FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 57]



Gerlinde Schnell
Beseitigung von Ausländerfeindlichkeit – Aufgabe der Politik


Mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit müsse der Fremdenfeindlichkeit der Nährboden entzogen werden. "Die Sorgen der Menschen, die sich in Ausländerfeindlichkeit äußern, müssen ernst genommen werden", betont der Deutsche Gewerkschaftsbund, Landesbezirk Mecklenburg-Vorpommern.

Das Grundrecht auf Asyl hat für uns Sozialdemokraten aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen einen besonderen Stellenwert. Es ist ein sehr sensibles Thema, wir dürfen uns bei der notwendigen Diskussion nicht von Stammtischparolen leiten lassen. Wer heute den Eindruck erweckt, alleine mit einer Änderung des Asylrechts könne man die Probleme der fehlenden Arbeitsplätze und der Infrastrukturmängel lösen, der täuscht die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Sie erwarten, daß die demokratischen Parteien einen Konsens erzielen und sich nicht mehr in gegenseitigen Schuldzuweisungen ergehen. Das individuelle Grundrecht auf Asyl für wirklich politisch Verfolgte muß erhalten bleiben.

Jede reformerische Politik muß die Wirklichkeit kennen, die sie verändern will. Realität ist die ungesteuerte Zuwanderung nach Deutschland. Weil in unserer Rechtsordnung die Grundlage einer die Zuwanderung gestaltenden und steuernden Politik fehlt, bietet das Asylrecht z.Z. für viele die einzige Möglichkeit einer legalen Einreise nach Deutschland. Es wird in den letzten Jahren in großem Umfang genutzt. Von Januar bis August 1992 beantragten 270.090 Personen politisches Asyl. Die meisten dieser Zufluchtssuchenden kommen aus verständlichen Gründen, vielfach bitterer Not und Bedrängnis. Ein großer Teil wird erfahrungsgemäß nicht als politisch verfolgt anerkannt.

Das Asylrecht ist also zum Instrument einer Einwanderung von nicht direkt politisch verfolgten Zuwanderungswilligen geworden. Wenn wir das Asylrecht – gegen die Versuche es ganz zu streichen – erhalten wollen, müssen wir es den wirklich politisch Verfolgten vorbehalten.

[Seite der Druckausg.: 58]

Deshalb müssen Personengruppen verfahrensmäßig von einander getrennt werden:

  1. Politisch Verfolgte, die sich auf das Grundrecht auf Asyl berufen können.

  2. Zuwanderungswillige, die im Rahmen unserer Integrationsmöglichkeiten über ein Zuwanderungsgesetz in die Bundesrepublik kommen können.

  3. Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, die zum Schutz vor Kriegshandlungen in ihrem Heimatland ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht erhalten können.

Diese Unterscheidung könnte zur Verringerung der aussichtslosen Asylanträge führen und zur verstärkten Akzeptanz von diesen Personengruppen von selten der deutschen Bevölkerung beitragen.

Im vergangenen Jahr wurden Vorschläge gemacht und es wurde das Asylverfahrenbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Die dabei geschaffenen Chancen wurden nicht genutzt. Die geschaffenen Planstellen beim Bundesamt in Zirndorf wurden nicht besetzt: Am 30. Juni 1992 waren von 1.715 Beamtenstellen nur 423,5 Stellen, von 1.695 Angestelltenstellen nur 635,7 Stellen und von 189 Arbeiterstellen nur 33,5 Stellen besetzt.

Die Folge davon ist eine immer noch steigende Zahl von unbearbeiteten Anträgen. Die Anzahl belief sich im August 1992 auf 387.962.

Wir wissen also heute, daß wir vor kaum zu lösende Probleme gestellt werden. Städte und Gemeinden sind völlig überfordert. Nur mit einer Verfassungsänderung ist das Problem der Zuwanderung nicht zu lösen. Ohne eine gesetzlich geregelte Zuwanderungsbegrenzung wird es aber nicht möglich sein, den Zuwanderungsdruck auf unser Land abzumildern. Eine solche gesetzliche Regelung muß Rücksicht nehmen auf die Zumutbarkeit für die eigene Bevölkerung, insbesondere Rücksicht nehmen auf die Lage auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.

Wir können nicht den Blick davor verschließen, daß es auf unserer Erde Wanderungsbewegungen gibt. Wanderungsbewegungen, die ihre Ursache in den veränderten politischen Verhältnissen in Ost und West haben, in der

[Seite der Druckausg.: 59]

wirtschaftlichen Not und dem Hunger in vielen Regionen der Erde. Es ist selbstverständliche Pflicht aller Industrieländer die Wanderungs- und Fluchtursachen an ihrem Entstehungsort zu bekämpfen. Nur wird dies nicht kurzfristig zu einem Abnehmen der Wanderungs- und Fluchtbewegung führen. Nicht nur unser Land, sondern Gesamteuropa ist und wird dem Zuwanderungsdruck ausgesetzt sein. Auch hier ist eine europäische Lösung dringend erforderlich.

Im Vorgriff auf eine europäische Lösung ist aber eine nationale Regelung unverzichtbar, um kurzfristig die unkontrollierte Zuwanderung nach Deutschland zu bremsen und in geordnete Bahnen zu lenken. Das Asylrecht allein zu ändern, ist nicht ausreichend. Ich möchte ein Zitat aus der Rede unseres Bundespräsidenten vom 3. Oktober 1992 hier in Schwerin hinzufügen: "Wir brauchen eine die verschiedenen Quellen der Zuwanderung insgesamt umfassende Politik, die den Zustrom von außen berechenbar macht, die ihm auch Grenzen setzt, so daß wir den Zustrom gesellschaftlich bewältigen und uns zugleich in ihm menschlich bewähren können".

Zusammenfassend stelle ich fest: Ausländerfeindlichkeit, Gewalt gegen Ausländer und gegen den Staat haben verschiedene Ursachen:

  1. Es gibt ein organisiertes rechtsextremistisches Potential, das sich gegenwärtig verstärkt, indem es sich der Asylproblematik bedient.

  2. Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher und Wertverunsicherung fördert Gewaltbereitschaft.

  3. Der Abbau von außerschulischen Bildungs- und Freizeitangeboten für Jugendliche verstärkt Orientierungslosigkeit.

  4. Die langjährige Asyldebatte hat in der Bevölkerung zu einer negativen Einstellung zu Ausländern als einer bedrohlichen Problemgruppe geführt.

  5. Die Verschleppung möglicher Teillösungen, um eigene kurzfristige politische Ziele durchzusetzen.

    [Seite der Druckausg.: 60]

  6. Fehlender gesellschaftlicher Dialog über die noch anwachsenden Wander- und Fluchtbewegungen aus Hunger- und Gewaltregionen und über die Konflikte bei der Begegnung unterschiedlicher Kulturen.

  7. Die aktuelle Berichterstattung sollte nicht nur von Gewalt reden, sondern auch von Widerstand gegen Gewalt berichten.

Daraus ergeben sich Konsequenzen:

  1. Die Bevölkerung muß nicht durch Verschärfung der bisherigen Asylpolitik vor Ausländern "geschützt", sondern für eine qualitativ neue Asylpolitik gewonnen werden.

  2. Politische Aufwertung der Arbeit der Ausländerbeauftragten und Bereitstellung von mehr Mitteln für ihre Arbeit.

  3. Wir brauchen Jugendzentren, in denen gut ausgebildete Sozialpädagogen vielfältige Angebote machen.

  4. Wir brauchen vielfältige Formen der politischen Bürgermitwirkungen, auch außerhalb der Parteien.

  5. Zu uns kommende Ausländer müssen auch auf Kompromißbereitschaft angesprochen werden, Ausländer-Initiativen sind dabei zu unterstützen.

  6. Die tatsächlichen Probleme des Einigungsprozesses müssen in Ost und West offen diskutiert werden. Ausländer dürfen nicht als "Sündenböcke" hingestellt werden.

  7. Wir brauchen neue Ideen und Maßnahmen und die Stärkung von Motivationen zur wirtschaftlich-sozialen Entwicklung in den neuen Bundesländern.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2001

Previous Page TOC Next Page