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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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Zwischen NATO-Reform und europäischer Integration

Für die alte Bundesrepublik Deutschland war die Mitgliedschaft in der NATO sicherheitspolitisch konstitutiv. Sie war conditio sine qua non jeglicher sicherheitspolitischer Überlegung. Adenauer hatte die Bundesrepublik Mitte der 50er Jahre als weitgehend gleichberechtigtes Mitglied in die internationale Gemeinschaft zurückgeführt, indem er einen klaren Kurs der Westintegration verfolgte. Wesentlicher Bestandteil dieser Politik war der NATO-Beitritt 1955. Nur auf dieser Grundlage war der Aufbau einer neuen deutschen Armee, der Bundeswehr, nur zehn Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus durchsetzbar. Die NATO bot sowohl dem deutschen als auch dem internationalen Publikum die Garantie, daß die Bundesrepublik militärisch eingebunden und somit zu militärischer Aggression unfähig sein würde. Sie bot im Kalten Krieg Schutz für die Bundesrepublik, aber eben auch vor ihr. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde die NATO bzw. die Mitgliedschaft in ihr von einer deutlichen Mehrheit durchgängig befürwortet, selbst auch zu Zeiten des Streits um die Stationierung amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen zu Beginn der 80er Jahre. Anders als Japan ging die Bundesrepublik also nicht den Weg einer versuchten Demilitarisierung, sondern der militärischen Integration. Dies ging - und dies war wiederum eine Parallele zur Entwicklung in Japan - einher mit der Stationierung ausländischer Streitkräfte auf deutschem Boden. Anders als in Japan handelte es sich dabei jedoch nicht lediglich um amerikanische Truppen, sondern hinzu kamen auch britische, französische, belgische, niederländische und kanadische.

Vor diesem Hintergrund konnte es nicht überraschen, daß nicht nur die damalige Sowjetunion, sondern auch die westlichen Partner im Zuge der 2+4-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung größten Wert darauf legten, daß auch das vereinigte Deutschland in der NATO integriert blieb. Nur für das Territorium der ehemaligen DDR wurden einige Sonderregelungen vereinbart. So dürfen deutsche Einheiten dort bis Ende 1994, also bis zum Abzug der ehemaligen Sowjettruppen aus diesem Gebiet, nicht dem NATO-Oberbefehl unterstellt und ausländische Streitkräfte dürfen dort überhaupt nicht stationiert werden. [ Vgl. Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 109 vom 14. September 1990, S. 1153-1160; Elizabeth Pond, "Die Entstehung von 'Zwei-plus-Vier'", in: Europa-Archiv Nr. 21/1992, S. 619-630.]

Für die Regierung Kohl mußte es darauf ankommen, die nach dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Vereinigung anstehende Reform der NATO aktiv mitzugestalten. Drei Gründe waren dafür ausschlaggebend: erstens sollte der amerikanischen Bush-Administration, die der Bundesrepublik schon im Mai 1989 die Rolle der ‘partnership in leadership’ angeboten hatte [ Vgl. Rede des amerikanischen Präsidenten George Bush, anläßlich seines Besuchs in der Bundesrepublik Deutschland am 31. Mai 1989 in Mainz über die Ost-West-Beziehungen, in: Europa-Archiv Nr. 12/1989, S. D 356-D 361.] , gezeigt werden, daß Deutschland weiterhin und verstärkt gewillt war, im europäisch-atlantischen Beziehungsgeflecht eine herausragende Rolle zu spielen; zweitens mußte dem Wunsch der Sowjetführung unter Gorbatschow Rechnung getragen werden, die NATO zu einem militärisch nicht bedrohlichen, eher politischen und mit dem Osten kooperationsbereiten Bündnis zu reformieren und schließlich drittens war die militärische Umorganisation des atlantischen Bündnisses nach dem Ende der klassischen Ost-West-Konfrontation zwingend, machten Strukturen der alten Vorneverteidigung mitten im nunmehr vereinigten Deutschland keinen Sinn mehr.

Während des Jahres 1991 hat sich die NATO eine neue militärische Strategie zugelegt. [ Vgl. Philipp Borinski, Die neue NATO-Strategie. Perspektiven militärischer Si cherheitspolitik in Europa, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Report Nr. 1/1993 (Frankfurt a.M.). Siehe auch die Dokumente zur neuen NATO-Strategie in Europa-Archiv Nr. 2/1992, S. D 29-D 88.] Ihrzufolge werden Kernwaffen nur noch als „weapons of last resort" angesehen, ohne daß das Bündnis jedoch auf die Möglichkeit des Ersteinsatzes von Nuklearwaffen verzichtet hat. Folgerichtig hat die NATO daher mehr als 80 % ihrer Kernwaffen, die nach der Implementierung des INF-Vertrages noch in Europa verblieben, von dort abgezogen. Übriggeblieben sind lediglich ca. 700 atomare Fliegerbomben, eine drastische Reduzierung, wenn man bedenkt, daß die NATO vor zehn Jahren noch etwa zehnmal so viele Nuklearwaffen in Europa bereithielt. Vor allem Deutschland wird durch diese Entwicklung nuklear entlastet.

Große Veränderungen finden auch im Bereich der konventionellen Streitkräftestrukturen statt. Auch hier kommt es zu - von den Bündnispartnern allerdings häufig einseitig angekündigten - Reduzierungen. So werden die USA ihre Truppenpräsenz in Europa von ehemals ca. 250.000 Soldaten auf ca. 100.000 vorwiegend in Deutschland stationierte Soldaten reduzieren. Die Vorneverteidigung und die „NATO-Schichttorte", d.h. die Stationierung von Streitkräften verschiedener Bündnispartner entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, werden aufgelöst. Stattdessen wird es in Zukunft drei Arten von Streitkräften geben: schnelle Eingreifverbände mit hohem Präsenzgrad, Hauptverteidigungsstreitkräfte, die zum großen Teil gekadert sind, sowie Reserveeinheiten.

Der wichtigste NATO-Verband ist das von einem britischen General kommandierte „Rapid Reaction Corps", das am 1. Oktober 1992 aus der Taufe gehoben wurde und ab 1995 voll einsatzbereit sein soll. Sein multinationaler Kommandostab befindet sich derzeit in Bielefeld. Ihm zugeordnet sind eine in Deutschland stationierte schwere britische Panzerdivision, die durch eine in Großbritannien stationierte leichte Infanteriedivision ergänzt werden kann. Hinzu kommen zwei multinationale Divisionen bestehend aus deutschen, niederländischen und belgischen bzw. griechischen, italienischen und türkischen Einheiten, die sich derzeit im Aufbau befinden. Zur Luftkomponente tragen die USA, Deutschland, Großbritannien, Italien und die Niederlande bei. Der Beitrag der Vereinigten Staaten zum „Rapid Reaction Corps" fällt recht gering aus. Neben der erwähnten zur Verfügungstellung von in Deutschland stationierten Luftwaffeneinheiten kann eine ebenfalls in Deutschland stationierte Division zugeordnet werden. Wichtig ist allerdings die amerikanische logistische Unterstützung für das gesamte Korps, das insgesamt ca. 100.000 Soldaten umfassen kann. Es ist zur Verteidigung des NATO-Gebietes vorgesehen, wo immer auch eine Aggression erfolgen mag, könnte aber auch im Falle eines entsprechenden Auftrages der UNO und falls der NATO-Rat dem zustimmte „out-of-area" eingesetzt werden.

Auf der Ebene der Hauptverteidigungsstreitkräfte werden binationale Korps eingerichtet. Die Notwendigkeit zu einem solchen Vorgehen ergab sich aus verschiedenen Gründen: Der Zusammenhalt des Bündnisses sollte bekräftigt werden, nationale Truppenkontingente sollten eingebunden werden, wobei sich der Blick vor allem auf die Bundeswehr richtete, und die kleineren Bündnismitglieder, deren Streitkräfte in einem zunehmenden Schrumpfungsprozeß begriffen sind, sollten die Möglichkeit erhalten, sich auf Korpsebene zu beteiligen. Künftig wird es ein deutsch-amerikanisches Korps, ein amerikanisch-deutsches Korps, ein deutsch-niederländisches Korps sowie ein deutsch-dänisches Korps geben. Hinzu kommt das rein deutsche Korps auf dem Territorium der ehemaligen DDR.

Mit der Binationalität ist es allerdings bei allen Korps der Hauptverteidigungskräfte nicht weit her. Die den Korpsstäben zugeordneten nationalen Divisionen können national geführt werden. So könnten beispielsweise die Vereinigten Staaten ihre in Deutschland verbleibenden Divisionen jederzeit national geführt in einem erneuten Golf-Krieg-Szenario zum Einsatz bringen.

Insgesamt erscheint es nicht als übertrieben, wenn nach dem Ende der traditionellen Ost-West-Konfrontation ein gewisser Trend hin zur Renationalisierung innerhalb der NATO konstatiert wird. [ Vgl. Jan Willem Honig, "The 'Renationalization' of Western European Defense", in: Security Studies (Herbst 1992), S. 122-138.] Ein erstes deutliches Signal in diese Richtung setzte Kanada, als es im Februar 1992 ohne ausreichende Konsultation der Bündnispartner entschied, seine dauernde Truppenpräsenz in Deutschland bis 1994 zu beenden. Wie schon erwähnt nehmen auch andere NATO-Mitglieder jedoch Streitkräftereduzierungen weitgehend einseitig vor. Auch daß Deutschland - wie wir gleich noch sehen werden - offensichtlich ohne ausreichende Rücksprache mit seinen NATO-Partner im Mai 1992 gemeinsam mit Frankreich das Euro-Korps aus der Taufe hob kann unter diesem Blickwinkel betrachtet werden. Ob die NATO in die neue Rolle eines „Auftragnehmers" der Vereinten Nationen oder ggf. auch der KSZE hineinwachsen wird bleibt abzuwarten. Die Debatte um vorgesehene Luftangriffe auf serbische Stellungen rund um Sarajevo hat eher gezeigt, wie unterschiedlich die nationalen Interessenlagen innerhalb der NATO derzeit sind.

Ob sich der deutsche Einfluß im Zuge der NATO-Reformen vergrößert hat, ist strittig. Einerseits ist Deutschland an allen NATO-Korps beteiligt und übt entsprechenden Einfluß aus. Andererseits ist das Kommando des wichtigsten NATO-Verbandes, des „Rapid Reaction Corps", zur Enttäuschung der Bundesregierung Großbritannien zugesprochen worden. Die Briten nutzten dabei die deutsche politische Schwäche nach dem Golf-Krieg geschickt aus. Der Bundesregierung gelang es lediglich durchzusetzen, daß dem kommandierenden britischen General ein multinational besetzter Kommandostab zur Seite gestellt wurde. [ Vgl. Christian Tuschhoff, "Die politischen Folgen der Streitkräfte-Reform der NATO", in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft B 15-16/1993 vom 9. April 1993, S. 28-39, der je doch meiner Ansicht noch die Vergrößerung des deutschen Einflusses in der NATO zu deutlich hervorhebt.]

Um der vor allem seitens der Sowjetunion eingeforderten Politisierung der NATO gerecht zu werden, beschloß das Bündnis während des Gipfel-Treffens in Rom im November 1991 die Gründung eines NATO-Kooperationsrates, der seine konstituierende Sitzung im Dezember desselben Jahres abhielt. [ Vgl. Erklärung über die konstituierende Tagung des Nordatlantischen Koopera tionsrates am 20. Dezember 1991 in Brüssel, in: Europa-Archiv Nr. 2/1992, S. D 87-D 88.] Diese neue Institution geht zurück auf eine Initiative des damaligen amerikanischen Außenministers Baker und seines seinerzeitigen deutschen Amtskollegen Genscher vom Frühjahr 1991. Beiden kam es darauf an, den Osteuropäern deutlich zu machen, daß es die NATO mit der praktischen Kooperation mit ihren ehemaligen Gegnern Ernst meinte. Folglich wurden alle Mitgliedsstaaten des ehemaligen Warschauer Pakts sowie nach deren Auflösung alle Nachfolgerepubliken der Sowjetunion in den NATO-Kooperationsrat aufgenommen. Die Zusammenarbeit erstreckt sich auf Gebiete wie die Entwicklung demokratischer Konzepte der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Militär oder die Umstellung der militärischen Produktion auf zivile Zwecke. Zuletzt hat der NATO-Kooperationsrat im Juni 1993 einen Bericht über die Zusammenarbeit bei friedenserhaltenden Maßnahmen verabschiedet.

All dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die beteiligten Osteuropäer mit dem NATO-Kooperationsrat wenig zufrieden sind. Staaten wie Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei oder auch die baltischen Staaten würden eine volle NATO-Mitgliedschaft einschließlich der entsprechenden Sicherheitsgarantie vorziehen, um Schutz vor den von ihnen nach wie vor als bedrohlich empfundenen Russen zu suchen. Diese selbst setzen lieber auf die Einrichtung eines Sicherheitsrates der KSZE, in dem Rußland selbstverständlich vertreten sein müßte, als auf eine NATO-Institution, in der der russische Einfluß naturgemäß begrenzt bleiben muß.

Für die NATO bestand eine Aufgabe des Kooperationsrates von Anfang an aber gerade darin, den Osteuropäern Zusammenarbeit anzubieten, ohne sie voll in das Bündnis zu integrieren. Würde man nämlich etwa die zentral-osteuropäischen Staaten aufnehmen, so liefe dies auf eine auch im Westen nicht gewünschte Isolierung Rußlands hinaus. Dennoch hat der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe in jüngster Zeit - erstmals während einer Rede vor dem Londoner Institut für Strategische Studien im März 1993 - wiederholt darauf hingewiesen, daß die NATO über eine erweiterte Mitgliedschaft nachdenken müsse. [ Vgl. Volker Rühe, Gestaltung euro-atlantischer Politik - eine "Grand Strategy" für eine neue Zeit, Rede des Bundesministers der Verteidigung anläßlich des "Alastair Buchan Memorial 1993" in London am 26. März 1993 in: Stichworte zur Sicherheitspolitik Nr. 4/1993, S. 22-25; ders., "Gestaltung euro-atlantischer Po litik", in: Europäische Sicherheit Nr. 8/1993, S. 386-388.] Hierin drückt sich das hervorragende deutsche Interesse an der Stabilisierung seiner östlichen Nachbarn aus, das jenseits des Atlantik aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen nicht im gleichen Maße geteilt wird. Washingtons Aufmerksamkeit gilt mehr der Entwicklung in Rußland, dem einzigen Land, das den Amerikanern selbst im Falle eines Scheiterns der Reformpolitik Jelzins gefährlich werden könnte. Allerdings muß es auch im deutschen Interesse liegen, die Gegner Jelzins durch eine NATO-Erweiterung nicht mit neuen anti-westlichen Argumenten zu versorgen. Andererseits sollten die Wünsche der Zentralosteuropäer ernstgenommen werden, damit bei ihnen nicht der Eindruck aufkommt, sie würden wieder als „Pufferzone" angesehen.

Frankreich, das der militärischen Integration des Bündnisses seit 1966 nicht mehr angehört, boykottierte die geschilderten Reformen der NATO. Es wehrte sich zunächst gegen den NATO-Kooperationsrat und zeigte sich auch enttäuscht über den geplanten Aufbau des „Rapid Reaction Corps" der NATO. Paris möchte das Bündnis auf rein militärische Aufgaben beschränkt sehen und geht davon aus, daß seine Tage nach dem Wegfall der traditionellen Bedrohung aus dem Osten ohnehin gezählt sind. Stattdessen setzt die classe politique française auf den europäischen Einigungsprozeß. Ziel dabei ist nicht notwendigerweise die völlige Herausdrängung der Amerikaner aus Europa, aber auf jeden Fall eine starke Relativierung des Einflusses der USA. Gleichzeitig strebt Paris für sich selbst eine herausragende Stellung in einem europäischen Sicherheitssystem an, in das auch das vereinte Deutschland fest eingebunden werden soll. [ Vgl. Frederic Bozo, "France and NATO in the New Era", in: Oliver Thränert (Ed.), Transatlantic Relations in Transition, Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung) 1993, S. 53-58.]

Obwohl sich die Bundesregierung wie geschildert aktiv an den Reformen der NATO beteiligte, forcierte Bonn gleichzeitig die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich im europäischen Kontext. Anscheinend ging es Bundeskanzler Kohl darum zu vermeiden, daß in Paris auch nur der Hauch eines Anscheins entstehen könnte, das vereinigte Deutschland sei in Europa nicht integrationswillig. Dahinter steht die Angst, Deutschlands Nachbarn könnten sich gegen es zusammenschließen, sollten sie zu dem Ergebnis kommen, es nicht einbinden zu können. Hinzu kommt, daß man sich aus deutscher Sicht enttäuscht über den kaum gewachsenen Einfluß in der NATO zeigte. Insbesondere auf konservativer bis national-konservativer Seite mag die Überlegung vorherrschen, daß man in einem Bündnis mit den USA notwendigerweise immer der Juniorpartner bliebe, während man im europäischen Kontext selbst eine Führungsrolle anstreben könne, zumindest im Gleichschritt mit den Franzosen. Genau hier könnte jedoch gleichermaßen die „Sollbruchstelle" der deutsch-französischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit liegen, strebt Paris doch selbst zumindest nicht das Spielen der zweiten Geige an.

Beiden, sowohl Bonn als auch Paris, geht es darum, für den Fall vorzusorgen, daß sich die USA von sich aus aus Europa zurückziehen oder sich bei der Lösung bestimmter Konflikte in Europa wenig interessiert zeigen. Dies mag vor dem Hintergrund des Krieges im ehemaligen Jugoslawien berechtigt sein, andererseits zeigt gerade dieser Konflikt die Unfähigkeit der Europäer auf, ohne amerikanische Führung zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Hinzu kommt, daß die Europäer auf lange Sicht militärisch ohnehin von den USA abhängig sein werden, fehlen ihnen doch die notwendigen Transport- und Aufklärungskapazitäten. Insofern könnte sich ein von den Europäern möglicherweise provozierter amerikanischer Rückzug als kontraproduktiv erweisen und Europa eher weniger handlungsfähig zurücklassen. Daß die europäischen Regierungen sich dazu durchringen könnten, die erforderlichen militärischen Kapazitäten selbst anzuschaffen, kann vor dem Hintergrund der prekären Haushaltslagen vorerst ausgeschlossen werden.

Auf der Ebene der praktischen Politik versuchten Kohl und Mitterrand im Oktober 1991 mit einer „Botschaft zur gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik" nur zwei Monate vor dem EG-Gipfel von Maastricht die EG-Partner auf eine verstärkte Zusammenarbeit im außen- und sicherheitspolitischen Bereich einzuschwören. In Maastricht selbst zeigte sich dann jedoch, daß Länder mit einer eher atlantischen Orientierung wie Großbritannien, die Niederlande, Dänemark und Portugal nicht im gleichen Maße an einer Stärkung der EG-Außen- und Sicherheitspolitik interessiert waren. So wurde der entsprechende Text recht schwammig formuliert, und es war in ihm die Rede von Fragen, welche die Sicherheit der Europäischen Union betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehöre, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.

Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird nicht zum integralen Bestandteil der EG, sondern es bleibt bei einer intergouvermentalen Zusammenarbeit, künftig können jedoch auf verschiedenen Gebieten gemeinsame Aktionen beschlossen werden. Ist eine solche gemeinsame Aktion vom EG-Rat einstimmig beschlossen, kann über ihren weiteren Verlauf mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden. Als mögliche Bereiche einer gemeinsamen Aktion gelten: der KSZE-Prozeß, die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik, die Nichtverbreitung von Kernwaffen sowie die Exportkontrolle von Waffen und Rüstungstechnologie.

Außerdem wurde in Maastricht in einer „Erklärung zur Westeuropäischen Union" diese als „Verteidigungskomponente der Europäischen Union", gleichzeitig aber auch als „Mittel zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz" bezeichnet. Hier ist das Tauziehen um atlantische Orientierung einerseits und europäische Präferenz andererseits also ebenfalls deutlich zu spüren. Allerdings setzte sich der europäische Ansatz insoweit durch, als alle diejenigen EG-Mitgliedsstaaten, die nicht WEU-Mitglieder sind, zu einer vollen WEU-Mitgliedschaft eingeladen wurden. Dies betraf Griechenland, Dänemark und Irland. Griechenland ist daraufhin der WEU beigetreten, ohne daß jedoch Irland und Dänemark Anstalten machten, ihm zu folgen. Denjenigen europäischen NATO-Staaten wiederum, die weder der EG noch der WEU angehörten, also Norwegen und die Türkei, wurde lediglich angeboten, assoziiertes WEU-Mitglied zu werden. [ Vgl. Ernst-Otto Czempiel, "Ansätze und Perspektiven der Außen- und Sicher heitspolitik der Europäischen Gemeinschaft", in: Oliver Thränert (Hrsg.), Die EG auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung), S. 15-32; siehe auch die Verträge von Maastricht, in: Europa-Archiv Nr. 6/1992, S. D 177-D 254, bes. S. D 246-D 250.]

Der Prozeß der Aktivierung der bereits in den 50er Jahren gegründeten WEU, der - forciert vor allem von Frankreich - Mitte der 80er Jahre einsetzte, erlebte im Juni 1992 mit der Petersberg-Erklärung dieses Bündnisses seinen vorläufigen Höhepunkt. In ihr erklären sich die Mitgliedsstaaten u.a. bereit, „militärische Einheiten des gesamten Spektrums ihrer konventionellen Streitkräfte für unter der Befehlsgewalt der WEU durchgeführte militärische Aufgaben zur Verfügung zu stellen." Solche militärischen Einheiten der WEU-Mitgliedsstaaten könnten neben der gemeinsamen Verteidigung folgende Aufgaben erfüllen: „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze; friedenserhaltende Aufgaben; Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens." [ Vgl. Peter Schmidt, "Die WEU im Spannungsfeld zwischen Europäischer Union und Atlantischer Allianz", in: Oliver Thränert (Hrsg.), Die EG auf dem Weg ... a.a.O. (Anm. 10), S. 33-36; Petersberg-Erklärung der WEU vom 19. Juni 1992, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 68 vom 23. Juni 1992, S. 649-655.] Damit wird das Bestreben deutlich, neben der NATO möglichst gleichberechtigt eine europäische Institution zu schaffen, die zu militärischem Eingreifen befähigt ist. Daher wurde auch beschlossen, eine sogenannte WEU-Planungszelle einzurichten.

Einen weiteren Schub schließlich sollte die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch die auf dem deutsch-französischen Gipfel von La Rochelle im Mai 1992 verkündete Errichtung eines deutsch-französischen Euro-Korps erhalten. Dieses Korps, für das im Oktober 1992 in Straßburg ein gemeinsamer Stab eingerichtet wurde, soll ab 1995 einsatzbereit sein, und zwar ebenfalls für humanitäre Aufgaben, friedenserhaltende Zwecke sowie Kampfeinsätze zur Wiederherstellung des Friedens in Einklang mit der UN-Charta. Das politische Dach dieses Korps ist die WEU. Andere WEU-Mitgliedsstaaten wurden dementsprechend zur Teilnahme eingeladen. Ab Oktober 1993 beteiligt sich Belgien an dieser militärischen Einheit. Ausschlaggebend dabei war jedoch weniger Belgiens Enthusiasmus für eine europäische Verteidigungspolitik als die schlichte Tatsache, daß Belgien, das die Führung eines multinationalen NATO-Korps der Hauptverteidigungsstreitkräfte übernehmen sollte, dazu im Zuge seiner Streitkräftereduzierungen nicht mehr in der Lage war. So bot sich das Euro-Korps als Dach für die verbleibenden belgischen Verbände an.

Die Ankündigung, ein deutsch-französisches Euro-Korps einzurichten, stieß insbesondere in Washington auf Ablehnung. Die USA fürchteten eine schleichende Unterwanderung der NATO. Tatsächlich mußte es befremden, daß die Beziehung des Korps zur NATO zum Zeitpunkt des La Rochelle-Gipfels noch ungeklärt war. Während die Bundesregierung beteuerte, mit Hilfe des Korps sollte Frankreich näher an die NATO herangeführt werden, schien Paris im Gegenteil das Ziel zu verfolgen, Bonn aus der NATO heraus und in die europäische Verteidigung hineinzuziehen. Inzwischen ist geklärt, daß das Korps ggf. dem NATO-Oberbefehlshaber unterstellt werden kann und der deutsche Teil des Korps der NATO assigniert bleibt und gewissermaßen einen doppelten Hut tragen wird. [ Vgl. Andrew Denison, Die Haltung der USA gegenüber dem "Euro-Korps": Ak zeptanz oder Ablehnung?, Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung) 1992; Karl-Heinz Kamp, "Ein Spaltpilz für das Atlantische Bündnis? Das deutsch-französische 'Eurokorps'", in: Europa-Archiv Nr. 15-16/1992, S. 445-452.]

Besonders im Zuge des Streits um das Euro-Korps während der zweiten Jahreshälfte 1992 gerieten Washington und Paris zunehmend aneinander. In dem Maße in dem sich Franzosen und Amerikaner aneinander rieben wurde die Lage für die Bundesregierung unkomfortabel, wollte sie es doch weder mit dem einen noch mit dem anderen verderben. Inzwischen haben sich die Wogen jedoch geglättet. Zwar legt auch die neue Clinton-Administration wert auf die Beibehaltung und Stärkung der NATO als Garanten amerikanischen Einflusses in Europa, aber sie ist doch weniger fixiert darauf als dies unter Präsident Bush der Fall war. Auf jeden Fall sollen die Europäer mehr Verantwortung übernehmen. Umgekehrt hat man im Elysée Palast eingesehen, daß eine rein europäische sicherheitspolitische Lösung derzeit nicht durchsetzbar erscheint, wie vor allem die komplizierte Diskussion um die Implementierung der Maastrichter Beschlüsse gezeigt hat. In jedem Fall zieht Frankreich die Einbindung Deutschlands in die NATO einer völligen Renationalisierung der Sicherheitspolitik vor. Sollte sich die NATO doch als überlebensfähiger erweisen als in Paris zeitweilig angenommen, so muß es für Frankreich darauf ankommen, durch eine vorsichtige Annäherung an die Allianz auch in diesem Rahmen an Einfluß zu gewinnen. [ Vgl. dazu zuletzt Lutz Schrader, "Mitterrands Europapolitik oder der lange Ab schied vom Gaullismus", in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft B 32/93 vom 6. August 1993, S. 33-39, S. 36f.]

So befindet sich die Bundesregierung in der bequemen Lage, ihre Politik des „Sowohl-als-auch" fortsetzen zu können. Dabei könnte sich mittel- bis langfristig eine mehr europäische Orientierung herausschälen, vor allem dann, wenn sich die Deutschen in der NATO weiterhin nicht ausreichend repräsentiert sehen und das Bündnis zunehmend als Organisation wahrgenommen wird, die vorwiegend der Einbindung Deutschlands dient. Bei geschickter Diplomatie könnte die Stärkung EG-Europas sicherheitspolitisch ausgenutzt werden, um auch die Position in der NATO zu stärken. Allerdings ist es fraglich, ob es trotz aller deutsch-französischer Bemühungen überhaupt zu einem stärkeren sicherheitspolitischen Profil der EG bzw. der WEU kommen wird. Vier Gründe sprechen dagegen: Einige EG-Mitglieder, vor allem Großbritannien, halten nach wie vor an ihrer atlantischen Präferenz fest auch wenn es in jüngster Zeit zu einigen Irritationen im amerikanisch-britischen Verhältnis kam; die neutralen Staaten, die Mitte der 90er Jahre der EG beitreten werden, zeigen sich an einer gemeinsamen Sicherheits- oder gar Verteidigungspolitik wenig interessiert; im ehemaligen Jugoslawien hat sich die EG weitgehend als unfähig erwiesen, eine gemeinsame Position zu entwickeln; das Argument, die für 1999 anvisierte Wirtschafts- und Währungsunion , die in Maastricht beschlossen wurde, führe notwendig auch zu einem Momentum in Richtung gemeinsame Außen-, Sicherheits- und in der Konsequenz auch Verteidigungspolitik verliert zunehmend an Bedeutung, da immer deutlicher wird, daß eine gemeinsame Währung im EG-Rahmen vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise kaum implementierbar ist.

Sollte eine sicherheitspolitische Stagnation der EG/WEU einhergehen mit einer fortgesetzten Renationalisierung innerhalb der NATO, so ist eine völlige Rückkehr zu jeweils nationalen Sicherheitspolitiken in Europa nicht ausgeschlossen. Dagegen spricht allerdings das Interesse nicht nur Frankreichs an einer Einbindung Deutschlands. Auch bleibt abzuwarten, wie sich das Verhältnis der USA und Kanadas sowie Westeuropas zu Rußland weiterentwickelt. Sollte sich Rußland - möglicherweise unter Führung einer mehr national orientierten Regierung, als dies derzeit bei Jelzin der Fall ist - wieder zu einer Ordnungsmacht aufschwingen, ist eine erneute politische Konfrontation nicht auszuschließen. Sie würde die westlichen Regierungen wieder näher aneinanderrücken lassen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 9.1. 1998

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