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Ursula Mehrländer
Einleitung


Die Frage, ob und in welchem Umfang in der Bundesrepublik Deutschland Chancengleichheit für ausländische Jugendliche erreicht worden ist, wurde auf der Fachtagung des Gesprächskreises Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung am 22. September 1993 in Magdeburg diskutiert.

Die Tagungen des Gesprächskreises Arbeit und Soziales werden von den Mitarbeitern der Abteilung Arbeits- und Sozialforschung der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, organisiert. Drei Themenbereiche stehen dabei im Vordergrund:

  • Migration: Zuwanderungspolitik, Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit, Integrationsprozesse der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien,

  • Systeme der Sozialen Sicherung, insbesondere Gesundheitspolitik, Rentenpolitik,

  • Arbeitsmarkt und Berufliche Aus- und Fortbildung.

Im Jahre 1993 sind 14 Fachkonferenzen des Gesprächskreises Arbeit und Soziales, meist in den neuen Bundesländern, mit rd. 1.900 Teilnehmern durchgeführt worden. Die Ergebnisse dieser Tagungen werden dokumentiert: 10 Broschüren mit einer Auflage von 40.000 Exemplaren sind im vergangenen Jahr veröffentlicht worden. Diese werden Multiplikatoren, z.B. aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Verbände, Gewerkschaften, Wissenschaft kostenlos zur Verfügung gestellt und größtenteils von ihnen abgerufen.

Im Themenbereich "Migration" wurden 1993 Fragen der Entstehung von Fremdenfeindlichkeit und Möglichkeiten ihrer Bekämpfung, insbesondere unter dem Aspekt der Verantwortung von Politik und Medien, behandelt. Weiterhin wurde aufgezeigt, daß es notwendig ist, von der Ausländerpolitik zur Politik einer gesteuerten Zuwanderung überzugehen, die gleichzeitig mit Maßnahmen zur Integration der bereits seit

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langem in Deutschland lebenden Ausländer und ihrer Familienangehörigen verbunden sein muß. Um Anregungen für die Ausgestaltung zu erhalten, wurden die Einwanderungspolitik Kanadas und der USA dargestellt und kritisch hinterfragt. Das Thema "Chancengleichheit für ausländische Jugendliche" bot sich demnach folgerichtig als ein weiteres wichtiges Thema an.

In einer Reihe von Studien (z.B. Mehrländer 1978, 1983, 1987, Mehrländer u.a. 1981, König, Mehrländer, Amman 1988) konnte ich aufzeigen, daß der Zugang ausländischer Kinder und Jugendlicher zum deutschen Schul- und Berufsbildungssystem nicht nur die berufliche Zukunft der Jugendlichen, sondern ihren Integrationsprozeß in die deutsche Gesellschaft entscheidend beeinflussen wird. In letzter Zeit wird der Begriff "Integration" zunehmend bei Diskussionen auf Tagungen angesprochen, aber gleichzeitig das Unbehagen geäußert, daß dieser Begriff nicht eindeutig definiert ist. Ich folge den Ausführungen von Hoffmann-Nowotny, daß Integration als Partizipation an den Werten der Gesellschaft verstanden werden kann. Der Integrationsgrad kann demnach an dem Grad des Zugangs zu den Werten des Systems, die in institutionalisierten Ordnungen verfestigt sind, abgelesen werden. Der Erwerb des Gutes "Bildung" erfolgt z.B. im Rahmen des "Bildungssystems", der Erwerb des Gutes "Berufsausbildung" innerhalb des Rahmens "Berufsausbildungssystem". Für die Integration der ausländischen Kinder und Jugendlichen bedeutet das, daß ihr Zugang und der Grad ihrer Partizipation an dem deutschen Schul- und Ausbildungssystem bereits Aussagen über ihren Integrationsgrad erlauben. Es konnte in meinen o.g. Studien gezeigt werden, daß dieser Integrationsprozess im Schul- und Berufsbereich positive Auswirkungen auf andere Bereiche wie z.B. Kontakte mit Deutschen, Mitgliedschaft in deutschen Organisationen, Bereitschaft zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, hat. Anhand der von mir gewählten Definition von "Integration" wird einerseits die Schlüsselstellung des Bereiches "Bildung/Berufsausbildung/Arbeitsplatz" deutlich, andererseits zeigt sich eindringlich, daß Integration kein einseitiger Prozeß ist. Den Zugang ausländischer Jugendlicher verstärkt auch zu weiterführenden Schulen und/oder zur Berufsausbildung im Dualen System, zu Fachhochschulen und Universitäten zu realisieren und ggfs. mit zusätzlichen Maßnahmen zu fördern, ist Sache der deutschen Gesellschaft. Und wohlgemerkt - diese Integration ausländischer

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Jugendlicher, von denen die Mehrzahl bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ist nicht allein aus humanitären Gründen geboten, sondern liegt auch im Interesse der deutschen Gesellschaft.

Klaus Schweikert legt die Ergebnisse des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Berlin, aus der repräsentativen Befragung ausländischer Jugendlicher (1989) zu ihrer Bildungs- und Beschäftigungssituation dar. Er geht auf die Ausbildungsbeteiligung, den Übergang Schule/Beruf und die Problematik des Abbruches der Ausbildung ein. Die Ausbildungsbeteiligung der ausländischen Jugendlichen liegt mit 29 % immer noch weit unter der entsprechenden Quote der deutschen Jugendlichen (77 %). Ebenso gilt auch noch, daß die Ausbildungsbeteiligung der ausländischen Mädchen (24 %) noch geringer als die der ausländischen Jungen (35 %) ist. Interessante Aussagen ergeben sich ebenfalls bei dem Vergleich der beiden entsprechenden Studien des BIBB von 1979/80 und von 1989. Bei dem Exkurs zur Bereitschaft zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit belegt Schweikert mit den neuen Daten von 1989 meine obigen Aussagen: Schulbesuch und Schulabschluß, Berufsausbildungsabschluß der ausländischen Jugendlichen in Deutschland und entsprechender Qualifikationsstatus im Erwerbsleben wirken sich positiv auf die Bereitschaft aus, die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen zu wollen.

Ursula Boos-Nünning geht zunächst ebenfalls auf die Ausbildungssituation der ausländischen Jugendlichen insgesamt ein. Sie selbst nennt diese Gruppe "Jugendliche ausländischer Herkunft" und macht damit auf die große Anzahl derer aufmerksam, die bereits in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind. Ebenso wie Klaus Schweikert sieht sie, daß sich die Berufsausbildungssituation der Jugendlichen ausländischer Herkunft in den letzten 10 bis 15 Jahren insgesamt verbessert hat. Aber Boos-Nünning weist zu Recht darauf hin, daß die Zunahme der Zahl der ausländischen Jugendlichen, die in eine Berufsausbildung eingemündet sind (1991: 108.000 Jugendliche gegenüber 1984: 49.000 Jugendliche), manchmal vergessen lassen, daß die Versorgung der entsprechenden Altersgruppe mit Ausbildungsplätzen nach wie vor schlecht ist. Bei dieser Unterrepräsentierung der Jugendlichen ausländischer Herkunft handelt es sich nicht nur um ein Problem der türkischen Jugendlichen, wie oft verkürzt diskutiert wird. Alle Jugendlichen aus den ehemaligen

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Anwerbeländern sind davon betroffen. Ausländische Jugendliche sind zudem auf nur wenige Berufe konzentriert und haben überdurchschnittlich hohe Abbruchquoten bei der Berufsausbildung. Als Gründe für diese Situation weist Boos-Nünning fehlende schulische Voraussetzungen, Auswahlverfahren der Betriebe und das Berufswahlverhalten der Jugendlichen nach.

Ursula Boos-Nünning dokumentiert dann ausführlich die Situation der Mädchen ausländischer Herkunft bei dem Übergang von der Schule in die Ausbildung bzw. von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit. Ausländische Mädchen sind im Hinblick auf Schulbesuch und -abschlüsse erfolgreicher als Jungen, sie streben ebenfalls eine Berufsausbildung in Deutschland an. Diesen Aussagen stehen jedoch die tatsächlichen Zahlen der Mädchen, die eine Berufsausbildung aufnehmen, entgegen. Um diese Diskrepanz zu erklären, werden die geschlechtsspezifischen Bedingungen der Berufswahl erörtert, woraus Boos-Nünning Hinweise für die Beratung junger Ausländerinnen bei ihrem Berufseinmündungsprozeß ableitet.

In den neuen Bundesländern sind ausländische Kinder in einer deutschen Schule noch kein normales Erscheinungsbild, wie Vu Thi Hoang Ha in ihrem Beitrag ausführt. Aufgrund der Ausländerpolitik der ehemaligen DDR war den Vietnamesen eine Familiennachholung und Eheschließung fast unmöglich. Kinder zu bekommen, wurde Vietnamesinnen sogar durch die Anwerbeverträge verboten. Insofern erklärt sich die geringe Zahl der ausländischen Schüler in den neuen Bundesländern: in Sachsen-Anhalt waren es im Schuljahr 1992/1993 1.147 Kinder aus 47 Herkunftsländern. Es soll betont werden, daß in Sachsen-Anhalt ein Runderlaß über die Förderung ausländischer Kinder im Schulbereich existiert, der allerdings in den Schulen und Schulämtern noch weitgehend unbekannt ist. In Sachsen-Anhalt besteht ebenfalls für Kinder der Asylbewerber Schulpflicht. Es erscheint daher - auch bei den vergleichsweise geringen Zahlen der ausländischen Kinder in den neuen Bundesländern - geboten, ihren schulischen und außerschulischen Problemen die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Ha legt sie in ihrem Beitrag dar. Bei dieser Schilderung fühlt man sich stark an die Situation der ausländischen Kinder in der BRD in den 60er und 70er Jahren erinnert.

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Die berufliche und soziale Integration türkischer Arbeitnehmer, Vergleich der ersten und zweiten Generation, wird in dem Beitrag von Günther Schultze behandelt. Dabei stellt er die Ergebnisse seiner Befragung von 20-30jährigen Türken und ihrer Väter dar. Der Vergleich von Söhnen und Vätern zeigt eindeutig, daß die Migrationsbiographie bei der zweiten Generation differenzierter verläuft. Zwar konnten die jungen Türken im Vergleich zu ihren Vätern häufiger auf einem höheren beruflichen Qualifikationsniveau in das Erwerbsleben einsteigen, aber ihre berufliche Integration verläuft nicht problemlos, wie der Anteil derjenigen, die ein- oder mehrmals längere Zeit arbeitslos gewesen sind, belegt. Schultze kann nachweisen, daß die von den jungen Türken erworbenen Schulabschlüsse im allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden Schulbereich ihre späteren beruflichen Positionen im Arbeitsmarkt determinieren. Er spricht bei der zweiten Generation der Türken daher von Migrationsgewinnern bzw. Migrationsverlierern: Die einen erreichten gute Schulabschlüsse und den Zugang zu besseren Arbeitsverhältnissen als ihre Väter, die anderen bleiben ohne Schulabschluß und nehmen wie ihre Väter Positionen auf den unteren betrieblichen Hierarchiestufen mit dem damit vergrößerten Risiko einer späteren Arbeitslosigkeit ein.

Schultze hat ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen beruflicher und sozialer Integration hingewiesen. In den Bereichen Freizeitkontakte mit Deutschen, Erziehungsziele, Rückkehrabsichten lassen sich deutliche Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Generation ausmachen. Innerhalb der zweiten Generation kann gezeigt werden, daß bei gelungener beruflicher Integration auch in den anderen Bereichen Integrationsprozesse ausgelöst werden.

Aber Integrationsprozesse kommen nicht quasi "naturwüchsig" in Gang. Weder geringes Einreisealter, lange Aufenthaltsdauer noch allein die Zugehörigkeit zur zweiten oder dritten Generation der Zuwanderer bewirken, daß Chancenungleichheiten verschwinden und Integrationsprozesse initiiert werden. Verbesserter Zugang zum gesamten Schul- und Ausbildungssystem, verbunden mit entsprechenden, die Chancengleichheit fördernden Maßnahmen für ausländische Kinder und Jugendliche, sind geboten, um ihre Integration in die deutsche Gesellschaft zu realisieren und zu erleichtern. In diesem Sinne soll der Titel dieser Broschüre als Forderung verstanden werden.

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Mein Dank gilt Verena Arenz, Ausländerreferentin des Landes Sachsen-Anhalt, und Almuth Berger, Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, auf deren Initiative wir dieses Thema aufgegriffen haben. Diese Fachtagung wurde in Kooperation mit ihnen durchgeführt. An dieser Stelle möchte ich auch den Referenten der Tagung herzlich dafür danken, daß sie trotz vielfacher Arbeitsbelastung unserer Einladung Folge geleistet haben und außerdem ihre Beiträge zur Veröffentlichung in dieser Broschüre zur Verfügung gestellt haben. Die organisatorische Durchführung der Fachtagung und die Erstellung der Broschüre lag in der Verantwortung von Brigitte Juchems, der dafür ebenfalls mein Dank gebührt.

Literaturhinweise

Hoffmann-Nowotny, H.-J.: Soziologie des Fremdarbeiterproblems, Stuttgart 1973.

Mehrländer, U.: Einflußfaktoren auf das Bildungsverhalten ausländischer Jugendlicher, Bonn 1978

Mehrländer, U., u.a.: Repräsentativuntersuchung '80, Bonn 1981.

Mehrländer, U.: Türkische Jugendliche - keine beruflichen Chancen in Deutschland?, Bonn 1983.

Mehrländer, U.: Ausländerforschung 1965 bis 1980, Bonn 1987.

König, P., W. Ammann, U. Mehrländer: Berufswahl und handwerkliche Berufsausbildung türkischer Jugendlicher, Bonn 1988.


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