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[AUSSENPOLITIKFORSCHUNG]
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Einleitung

Die jüngsten Wahlen in Polen (und Litauen) werfen eine beunruhigende Frage auf: Ist der Übergang zur Demokratie und Marktwirtschaft in Ostmitteleuropa durch eine mögliche Rückkehr zum kommunistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gefährdet? Sind die polnischen Wahlergebnisse Vorboten einer allgemeinen Trendwende in Ostmitteleuropa, d.h. in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, die zusammen mit den drei baltischen Staaten im Norden und Slowenien im Süden eine Art Pufferzone von Frontstaaten gegenüber Unwägbarkeiten und Ungewißheiten auf dem Balkan und dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion bilden?

Die Wahlen in Polen haben gezeigt, daß eine kommunistische Gefahr in Ostmitteleuropa nicht besteht. Die polnischen Wahlen waren keine Nostalgie-Wahlen in dem Sinne, daß sich die Völker Ostmitteleuropas etwa nach der Rückkehr des kommunistischen Herrschaftssystems sehnten. Vielmehr haben sie bestätigt, daß die 1989 errungene Demokratie und Rechtsstaatlichkeit - mit den ihnen entsprechenden Instrumenten zur Lösung politischer Krisen - in Ostmitteleuropa gefestigt sind. Was geschah, bewegte sich im ganz normalen Rahmen demokratischer Spielregeln freien Wahlen: Die bisherige Mehrheit von Mitte-Rechts-Parteien wurde durch die Mehrheit von Mitte-Links-Parteien abgelöst. Die nach 1989 aus den Reformflügeln entstandenen Nachfolge-Parteien der regierenden kommunistischen Staatsparteien Ostmitteleuropas haben sich inzwischen nach westeuropäischem Vorbild als sozialistische bzw. sozialdemokratische Parteien etabliert, die sich in ihren Programmen zu den Grundlagen des demokratischen Sozialismus bekennen. Sie sind nunmehr Bestandteil eines für eine funktionierende parlamentarische Demokratie unerläßlichen Mitte-Links-Parteienspektrums. Dieser Wandel der KP-Nachfolge-Parteien vollzog sich allerdings nur in den Ländern der sog. Visegrader Gruppe Ostmitteleuropas. Er betrifft nicht die Nachfolge-Parteien in Rumänien, Bulgarien oder Serbien. Die kommunistischen Parteien in diesen Ländern haben zwar ihren Namen geändert, die Übernahme der Wertesysteme westlicher Demokratien ist ihnen jedoch nicht gelungen. Sie haben sich nationalistisch-chauvinistischen Ideologien und einer bürokratischen Verwaltungsdiktatur verschrieben.

Bei den ersten freien Wahlen in Ostmitteleuropa nach der Wende 1989 war es gelungen, die KP-Nachfolge-Parteien zu isolieren. Heute kommt jedoch der Versuch, diese Parteien mit ihrer Vergangenheit zu kompromittieren, bei den Wählermassen nicht mehr an. Sollten die sozialdemokratisch/sozialistisch ausgerichteten Nachfolge-Parteien in Polen (und 1994 in Ungarn oder möglicherweise der Slowakei) die Regierung bilden, so übernehmen sie eine große Verantwortung. Sie müssen sich mit den von ihnen theoretisch propagierten Werten - z.B. mehr Empfindlichkeit für die soziale Frage - der Praxis stellen.

Wenn die Wahlen, die den Nachfolge-Parteien der früheren Reformkommunisten in Ostmitteleuropa relative Mehrheiten bringen, auch keine Nostalgie-Wahlen sind, so sind sie doch Ausdruck der Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung der Bevölkerung in diesen Ländern. Da ist zunächst die Enttäuschung über die neue Elite, die nach den ersten freien Wahlen an die Macht gekommen ist. Sie konzentrierte ihre Aktivitäten auf politische Grabenkämpfe und Schlammschlachten anstatt auf eine solide Wirtschaftspolitik. Die verordnete Schocktherapie spaltete die Gesellschaft. Einer Minderheit verhalf sie zu Reichtum und Überfluß. Der Mehrheit brachte sie ein Leben unter oder doch nahe der Armutsgrenze.

Das Verhalten der ostmitteleuropäischen Wähler drückt aber auch die Enttäuschung über den Westen aus, der nach ihrer Meinung zwar Hilfe verspricht, aber letztlich doch eher seinen eigenen Nutzen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet sucht. Tatsächlich wird die Kluft, die sich zwischen westlichen Hilfszusagen und geleistetem Beistand auftut, immer größer. Während die Westeuropäer den jungen Demokratien Ostmitteleuropas die Grundsätze des liberalen Handels predigen, errichtet die EU neue Handelsbarrieren. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die ostmitteleuropäischen Staaten nicht einmal einen Bruchteil der Transfergelder, die innerhalb Deutschlands in die neuen Bundesländer fließen, erhalten und als Nicht-Mitgliedsstaaten auch keine Unterstützung der EU genießen, wird deutlich, wie unfähig bzw. unwillig die Westeuropäer sind, wenn es darum geht, den ostmitteleuropäischen Ländern irgendwelche Perspektiven anzubieten. Zu spät kam die Erkenntnis, daß das, was die westlichen „Schocktherapeuten", ob Anhänger des „Friedmanismus" oder des „Keynesianismus", in Ostmitteleuropa durchzusetzen versuchten, nicht zum „Übergang" zur Marktwirtschaft, sondern zum „Untergang" der Wirtschaft dieser Länder überhaupt geführt hat.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum sich die Wähler von der neuen Elite, die nach der Wende an die Macht gekommen war, abwenden und in Ostmitteleuropa zunehmend antiwestliche Gefühle aufkommen. Die wirtschaftliche und soziale Lage Ostmitteleuropas läßt zwei Alternativen zu: Hinwendung zum Nationalismus, zu völkisch-nationalistischen Ideen und rechtsgerichteten autoritären Regimen oder zu den sozialistisch (sozialdemokratisch) orientierten Nachfolge-Parteien der früheren Reformkommunisten. Dabei ist die letztere - d.h. der „Linksrutsch" - sicher die bessere Alternative. Nicht nur, weil dadurch - im Gegensatz zur ersten Alternative - Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ungefährdet bleiben, sondern auch, weil dadurch der mehrheitliche Wunsch der ostmitteleuropäischen Bevölkerung nach einem langsameren, sozial besser abgefederten Vorgehen anstelle der bisherigen radikalen Reformpolitik erfüllt werden könnte. Um den „Übergang" zur Marktwirtschaft zu schaffen, reicht es nicht aus, an die freie Bewegung der Marktkräfte zu glauben („Transitionisten"). Um Wirtschaftswachstum und eine Erhöhung der Binnen-Nachfrage zu erreichen, müssen auch die Wirtschaftspolitiker künftiger Mitte-Links-Regierungen Ostmitteleuropas schlüssige Konzepte präsentieren und durchsetzen.

Die Verfechter des „Übergangs" begingen den historischen Fehler, daß sie die Umgestaltung nur auf die Politik (Demokratisierung) und Wirtschaft (Einführung der Marktwirtschaft) beschränken wollen. Der Umgestaltungsprozeß hat aber auch eine dritte Dimension, die gesellschaftliche Umgestaltung, die völlig außer acht gelassen wurde. Während die „Übergangs"-Strategen in einer abstrakten ideologischen Terminologie endlose Debatten über die Einführung der Demokratie und Marktwirtschaft führen, erlebt die ostmitteleuropäische Gesellschaft die negativen Folgen des Systemwechsels in Form von wachsender Arbeitslosigkeit und andauernder Verarmung. Diese soziale Erfahrung leistet dem rechtsgerichteten Populismus Vorschub und behindert die Demokratisierung. Die Gesellschaft Ostmitteleuropas verband die Wende 1989 mit Illusionen. Auf diese folgte nach der Machtübernahme und während der Machtausübung der neuen Elite die Enttäuschung. Heute erleben wir eine neue Trendwende in der Gesellschaft: die Ernüchterung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek | 9.1. 1998

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