Mamedow, der ebenfalls den Posten des Ministerpräsidenten angestrebt hatte, verzichtete letztlich auf einen Regierungsposten.

Der amtierende Staatschef Gajdar Alijew bemühte sich, seine Macht zu legalisieren und durch Ausschaltung von Oppositionellen zu festigen. Eine Reihe von Volksfront-Führern wurde verhaftet, Parteien, die Eltschibey unterstützten, verfolgt. In der Provinz Lenkoran übernahm der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister Oberst Alikram Gumbatow mit seinen bewaffneten Anhängern die Macht. In sieben Bezirken rief er eine Talisch-Mugan-Republik aus. Unterstützt wurde er vom Mutalibow-Clan, dem früheren Verteidigungsminister Ragim Gasijew und der Sozialdemokratischen Partei von Araz Alizade. Erst Ende August 1993 gelang es den Anhängern Alijews, Gumbatow aus Lenkoran zu verjagen.

Am 29. August 1993 ließ Alijew ein von KSZE-Vertretern beobachtetes Referendum über die Frage durchführen, ob das Volk Vertrauen zum bisherigen Präsidenten Eltschibey habe. An der Volksbefragung nahmen 92,9% der 3,7 Mill. stimmberechtigten Bürger teil. 97% davon stimmten gegen Eltschibey. Damit war der Weg zu neuen Präsidentschaftswahlen frei, die am 3. Oktober 1993 stattfanden. Drei Kandidaten standen zur Wahl: Gajdar Alijew (Partei Neues Aserbaidschan), Kerrar Abilow (Partei Vereintes Aserbaidschan) und Zakir Tagijew (Gummet-Partei). Alijew gewann mit 98,8% der abgegebenen Stimmen. Die KSZE-Beobachter fanden die Wahlen nicht demokratisch, weil nicht alle Parteien daran teilnahmen. Die Volksfront hatte die Wahlen boykottiert. Gajdar Alijew übernahm am 10. Oktober 1993 offiziell das Amt des Präsidenten. Seither betrachten sich drei Politiker, Alijew, Mutalibow und Eltschibey, als legitime Präsidenten der Republik Aserbaidschan.

Das Jahr 1994 verlief im Zeichen des innenpolitischen Machtkampfes zwischen den Anhängern Alijews, Eltschibeys und Mutalibows. Im März 1994 schlossen sich die nationalistischen und protürkischen Oppositionsparteien zu einem "Demokratischen Kongreß" zusammen: Volksfront, Demokratische Partei, Mutterland-Partei (Ana Toprag), Musawat-Partei, Volksfreiheitspartei (Halg Azadlyg). Im April 1994 gründeten die National-Demokratische Partei sowie "Boz Gurd" (Graue Wölfe), "Vereintes Aserbaidschan" und "Junges Aserbaidschan" eine "Allianz für Aserbaidschan". Im Mai 1994 bildete sich ein "Block zentristischer Parteien" (Partei für gleiche Rechte des Volkes, Sozialdemokratische Partei, Partei Unabhängiges Aserbaidschan, Ana-Watan-Partei). Die im September 1991 aufgelöste Kommunistische Partei trat erneut unter ihrem alten Namen auf.

Unter dem Vorwurf, einen Staatsstreich geplant zu haben, schaltete Alijew die Anhänger Eltschibeys aus. Die Verhaftungswelle gegen die Volksfront, die Musawat-Partei und die Volksfreiheitspartei erreichte im März und Mai 1994 Höhepunkte. Die Führungsposten im Staats- und Verwaltungsapparat, die bislang Volksfront-Funktionäre innehatten, wurden von der regierenden Partei Neues Aserbaidschan Alijews besetzt.

Als nächsten Schritt schaltete Präsident Alijew die Moskau nahestehende Opposition, den Mutalibow-Clan und Ministerpräsident Suret Chussejnow, mit dem er sich ein Jahr zuvor gegen Eltschibey verbündet hatte, aus. Eile war geboten, da die Armenier mit der Einnahme der Städte Fisuli und Dschebrail weitere militärische Erfolge erringen konnten. Bei dem Machtkampf ging es auch um das Schicksal von über 500 Mill. t Erdöl. Am 21. September 1994, einen Tag nach der Unterzeichnung des Ölvertrages mit westlichen Konsortien, entkamen unter ungeklärten Umständen mehrere Mutalibow-Anhänger aus dem früheren KGB-Gefängnis von Baku: der frühere Verteidigungsminister Rakim Gasijew, der Präsident der selbstproklamierten Talisch-Mugan-Republik, Alikram Gumbatow, und weitere hohe Offiziere. Nach seiner Rückkehr aus den USA am 30. September 1994 kündigte Präsident Alijew in einer dramatischen Fernsehrede einen Putschversuch gegen seine Regierung an, der einige Stunden später tatsächlich nach dem von ihm geschilderten Drehbuch stattfand. Am 29. September waren zwei Alijew-Anhänger, der stellvertretende Parlamentsvorsitzende und der Chef der Spionageabwehr, ermordet und als Täter drei Angehörige der Spezialtruppen des Innenministeriums, OMON, verhaftet worden. Um sie zu befreien, erstürmten am 30. September OMON-Einheiten des stellvertretenden Innenministers Rowschan Dschawadow das Büro der Staatsanwaltschaft und nahmen den Generalstaatsanwalt Ali Omarow als Geisel. Am 3. Oktober verhängte Präsident Alijew in Baku den Ausnahmezustand. Am 4. Oktober schlugen Regierungstruppen eine Rebellion in Gandscha nieder. Am 6. Oktober wurde Ministerpräsident Suret Chussejnow abgesetzt, jedoch nicht verhaftet. Zum neuen Ministerpräsidenten wurde Fuad Gulijew ernannt. Alijew machte den Mutalibow-Clan für den Umsturzversuch verantwortlich.

Die Anhänger Mutalibows (Chussejnow, Gasijew, Gumbatow) gaben sich nicht geschlagen. Anfang 1995 gründeten sie eine "Union der Bürgersolidarität". Die Anhänger Präsident Alijews kündigten die Gründung einer "Allianz zur Unterstützung Aserbaidschans" an. Im Juni 1995 sollen in Aserbaidschan Parlamentswahlen stattfinden. Zur Zeit sind wichtige Schaltstellen der Macht fest in den Händen der Familie Alijew: Rasul Gulijew (Parlamentspräsident), Fuad Gulijew (Ministerpräsident), Hassan Chassanow (Außenminister), R. Risajew (Botschafter in Moskau). Alijews Leibgardist und Schwiegersohn Mahmud Mamedgulijew wurde Botschafter in London und Alijews Sohn Vizepräsident der aserbaidschanischen Ölgesellschaft.

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2. Der "Jahrhundert"-Ölvertrag

Mit Hilfe des sog. "Jahrhundert"-Ölvertrages mit westlichen Konsortien versuchten Präsident Alijew und sein Clan, ihre politische Macht zu festigen und das Land aus der katastrophalen Wirtschaftslage herauszumanövrieren.

Der Krieg um Karabach, der bereits 1992 täglich 30 Mill. Rubel verschlungen hatte, sowie der Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu den GUS-Staaten unter der Präsidentschaft Eltschibeys haben die aserbaidschanische Wirtschaft ruiniert. Entgegen den Erwartungen wurde die Hinwendung Aserbaidschans zur Türkei nicht durch ein nennenswertes Einströmen islamischen Kapitals honoriert. Im Krieg mit Armenien verlor Aserbaidschan rund 25% seines Territoriums, darunter 40% seiner Weizenanbaugebiete, 32% seiner Baumwollplantagen und 72% seines Weinanbaus. Gleichzeitig strömten rund 1,5 Mill. Aseris als Flüchtlinge in das Land. 70% der Industriebetriebe standen 1994 still. Die Erdölproduktion sank von 12 auf 8 Mill. t pro Jahr. Viele Erdölfachleute (Russen, Ukrainer, Armenier) haben das Land verlassen. Die im Juli 1993 eingeführte aserbaidschanische Währung, der Manat, konnte die galoppierende Inflation nicht aufhalten. Für 1994 wurde ein Staatshaushalt mit 23,6%igem Defizit verabschiedet. 70% der Staatsausgaben entfallen auf das Militär. Eine Privatisierung ist nicht in Sicht. Zwar trat Aserbaidschan im Dezember 1991 unter der Präsidentschaft Mutalibows der GUS bei, doch hat das Parlament in Baku das Abkommen zunächst nicht ratifiziert. Bis September 1993 nahm Aserbaidschan an den GUS-Tagungen nur als Beobachter und erst danach als Vollmitglied teil.

Im September 1994 stellte Turkmenistan zeitweilig die Erdgaslieferungen (3 Mill. cbm täglich) an Aserbaidschan ein. Zu diesem Zeitpunkt waren für den Erdgasimport aus Turkmenistan aserbaidschanische Schulden in Höhe von 100 Mill. Dollar aufgelaufen. Am Vorabend der Unterzeichnung des Ölvertrages mit dem Westen stoppte Moskau die Durchfahrt von Eisenbahnwaggons mit Waren für Aserbaidschan an der russisch-ukrainischen Grenze. Zwar hatte Moskau Aserbaidschan die Lieferung von 300.000 t Getreide zugesagt, aber auf die Getreidewaggons wurden noch im Sommer 1994 "Grüße von Mutalibow" gepinselt. Beim Kriegsausbruch in Tschetschenien sperrte Moskau den Eisenbahnverkehr auch an der russisch-aserbaidschanischen Grenze.

Vor diesem Hintergrund sah Baku den einzigen Weg zur Konsolidierung seiner Wirtschaft im Erdölgeschäft. Bereits im Mai 1991 gewann der US-Konzern Amoco eine internationale Ausschreibung zur Erschließung des Erdölfeldes Aseri im Kaspischen Meer. Im Juli 1993 unterzeichnete Baku mit einem westlichen Konsortium einen Vertrag zur Erschließung der Erdölfelder Cirag und Aseri, der am 24. November 1993 durch einen neuen Vertrag ersetzt wurde. Gleichzeitig bot die russische Erdölgesellschaft Lukoil an, gemeinsam mit Baku das Ölfeld Gunesli auszubeuten. Ungeklärt blieb jedoch bei all diesen Projekten die Transportfrage. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erschien es sinnvoll, das aserbaidschanische Öl über Rußland zum georgischen Hafen Batumi oder zum russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk zu transportieren. Hierzu wäre lediglich die Verlegung einer Pipeline von Baku nach Dagestan als Anschluß an bereits bestehende Leitungen notwendig. Bei dieser Variante bleibt Aserbaidschan jedoch von Moskau abhängig. Und im übrigen sperrte sich die Türkei gegen den Öltanker-Verkehr im Bosporus. Die andere Alternative, der Bau einer Ölpipeline über Iran und die Türkei, würde für Aserbaidschan nicht nur ebensoviele Unsicherheiten, sondern auch sehr hohe Investitionen bedeuten.

Zur endgültigen Unterzeichnung des "Jahrhundert"-Ölvertrages zwischen Aserbaidschan und einem internationalen Konsortium kam es am 20. September 1994. Der für 30 Jahre geschlossene Vertrag im Wert von 7,5 Mrd. Dollar wurde vom aserbaidschanischen Parlament am 2. Dezember 1994 ratifiziert. Er sieht die Erschließung der Ölfelder Aseri, Cirag und Gunesli sowie die Förderung von jährlich 511 Mill. t Erdöl vor. 258 Mill. t davon stehen Aserbaidschan zur Verfügung. An dem Geschäft sind folgende Ölgesellschaften beteiligt: SOCAR (Aserbaidschan), Amoco (USA), Unocal (USA), Pennzoil, (USA), McDermott International (USA), Ramco (USA), BP (Großbritannien), Statoil (Norwegen), TPAO (Türkei), Delta (Saudi-Arabien) und Lukoil (Rußland). Die Weltbank stellt der aserbaidschanischen Erdöl- und Erdgasindustrie einen Kredit von 20,8 Mill. Dollar zur Verfügung.

Zu ersten politischen Unstimmigkeiten kam es im November 1994, als Iran die Absicht bekundete, sich durch Übernahme von 5% des aserbaidschanischen Anteils an dem internationalen Konsortium zu beteiligen. Damit hätte sich der Anteil der staatlichen aserbaidschanischen Ölgesellschaft (SOCAR) von 20 auf 15% reduziert. Die fünf amerikanischen Ölgesellschaften lehnten jedoch eine iranische Beteiligung ab. Daraufhin vereinbarten Iran und Aserbaidschan eine Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene bei der Erschließung der Erdölfelder im Kaspischen Meer.

Das endgültige Schicksal des großen Ölgeschäftes hängt weitgehend von der Haltung Rußlands ab. Die russische Ölgesellschaft Lukoil (Westsibirien), die (mit drei Produktionsunternehmen, zwei Raffinerien, acht Verteiler-Gesellschaften, 100 Tochtergesellschaften und 15,7 Mrd. Barrel Ölreserven) zu den sechs größten Ölkonzernen der Welt zählt, ist an dem Vertrag mit 10% beteiligt. Problematisch ist, daß das Kaspische Meer bisher noch nicht unter den interessierten Staaten aufgeteilt ist.

Trotzdem beteiligt sich Lukoil am "Freiraub". Die russische Regierung fordert eine Statusänderung des Kaspischen Meeres, d.h. seine Umwandlung von einem Binnen- in ein internationales Gewässer, was bedeuten würde, daß außerhalb der 12-Meilen-Zone internationaler Bereich wäre. Die Ölfelder Aseri, Cirag und Gunesli liegen alle außerhalb der 12-Meilen-Zone. Baku fordert die Ausdehnung der Territorialgewässer auf 25 Meilen.

Noch deutlicher artikulieren die Russen ihre nationalen Interessen in der Transportfrage. Bereits im Frühjahr 1994 stellte Rußland klar, daß Erschließung und Transport von Öl im Kaspischen Meer ohne Zustimmung Moskaus nicht zu verwirklichen seien. Moskau besteht darauf, Erdöl aus Aserbaidschan und Kasachstan zum russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk und von dort per Tanker zum bulgarischen Hafen Burgas zu transportieren. Von Burgas aus soll das Öl über eine noch zu bauende Pipeline zum griechischen Hafen Alexandropolis befördert werden. Diese russische Transportvariante (mit Ölpipelines über den Nordkaukasus zum Hafen Noworossijsk) ist zwar wirtschaftlich die billigste Lösung, doch ist sie auch mit Unsicherheiten (Krieg in Tschetschenien) verbunden.

Eine türkische Transportvariante (Pipelines von Aserbaidschan entlang der Nord-Türkei zum Mittelmeerhafen Jurmalak) lehnt Moskau strikt ab. Auch diese letztere Variante ließe sich ökonomisch begründen, da bereits ein Leitungssystem von Aserbaidschan über Georgien und Abchasien bis zur türkischen Grenze besteht. Doch auch diese Region (Georgien, Abchasien) gleicht einem Pulverfaß, und der Transport wäre mit Risiken verbunden.

Irans Interesse gilt einer weiteren Variante: Bau einer Pipeline von Aserbaidschan über Iran und die Türkei bis zu den türkischen Ölterminals. Dies wäre jedoch mit hohen Investitionskosten verbunden. Rußland und Iran vertreten zwar gemeinsame Interessen in der Frage der Aufteilung des Kaspischen Meeres, nicht aber in der Transportfrage. Für Aserbaidschan wird es aus verschiedenen Gründen schwierig sein, Iran gänzlich aus dem Ölgeschäft auszuschließen, vor allem, wenn auch Moskau Irans Präsenz befürwortet. Im Falle einer iranischen Beteiligung könnten jedoch die fünf US-Konzerne auf Anweisung Washingtons aus dem Geschäft aussteigen. Zwar bemüht sich Baku für diesen Fall bereits um Ersatz durch die europäischen Ölgesellschaften Exxon, Shell und Elf, doch noch steht in den Sternen, ob der "Jahrhundert"-Ölvertrag überhaupt jemals verwirklicht werden kann.

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3. Außenpolitische Beziehungen

Die Außenpolitik Aserbaidschans verfolgt zwei Ziele: die Bewahrung der territorialen Integrität des Landes im Rahmen der zu Zeiten der UdSSR von Moskau festgelegten Verwaltungsgrenzen sowie die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen für die Stabilisierung der politischen Macht mit Hilfe von Drittstaaten. Da der geopolitischen Lage Aserbaidschans in Transkaukasien eine große strategische Bedeutung beigemessen wird, wetteifern sowohl die Großmächte Rußland und die USA als auch die Regionalmächte Iran und Türkei um Einflußnahme in diesem Ölland.

Die Türkei, die im Karabach-Konflikt einseitig die Position Bakus unterstützte, versuchte 1989-1992, die oppositionelle Volksfront Eltschibeys gegen den prorussischen Präsidenten Mutalibow aufzubauen und Aserbaidschan politisch zu majorisieren. Nach der Machtübernahme von Eltschibey, der sich außenpolitisch auf die Türkei umorientierte und innenpolitisch dem türkischen Staatsmodell zuwandte, schien es Ankara zu gelingen, Aserbaidschan als Tor der Türkei zu den Turkvölkern Zentralasiens aufzubauen und die Führungsrolle unter den islamischen turkstämmigen transkaukasischen und zentralasiatischen Republiken zu übernehmen. Ankara schickte Waffen und Militärberater nach Aserbaidschan. Offiziere aus Baku wurden in der Türkei ausgebildet. An der 6 km langen gemeinsamen Grenze wurde eine Brücke über den Arax-Fluß zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan gebaut. Es begann ein reger Warenverkehr. Die Ableger der türkischen ultra-nationalistischen Organisation "Graue Wölfe" (Boz Gurd) etablierten sich in Aserbaidschan. Im November 1992 sagte die Türkei Baku einen Kredit in Höhe von 384 Mill. DM zu. Im März 1993 wurde - in Erwartung der bevorstehenden Unterzeichnung des "Jahrhundert"-Ölvertrages - zwischen beiden Ländern ein Abkommen über den Bau einer Pipeline von Aserbaidschan zur türkischen Mittelmeerküste unterzeichnet. Mit dem Sturz von Präsident Eltschibey im Juni 1993 war den türkischen Wunschträumen von einer regionalen Großmacht ein jähes Ende beschieden. Der vom Pantürkismus Özals und Eltschibeys beschworene gemeinsame Staat aller Turkvölker - der neue "Turan" - ließ sich nicht verwirklichen. Sowohl Baku als auch Ankara haben inzwischen begriffen, daß die Wirtschaftskraft der Türkei weder zur Stabilisierung der aserbaidschanischen Wirtschaft noch zur Gründung eines zentralasiatischen Staatenbundes ausreicht. Die türkische Wirtschaft hatte sich, um nicht lukrative Geschäfte auf dem russischen Markt zu verspielen, ohnehin mit Projekten in Aserbaidschan auffallend zurückgehalten. Die über 1.600 türkischen Militärberater verließen im Herbst 1993 Aserbaidschan. Die "Grauen Wölfe" der Aseris fanden im Tschetschenien-Krieg ein neues Betätigungsfeld. Nach der Machtübernahme von Alijew kühlten sich die Beziehungen zwischen Baku und Ankara erheblich ab. Moskau gewann die Oberhand im türkisch-russischen Kampf um Einflußnahme in Aserbaidschan. Zu dem ursprünglich von den westlichen Ölgesellschaften geplanten Bau einer Pipeline durch die Türkei fehlt die Zustimmung Moskaus. Die letzten Nadelstiche der Türkei - ein Gipfeltreffen der Turkstaaten (Kasachstan, Kirgisistan, Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan) im Oktober 1994 in Istanbul sowie ein Kongreß der turksprachigen Völker in Izmir - ließen Moskau kalt. Rußland machte Ankara klar, daß die Türkei gut daran täte, den Traum einer Einflußnahme in Aserbaidschan zu begraben.

Die andere Regionalmacht, Iran, konnte im Konkurrenzkampf um die Einflußnahme in Aserbaidschan während der Präsidentschaft Mutalibows an Boden gewinnen, da die Aseris ebenso wie die Iraner islamische Schiiten sind. Da Iran im Gegensatz zur Türkei auch das Vertrauen Armeniens genoß, versuchte Teheran, im Karabach-Konflikt eine Vermittlerrolle zu spielen. Zwischen Baku und dem iranischen Hafen Bandar Anzahli wurde der Schiffsverkehr aufgenommen, bei Azlandouz ein neuer Grenzübergang eröffnet. Teheran gewährte der aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan Wirtschaftshilfe und bot Stromlieferungen an. Geplant war auch der Bau einer Eisenbahnlinie durch iranisches Territorium, um Aserbaidschan mit Nachitschewan zu verbinden. Der Handelsverkehr zwischen beiden Ländern nahm zu. Nach der Machtübernahme Eltschibeys und der damit verbundenen Hinwendung Bakus zur Türkei kühlten die aserbaidschanisch-iranischen Beziehungen jedoch rasch ab, nicht zuletzt weil Eltschibey die Vereinigung der beiden aserbaidschanischen Provinzen Irans, wo 15 Mill. Aseri leben, mit dem Mutterland forderte. Aserbaidschan war 1828 zwischen Rußland und Persien aufgeteilt worden. Teheran profitierte somit vom Sturz Eltschibeys im Sommer 1993. Unter der Präsidentschaft Alijews haben sich die aserbaidschanisch-iranischen Beziehungen erneut normalisiert. Beim Besuch von Rafsandschani in Baku wurden rund 40 Kooperationsverträge zwischen beiden Ländern unterzeichnet. Es bahnte sich im Kampf um das Ölland Aserbaidschan eine Allianz der russisch-iranischen Interessen gegenüber einer türkisch-amerikanischen Allianz an.

In einem Interview mit dem türkischen Fernsehen TRT erklärte Volksfront-Führer Eltschibey am 16. Mai 1992, daß es sich bei den Aktionen der aserbaidschanischen Volksfront, die zum Rücktritt des prorussischen Präsidenten Mutalibow führten, um einen geplanten Staatsstreich handele, hinter dem die Türkei und die USA stünden. Offenbar ging es Washington darum, durch die Stärkung des türkischen Nationalismus in der Region dem radikalen islamischen Fundamentalismus Irans Einhalt zu gebieten. Am Vorabend der Präsidentschaftswahlen vom Juni 1992 wurde Volksfront-Führer Eltschibey in einer Kampagne westlicher Medien als ein prowestlich orientierter "Demokrat" dargestellt und als künftiger Präsident Aserbaidschans aufgebaut. Washington hoffte, unter der Präsidentschaft Eltschibeys mit Hilfe der US-Ölkonzerne in Aserbaidschan Fuß zu fassen. Eltschibey glaubte seinerseits, daß der von ihm in London unterzeichnete Vorvertrag zur Ausbeutung der Ölfelder im Schelf des Kaspischen Meeres seinem Land Wohlstand bringen würde. Doch die Rechnung der USA, mit Hilfe der Türkei und des protürkischen Regimes in Baku politischen und wirtschaftlichen Einfluß in Aserbaidschan zu gewinnen, ging vorerst nicht auf. Eltschibey wurde unter dem Applaus Moskaus gestürzt, und der Kampf zwischen Rußland und den USA um das Öl Aserbaidschans ging nach der Machtübernahme Alijews weiter.

Sowohl die Sowjetunion Gorbatschows als auch Jelzins Rußland unterstützten unter der Präsidentschaft Mutalibows (1990-1992) im Konflikt mit Armenien zunächst die Position Bakus. Die in Aserbaidschan stationierten Truppen des Transkaukasischen Militärbezirks der Ex-UdSSR überließen Baku Rüstungsgüter, darunter 297 Panzer, 396 gepanzerte Fahrzeuge, 305 Artilleriegeschütze, 53 Raketenabschußsystme des Typs "Grad" (BM-21) sowie Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge vom Typ SU-25 und MIG-25 (Kuranty, Moskau, 21. November 1992, S. 2). Der aserbaidschanische Innenminister Iskender Chamidow behauptete sogar, auch über sechs nicht näher definierte "Atomwaffen" zu verfügen (Turan, Baku, 7. Dezember 1992). Das Blutbad der Sowjettruppen im Januar 1990 in Baku sowie die militärischen Niederlagen gegen Armenien nährten jedoch antirussische Gefühle und stärkten die islamistisch-pantürkische Volksfront, was schließlich zum Sturz des Mutalibow-Regimes führte. Das neue Volksfront-Regime Eltschibeys (1992/93) verzichtete auf die GUS-Mitgliedschaft und wandte sich der Türkei zu. Die Truppen des Transkaukasischen Militärbezirks und die sowjetisch/russischen Grenztruppen verließen Aserbaidschan. Moskau verzichtete auf den Import von aserbaidschanischen Waren (Baumwolle, Obst, Aluminium u.a.). Die Überschätzung der Wirtschaftskraft der Türkei, die Unterschätzung der Möglichkeiten Moskaus sowie weitere militärische Niederlagen gegen Armenien führten im Sommer 1993 zum erneuten Umsturz und Regimewechsel in Baku. Die neue Regierung Alijew trat am 24. September 1993 erneut der GUS, einschließlich der geplanten Wirtschaftsunion und des Vertrages über kollektive Sicherheit, bei. Rußland erhielt seine 1984 fertiggestellte Radaranlage - Teil des russischen Raketenwarnsystems - in Kabala zurück. Im November 1994 wurde ein Abkommen über den Schutz der aserbaidschanischen Grenzen zu Iran und der Türkei (Nachitschewan) durch russische Grenztruppen paraphiert. Im Dezember 1993 sollen russische "Freiwillige" ein Bataillon innerhalb der aserbaidschanischen Armee gebildet haben. Ähnlich wie Moskau fordert auch Baku eine Revision des Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa, da Aserbaidschan aufgrund der Größe seines Territorismus und seiner Bevölkerung auf einer höheren Zahl von Panzern besteht, als ihm zugestanden worden war (jeweils 220 Panzer für Armenien, Aserbaidschan und Georgien).

Mit der Erkenntnis, daß ohne die Rücksichtnahme auf russische Interessen im Transkaukasus nichts läuft, trug Alijew der Realität Rechnung. Er annullierte den von Eltschibey geschlossenen Ölvertrag mit westlichen Konzernen und nahm in einem neu konzipierten Vertrag auch die russische Ölgesellschaft Lukoil in das Konsortium auf. Moskau beharrt jedoch - unter Berufung auf die Gefahren für das Ökosystem und das sowjetisch-iranische Abkommen von 1940 - darauf, daß Aserbaidschan kein Recht habe, die Erdölvorkommen im Kontinentalschelf des Kaspischen Meeres einseitig auszubeuten. Außerdem besteht Moskau darauf, die geplante Erdölpipeline über russisches Territorium und nicht, wie von Eltschibey und den amerikanischen Ölgesellschaften vorgesehen, über türkisches Territorium zu führen. Solange die Pipelinefrage nicht gelöst ist, kann Aserbaidschan nicht auf den ersehnten Wohlstand aus den Erdöleinnahmen hoffen. Geopolitisch entscheidend ist jedoch, daß es Moskau gelungen ist, den in den Jahren 1992-93 gewachsenen Einfluß der USA und der Türkei in Aserbaidschan zu beseitigen. Die pantürkischen Aktivitäten Ankaras im Transkaukasus und in Zentralasien konnten Rußland kaum beeindrucken. Die Antwort darauf war im November 1994 eine "Tagung der Kurden in der GUS" in Moskau, bei der die PKK aus der Türkei eine wichtige Rolle spielte. Es zeigte sich auch, daß nur Rußland dem - durch russische Hilfestellung ermöglichten - Vordringen Armeniens Einhalt gebieten kann. Der Schlüssel zur Lösung des Karabach-Konflikts liegt daher vor allem in russischer Hand.

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III. Krisenmanagement Berg-Karabach

Der Krieg um Karabach, dessen Ursachen, Entstehung und Verlauf bereits ausführlich beschrieben wurden (Henrik Bischof, Regimewechsel in Aserbaidschan und der Krieg um Berg-Karabach, Friedrich-Ebert-Stiftung, September 1992), spiegelt die internationalen Verflechtungen in der Transkaukasus-Region wider: die unterschiedlichen nationalen Interessen von Drittstaaten, die beschränkten Möglichkeiten internationaler Friedensmissionen (UNO, KSZE/OSZE), Rußlands Bemühungen zur Sicherung seiner Einflußsphäre.

Bis zur Machtübernahme des protürkischen Präsidenten Eltschibey in Aserbaidschan im Sommer 1992 unterstützte Rußland im Karabach-Konflikt politisch und militärisch den Standpunkt Aserbaidschans. Da die armenische Position in diesem Konflikt von keinem Drittstaat unterstützt wurde, fiel es Moskau leicht, gleichzeitig auch als Schutzmacht Jerewans aufzutreten und Armenien in die GUS einzugliedern. Während der Präsidentschaft Eltschibeys, d.h. solange Baku eine prowestliche und antirussische Politik verfolgte und türkische Militärhilfe empfing, konzentrierte Moskau seine Hilfsmaßnahmen auf Armenien. Dies trug zu militärischen Erfolgen der Armenier bei und ermöglichte die Schaffung eines Korridors zwischen Karabach und Armenien. Die militärischen Niederlagen Aserbaidschans führten wiederum im Sommer 1993 zum Sturz des antirussischen Präsidenten Eltschibey. Das neue Alijew-Regime Aserbaidschans kehrte unter die Obhut Moskaus zurück und trat der GUS bei. So gelang es Rußland, mit Hilfe des Krieges um Karabach seine Einflußsphäre im Transkaukasus zu festigen, seine militärische Präsenz in Armenien und Aserbaidschan aufrechtzuerhalten und im Karabach-Konflikt - als einzig relevanter Machtfaktor der Region - als Vermittler aufzutreten.

Zunächst gestaltete sich der Karabach-Konflikt als innere Angelegenheit der UdSSR. Am Anfang stand ein Beschluß des Obersten Sowjets des Autonomen Gebietes Berg-Karabach (Hauptstadt Stepankert) vom 20.2.1988, sich der Unionsrepublik Armenien anzuschließen. Am 15. Juni stimmte der Oberste Sowjet Armeniens dem Anschlußbegehren Karabachs zu. Der Oberste Sowjet Aserbaidschans lehnte die Übergabe Karabachs an Armenien jedoch am 17. Juni ab. Daraufhin erklärte am 12. Juli der Oberste Sowjet von Berg-Karabach den Austritt aus der Unionsrepublik Aserbaidschan. Im September 1988 verhängte Gorbatschow den Ausnahmezustand über das Autonome Gebiet Berg-Karabach, der erst am 4. Juli 1991 aufgehoben wurde.

Am Vorabend des Zerfalls der UdSSR war für Baku die Karabach-Frage eine innere Angelegenheit Aserbaidschans und keine Angelegenheit der Moskauer Zentrale. Inzwischen verzichtete auf der Gegenseite die neue armenische Elite unter Präsident Ter-Petrosjan auf den Anspruch, Karabach Armenien anzugliedern. Im Zuge der Souveränitätswelle auf dem Territorium der UdSSR - nach dem gescheiterten Moskauer Putschversuch vom August 1991 - proklamierte auch Berg-Karabach seine Unabhängigkeit. Am 23. September 1991 unterzeichneten Rußland, Kasachstan, Armenien und Aserbaidschan ein Abkommen, das in der Folge jedoch nicht realisiert wurde. Danach sollten die vier Republiken bis zur Durchführung von freien Wahlen gemeinsam die Souveränität über Karabach ausüben. Am 1. Januar 1992 sollte ein Waffenstillstand in Kraft treten. Baku und Jerewan waren sich jedoch nur in einem Punkt einig: Die in Karabach stationierten Sowjettruppen sollten baldmöglichst durch "Blauhelme" der UNO abgelöst werden.

Nach dem Untergang der UdSSR im Dezember 1991 kam es zur Internationalisierung des Karabach-Konfliktes. Zunächst trat Iran auf der transkaukasischen Bühne mit erfolglosen Vermittlungsversuchen in Erscheinung. Die UNO und die KSZE wurden auf den Plan gerufen, da ein offener Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan auszubrechen drohte. Die Türkei engagierte sich an der Seite Aserbaidschans, Frankreich an der Seite Armeniens. Am 20. Februar 1992 fanden in Moskau - ergebnislose - Gespräche zwischen Rußland, Armenien und Aserbaidschan statt. Baku lehnte die Teilnahme einer Delegation aus Karabach an den Verhandlungen ab. Moskau schlug vor, UN-"Blauhelme" nach Karabach zu entsenden, die später durch GUS-Friedenstruppen abgelöst werden sollten. Karabach akzeptierte nur die GUS-Friedenstruppen und lehnte die Entsendung von UN-"Blauhelmen" von vornherein ab. Auch die USA lehnten den Einsatz von UN-"Blauhelmen" kategorisch ab. Frankreich schlug die Aktivierung der KSZE vor. Das UNO-Engagement bei der Lösung des Karabach-Konflikts wurde somit auf Eis gelegt, obwohl Armenien noch im Frühjahr 1992 auf der Beteiligung internationaler UNO-Friedenstruppen beharrte. Gleichzeitig verlangte Jerewan den Abzug der Sowjettruppen des Transkaukasischen Militärbezirks, die in GUS-Streitkräfte umgewandelt worden waren (später russische Streitkräfte).

Anstelle der UNO wurde nunmehr die KSZE aktiv, nachdem Armenien und Aserbaidschan im Januar 1992 in diese Organisation aufgenommen worden waren. Da die Arbeitsmethoden und das Instrumentarium der KSZE zur Schlichtung von Konflikten wie dem Krieg in Karabach untauglich sind, hat dieses Gremium bislang nichts Substantielles zur Beilegung des Konfliktes beitragen können. Im Februar 1992 entsandte die KSZE eine 10köpfige Beobachterdelegation - für nicht mehr als fünf Stunden - nach Karabach, um festzustellen, ob dort gegen die KSZE-Prinzipien verstoßen werde. Auch die KSZE-Friedenskonferenz vom August 1992 in Rom ging ergebnislos zu Ende. Nach seinem GUS-Beitritt ersuchte Armenien das System für kollektive Sicherheit der GUS um Hilfe, während der neue aserbaidschanische Präsident Eltschibey sich der Türkei und dem Westen zuwandte. Auf Vermittlung Rußlands unterzeichneten Armenien und Aserbaidschan am 19. September 1992 in Sotschi ein zweimonatiges Waffenstillstandsabkommen und am 25. September ein dazugehöriges Protokoll, das u.a. die Entsendung von 250 Militärbeobachtern aus Rußland, Belarus, Kasachstan, Georgien und der Ukraine vorsah. Die Vereinbarungen wurden jedoch nicht eingehalten. Die Vermittlungsversuche der KSZE und der GUS waren schon allein deshalb von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil es der rechtmäßigen und demokratisch gewählten Führung der Armenier von Berg-Karabach verwehrt war, sich an den Verhandlungen mit einer eigenen Delegation zu beteiligen.

Nach den zaghaften - erfolglosen - Vermittlungsversuchen der KSZE und der GUS sowie der Inaktivität des UNO-Sicherheitsrates kam es 1993 zu einer Zuspitzung des Karabach-Konfliktes. Angesichts der einseitigen Hinwendung Aserbaidschans zur Türkei und zum Westen konnte sich das christliche Armenien gegenüber der Bedrohung durch die islamischen Turkvölker nur wieder - wie in den letzten 75 Jahren - auf die Schutzmacht Rußland stützen. Moskau ergriff die Gelegenheit, um auf dem Weg über Armenien erneut im Transkaukasus Fuß zu fassen. Die Führer der von keinem Staat anerkannten unabhängigen Republik Karabach erkannten gleichzeitig, daß sie nur durch vollendete Tatsachen - aufgrund militärischer Erfolge - eine Chance haben konnten, als politischer Machtfaktor und gleichberechtigter Verhandlungspartner akzeptiert zu werden. Nachdem die aserbaidschanischen Truppen einen Teil von Nord-Karabach besetzt hatten, begannen die Selbstverteidigungstruppen Karabachs eine Gegenoffensive und eroberten bis zum Herbst 1993 insgesamt sieben Bezirke (Kelbadschar, Sangelan, Latschin, Dschebrail, Kubatli, Fisuli und Agdam) auf aserbaidschanischem Territorium. Die Türkei und Iran reagierten mit einem Truppenaufmarsch entlang der Grenzen zu Aserbaidschan und Armenien. Trotz militärischer Erfolge wartete die Republik Karabach jedoch vergeblich darauf, sowohl von Baku als auch von der internationalen Staatengemeinschaft (KSZE) als eigenständiger Verhandlungspartner anerkannt zu werden. Rußlands Präsident Jelzin äußerte sich besorgt über die "Ausweitung der Kampfhandlungen über die Grenzen des Karabach-Konfliktes hinaus" (ITAR-TASS, 9. April 1993). Moskau war - und ist - an einem "totalen" Sieg der Armenier nicht interessiert, weil Armenien dann auf die russische Schutzmacht nicht mehr angewiesen wäre. Andererseits zeigte Armenien wenig Interesse an einer von Moskau betriebenen Ablösung des protürkischen aserbaidschanischen Präsidenten Eltschibey durch einen prorussischen Machthaber, da abzusehen war, daß sich in diesem Fall Moskaus Prioritäten erneut auf das Ölland Aserbaidschan verlagern würden.

Vor dem Hintergrund dieser Interessenverflechtungen wurde ein amerikanischer Plan (US-Nahostexperte Globe) ins Spiel gebracht, der - durch Gebietsaustausch - Korridore zwischen Armenien und Karabach sowie zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan vorsah. Da daraus nur die Türkei Nutzen gezogen hätte, wurde der Plan von allen Konfliktparteien abgelehnt. Daraufhin machte der damalige Oberbefehlshaber der GUS-Streitkräfte, Marschall Schaposchnikow, den ebenso unrealistischen Vorschlag, entweder den Status Karabachs als autonome Provinz innerhalb Aserbaidschans wiederherzustellen oder die autonome Provinz Karabach unter die Verwaltung Rußlands zu stellen.

Neue Ansätze zur Regelung des Karabach-Konfliktes ergaben sich bei einem Zusammentreffen der Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans, Ter-Petrosjan und Eltschibey, anläßlich der Beisetzung des verstorbenen türkischen Präsidenten Özal am 23. April 1993 in Ankara. Eine trilaterale Friedensinitiative Rußlands, der Türkei und der USA vom 3. Mai 1993 sah u.a. vor: Abzug der Armenier aus dem besetzten aserbaidschanischen Bezirk Kelbadschar, Waffenstillstand für zwei Monate, Vorbereitungsgespräche in Genf sowie Aufnahme der Verhandlungen im Rahmen der Minsker Gruppe der KSZE, der elf Staaten angehören. Armenien und Aserbaidschan stimmten diesem Friedensplan zu. Abgelehnt wurde er jedoch durch das mehrheitlich von den Daschnaken besetzte Parlament der Republik Karabach mit der Begründung, der Plan enthalte keine Sicherheitsgarantien für die Bevölkerung und keine Klausel für die Aufhebung der Wirtschaftsblockade von Karabach. Außerdem lehnte Karabach die Türkei als Vermittler ab.

Auch die Resolutionen 822 und 853 des UN-Sicherheitsrates vom 30. April und 19. August 1993, in denen die Offensive armenischer Truppen verurteilt wurde, wurde - wegen "Einseitigkeit" - sowohl von Armenien als auch von Karabach abgelehnt. Begründung: Sie enthielten keine Sicherheitsgarantien für die Bevölkerung Karabachs und ignorierten das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts. Auch Baku kritisierte die UNO-Resolutionen, weil sie Armenien nicht als "Aggressor" verurteilt hatten. Aserbaidschan sprach sich für eine Konfliktlösung ausschließlich im Rahmen der KSZE aus.

Inzwischen nahm eine KSZE-Gruppe in Karabach die Arbeit auf, um die Entsendung von 600 KSZE-Beobachtern vorzubereiten. Die geplante Minsker Friedenskonferenz konnte jedoch nicht stattfinden, weil Karabach vor dem Rückzug aus den eroberten Gebieten die Sicherung des Latschin-Korridors durch internationale Friedenstruppen verlangte. Außerdem drohte die KSZE-Friedenskonferenz an der Statusfrage zu scheitern. Die in der Minsker Gruppe der KSZE vertretenen westlichen Staaten weigerten sich, die Republik Karabach als gleichberechtigten Verhandlungspartner anzuerkennen. Rußland vollzog im Mai 1993 einen Positionswechsel und sprach sich für dreiseitige Verhandlungen mit Armenien, Aserbaidschan und Karabach aus (vgl. Izvestija, 5. Mai 1993). Durch Instrumentalisierung des Karabach-Konflikts gelang es Moskau im Sommer 1993, einen Machtwechsel in Baku herbeizuführen. Unter dem neuen Präsidenten Alijew trat Aserbaidschan der GUS und ihrem kollektiven Sicherheitssystem bei und kündigte den Ölvertrag mit einem westlichen Konsortium, der ohne russische Beteiligung abgeschlossen worden war. Nunmehr war Aserbaidschan, das den Krieg zuvor als direkte Aggression Armeniens betrachtet hatte, auch zu Verhandlungen mit Karabach bereit. In Moskau dachte man an einen neuen Status Karabachs als Teil einer Konföderation (vgl. Nezavisimaja Gazeta, 10. September 1993, S. 3).

Rußland übernahm nunmehr die Initiative im Karabach-Konflikt. Unter der Schirmherrschaft des Kreml fanden am 15. September 1993 in Moskau erstmals direkte Verhandlungen zwischen Aserbaidschan und Karabach statt. Auch die Minsker KSZE-Gruppe bereitete auf ihren Sitzungen im September in Paris und November in Wien neue Friedenspläne vor. Vorgesehen war der Rückzug der Armenier aus Kubatli, Agdam, Fisuli, Dschebrail und Kelbadschar sowie der Austausch von Geiseln und Gefangenen. Gleichzeitig sollten die Erdgasleitungen, Straßen- und Eisenbahnverbindungen zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder geöffnet sowie Anfang November 1993 KSZE-Beobachter in die Konfliktzonen entsandt werden. Armenien und Karabach stimmten dem zu. Aserbaidschan lehnte jedoch ab, weil dabei nicht die Rückgabe des Latschin-Korridors vorgesehen war. Die auf den - zunächst gemeinsamen - Plänen von Rußland und KSZE basierende Mission des russischen Sonderbotschafters Kasimirow war jedoch schon allein deshalb zum Scheitern verurteilt, weil zwei verschiedene Adressaten angesprochen waren: die Selbstverteidigungstruppen von Karabach (Rückzug aus den besetzten Gebieten) und Armenien (Aufhebung der Wirtschafts- und Verkehrsblockade). Es fehlte auch die Erkenntnis, daß die Armenier Karabachs unter keinen Umständen bereit waren, sich wieder unter die Oberhoheit Aserbaidschans zu begeben. Angesichts der Pogrome gegen Armenier erschienen die von Baku angebotene Kulturautonomie sowie Sicherheitsgarantien für die Karabach-Bevölkerung fragwürdig.

Die KSZE kam mit ihrem Vermittlungsauftrag im Karabach-Konflikt nicht weiter. Der Vorsitzende der Minsker Gruppe, Mario Raffaelli, trat im November 1993 zurück. Außer Rußland und der Türkei war kein Land bereit, sich an einer KSZE-Friedenstruppe zu beteiligen. Armenien lehnte die Beteiligung der Türkei kategorisch ab, befürwortete dagegen die Teilnahme einer russischen oder GUS-Friedenstruppe. Die KSZE hatte die Entsendung einer russischen Friedenstruppe schon auf ihrer Pariser Tagung im September 1993 abgelehnt. Auf der KSZE-Außenministertagung im November 1993 beanspruchte Rußland eine Sonderrolle. Demnach sollten die Kosten für den Einsatz russischer Friedenstruppen unter den KSZE-Mitgliedsstaaten geteilt werden. Die Reaktion auf die russischen Vorschläge war negativ. Seitdem setzten die KSZE und Rußland ihre Vermittlungsversuche im Karabach-Konflikt getrennt fort.

Die vom russischen Verteidigungsminister Gratschow sowie seinen Amtskollegen aus Armenien, Aserbaidschan und Karabach am 18. Februar und 29. April 1994 in Moskau unterzeichneten Protokolle sowie das auf der GUS-Interparlamentarischen Versammlung vom 9. Mai 1994 in Bischkek vereinbarte Protokoll zwischen den Parlamentsdelegationen Armeniens, Aserbaidschans und Karabachs über einen Waffenstillstand blieben Makulatur. Die Mitte Dezember 1993 begonnene aserbaidschanische Offensive wurde fortgesetzt. Am 16. Mai 1994 wurde in Moskau zwischen dem russischen Verteidigungsminister Gratschow und seinen Amtskollegen aus Armenien und Karabach ein neues Protokoll über die etappenweise Regelung des Karabach-Konflikts unterzeichnet. Der Verteidigungsminister Aserbaidschans unterzeichnete das Dokument nicht. Die Vereinbarungen sahen vor: Feuereinstellung ab 17. Mai, Bildung einer 5-10 km breiten Pufferzone zwischen den Kriegsparteien, Stationierung einer 2.000 Mann starken russischen Friedenstruppe und Errichtung von 49 Beobachtungsposten in der Pufferzone. Dieser sog. Gratschow-Plan stieß nicht nur auf den Widerstand Aserbaidschans.

Auch die USA lehnten einen Alleingang Rußlands ohne Koordinierung mit der KSZE und der UNO ab. Der russische Friedensplan sollte nach Ansicht Washingtons im Rahmen der Minsker Gruppe der KSZE ausgeführt und die Stationierung von GUS-Friedenstruppen unter der Kontrolle internationaler Beobachter erfolgen (vgl. Nezavisimaja Gazeta, 24. Mai 1994). Gleichzeitig stellte der US-Botschafter in Aserbaidschan, Richard Kauzlarich, auf einer Pressekonferenz in Baku klar, daß Washington nicht das Selbstbestimmungsrecht, sondern das "Prinzip der territorialen Integrität und Souveränität von Staaten" unterstützt. Er stellte Aserbaidschan die Meistbegünstigung im Handel mit den USA in Aussicht, falls Baku den Ölvertrag mit den US-Konzernen unterzeichnet (Turan, Baku, 19. Mai 1994).

Aserbaidschan tendierte unter diesen Umständen im Sommer 1994 dazu, eher den KSZE-Friedensplan als den russischen Plan zu unterzeichnen. Im Unterschied zum russischen Plan sah der KSZE-Plan Beobachter nicht nur aus GUS-Ländern, sondern auch aus anderen Staaten vor, die nicht nur die Einhaltung des Waffenstillstands, sondern auch die Operationen der Friedenstruppen beobachten sollten. Letztendlich hatten jedoch weder Aserbaidschan noch Armenien oder Karabach gegen russische bzw. GUS-Friedenstruppen unter einem UNO- oder KSZE-Mandat etwas einzuwenden.

Einwände gegen die Aufstellung einer Friedenstruppe, die ausschließlich aus russischen bzw. GUS-Soldaten besteht, hatten vor allem die USA, nachdem im September 1994 der revidierte Ölvertrag Aserbaidschans mit den US-Konzernen unterzeichnet worden war. Nicht zuletzt auf Druck Washingtons beschloß die KSZE, eine internationale Friedenstruppe aufzustellen. Moskau warf "einigen Mitgliedsstaaten" der Minsker KSZE-Gruppe vor, den Karabach-Konflikt als Instrument zur Durchsetzung ihrer eigenen "geopolitischen Interessen" zu benutzen (Interfax, 5. Oktober 1994). Damit nahm die Rivalität zwischen der KSZE und Moskau offene Formen an. Es gelang Moskau nicht, seine Vorstellungen durchzusetzen und eine westliche Präsenz im Transkaukasus zu verhindern. Während Rußland sich noch vergeblich um ein eigenes "Großes Politisches Abkommen" mit den Konfliktparteien bemühte, wurde auf dem KSZE-Gipfel im Dezember 1994 in Budapest die Schaffung einer 3.000 Mann starken multinationalen Friedenstruppe beschlossen. Dabei soll Rußland nicht mehr als 30% der Soldaten stellen. Die für den Karabach-Konflikt zuständige Minsker Gruppe der KSZE/OSZE arbeitet künftig unter einem russisch-schwedischen Ko-Präsidium. Der Minsker Gruppe gehören zur Zeit Italien, Ungarn, Schweden, Belarus, Frankreich, Rußland, die Türkei, die Schweiz und die USA sowie Armenien und Aserbaidschan an. Die Frage, ob es Moskau erneut gelingen wird, die OSZE in den Hintergrund zu drängen und die OSZE-Friedenssicherung in Karabach zu hintertreiben, war Anfang 1995 noch offen.

Damit ist zur Zeit ungewiß, ob eine internationale OSZE-Friedenstruppe, wie geplant, zum Einsatz kommt. Ihre Entsendung wurde von einer "angemessenen" Resolution des UN-Sicherheitsrates sowie dem Abschluß einer neuen Waffenstillstandsvereinbarung zwischen den Konfliktparteien abhängig gemacht - obwohl der von Moskau vermittelte Waffenstillstand vom Mai 1994 bis jetzt weitgehend eingehalten wurde. Die "Moskauer Erklärung" der Minsker Gruppe vom 10. Februar 1995 über die "Vorbereitungen" zur Entsendung von OSZE-Vertretern klang wenig ermutigend. Im Rahmen dieser ersten OSZE-Friedensmission im Frühjahr 1995 ist zunächst die Entsendung von ca. 300 unbewaffneten Beobachtern in das Krisengebiet geplant. Im Sommer 1995 sollen ihnen mindestens 3.000 bewaffnete Friedenssoldaten folgen, deren Einsatz für die ersten sechs Monate 40 Mill. Dollar kosten würde (Reuters, 2. Dezember 1994). Bis Ende 1994 hatten die OSZE-Mitgliedsstaaten kaum mehr als 1.000 Soldaten angeboten. Davon waren knapp 500 von der Türkei bereitgestellt worden. Eine türkische Teilnahme an der Friedenstruppe wird jedoch von Armenien und Karabach abgelehnt, weil sie die Türkei, die Aserbaidschan mit Waffen und Militärberatern unterstützt und das armenische Territorium blockiert, nicht als neutrale Partei betrachten.

Selbst wenn die Probleme im Zusammenhang mit der Aufstellung der multinationalen OSZE-Friedenstruppe gelöst würden, ist ihr Einsatz noch nicht gesichert, solange eine Reihe von Einzelfragen ungeklärt bleibt. Dazu gehören: der Zeitplan für den Abzug der Truppen Karabachs aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten, die Aufhebung der Wirtschafts- und Verkehrsblockade gegen Armenien und Karabach, der von Baku geforderte Rückzug der Truppen Karabachs aus Schuscha und Latschin (Korridor), der von Karabach geforderte Rückzug Bakus aus dem von Armeniern bewohnten aserbaidschanischen Bezirk Schahumjan.

Auch wenn die genannten Einzelfragen gelöst werden können, bleibt noch das Flüchtlingsproblem auf der Tagesordnung. Die Häuser der Flüchtlinge wurden weitgehend zerstört, und sie können schon aus diesem Grund nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Aus Aserbaidschan wurden mehr als 350.000 Armenier vertrieben. Die Zahl der aserbaidschanischen Flüchtlinge beträgt mehr als 1 Mill., davon ca. 200.000 aus Armenien, 50.000 aus Karabach und 750.000 aus den von Armeniern besetzten aserbaidschanischen Gebieten.

Sollte das "Wunder" geschehen und die OSZE-Friedensmission alle diese Probleme lösen, so bleibt noch immer die große Frage des Status von Berg-Karabach. Zweifel sind um so mehr angebracht, als es in den USA nicht unmaßgebliche Meinungen gibt, die darauf hinauslaufen, daß eine Instabilität im Transkaukasus immer noch besser sei als eine Rückkehr Rußlands in die Region. Umgekehrt gilt dies natürlich auch aus der Sicht Moskaus: Instabilität wäre besser als eine Verstärkung der westlichen Präsenz in der Region. Hinzu kommt, daß die Truppen von Berg-Karabach mehr als 20% des aserbaidschanischen Territoriums besetzt halten und es in der Republik Berg-Karabach seit Dezember 1994 eine Präsidialregierung gibt. Erster Präsident der Republik wurde Robert Kotscharjan. Aserbaidschan betrachtet die Republik Berg-Karabach nach wie vor als illegal und als armenisches Besatzungsgebiet (Interfax, 26. Dezember 1994). Armenien vertritt dagegen die Auffassung, daß der Konflikt solange nicht gelöst werden kann, bis Berg-Karabach als souveräner Staat anerkannt ist. Angesichts der geschaffenen Fakten ist zumindest eine de facto-Anerkennung von Karabach kaum zu umgehen. Schließlich wird seit fünf Jahren mit den "bosnischen Serben", den "kroatischen Serben" und den "serbischen Serben" und ihren Republiken verhandelt, wobei die Medien besonders auf die Betonung der Unterschiede (die es gar nicht gibt) achten.

Es ist zu erwarten, daß der Westen und auch die OSZE bei der Lösung des Status von Karabach im Sinne des Öllandes Aserbaidschan vom Prinzip der territorialen Integrität der Staaten ausgehen und das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts keine Berücksichtigung findet. Bestenfalls wird die OSZE eine Autonomie Berg-Karabachs innerhalb Aserbaidschans mit einem Verbindungsweg zu Armenien anbieten. Auch Moskau kann es sich kaum leisten, im Gegensatz zum Westen, das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier zu unterstützen, schon weil zur Zeit die Republik Tschetschenien gegen Rußland - ähnlich wie die Republik Karabach gegen Aserbaidschan - einen Unabhängigkeitskrieg führt. Es zeigt sich abermals, daß westliche Politiker einen großen Fehler begangen haben, als sie die Unionsrepubliken der zerfallenen UdSSR bedingungslos diplomatisch-völkerrechtlich anerkannt haben. Notwendig wären zuvor Revisionen der künstlichen, von Stalin willkürlich gezogenen Verwaltungsgrenzen gewesen, die im kommunistischen Einheitsstaat keine Rolle spielten. Die Folgen sind nun unzählige Konflikte, wie z.B. um Karabach, die von der OSZE, so wie sie gegenwärtig beschaffen ist, nicht gelöst werden können.

Die aktuelle Einschätzung des Karabach-Konfliktes erlaubt zwei Feststellungen:

1. Das Aufeinanderprallen von verschiedenen nationalen, Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen der Großmächte (USA, Rußland), der Regionalmächte (Türkei, Iran) sowie der Eigeninteressen internationaler Organisationen (UNO, OSZE, GUS) in einer geopolitisch und strategisch wichtigen Region und im Ölland Aserbaidschan (wo viele interessierte Parteien mitreden wollen) erschweren die Lösung des Karabach-Konfliktes.

2. Da aus heutiger Sicht davon auszugehen ist, daß die Republik Karabach unter keinen Umständen bereit sein wird, sich der Verwaltung Aserbaidschans zu unterstellen, ist eine politische Lösung des Konflikts mit friedlichen Mitteln nur unter Gewährung des Selbstbestimmungsrechts möglich.

Wären Armenien und Aserbaidschan auf sich allein gestellt, d.h. ohne äußere Einwirkungen, Einflüsse und Eigeninteressen von Drittstaaten, so hätten die Präsidenten Ter-Petrosjan und Alijew den Karabach-Konflikt nach fünf Jahren Krieg bereits friedlich beilegen können.


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