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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 51 ]


Rudolf Dreßler
Die Bedeutung der Wohlfahrtsverbände für die soziale Sicherung in Deutschland


Einerseits in ihrer Arbeit über den grünen Klee gelobt, andererseits ob ihres Finanzgebarens oder mangelnder Flexibilität heftig gescholten, das ist das Meinungsbild in der deutschen Öffentlichkeit, wenn es um die Wohlfahrtsverbände geht. Ein durchaus zwiespältiges Bild also, das es zu interpretieren und zu deuten gilt. Die Wahrheit ist: Dieses Bild ist richtig und falsch zugleich.

Vielleicht kommt man zu einer treffenderen und präziseren Beurteilung von Arbeit und Rolle der Wohlfahrtsverbände in Deutschland, wenn man sich der Problematik von einer anderen Seite nähert. Etwa durch die Beantwortung der Frage, ob wir es für denkbar und durchführbar halten, die breite Palette sozialer und gesundheitlicher Daseinsfürsorge, die unser Land bereithält, ohne die Wohlfahrtsverbände anbieten zu können.

Die Antwortsuche auf diese Frage geht einher mit der Frage nach Alternativen:

  • Ist es denkbar, daß der Staat selbst, in dem Fall also Länder, Kommunen oder Kommunalverbände, diese Leistungen der Daseinsfürsorge bereithalten oder gar selbst anbieten?

  • Ist es denkbar, daß diese Leistungen auf privater Basis organisiert und erbracht werden?

Sicherlich ist richtig, daß bereits heute in Deutschland im Bereich der sozialen Daseinsfürsorge öffentliche oder private Leistungserbringer auftreten, aber ebenso unbestritten ist, daß das Gros der Leistungen von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, also von frei-gemeinnützigen Organisationen erbracht wird. Die Suche nach möglichen Alternativen und die Frage ihrer Wünschbarkeit bezieht sich also auf dieses Gros.

Die Zahlen, die das Gros definieren, sind eindrucksvoll. Durch die Träger der Freien Wohlfahrtspflege werden

  • 80% der Behindertenheime,

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  • 68% der Jugendhilfeeinrichtungen,

  • 51 % der Altenheime und

  • 39% der allgemeinen Krankenhäuser

betrieben. Die Lohnsummen der dort beschäftigten 1,2 Mio. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfaßt 47 Mrd. DM; der Gesamtumsatz der Einrichtungen - übrigens 60.000 einzelne Unternehmen - beträgt 60 Mrd. DM. Das sind eindrucksvolle Zahlen. Selbst Mutige, die gerne über eine alternative Organisation der sozialen Daseinsfürsorge philosophieren, werden angesichts dieser Volumina auf einmal recht zurückhaltend.

Im Zuge der allgemeinen Thatcherisierung des gesellschaftspolitischen Denkens in Europa spielt die Privatisierung sozialer Dienstleistungen in der öffentlichen Diskussion eine besondere Rolle. Privatisierung - das war der ideologische Fetisch einer ganzen Generation von Politikern und Wissenschaftlern. Damit einher ging der Versuch einer Neudefinition von Subsidiarität, die die Legitimation staatlichen Handelns - bis auf einen kümmerlichen, unverzichtbaren Rest - weitgehend verneinen wollte.

Privatisierung - das bedeutete in dieser Diskussion nicht nur Entstaatlichung. Denn dann wäre das Thema „soziale Dienstleistungen zur Daseinsfürsorge" in Deutschland ja bereits weitgehend beantwortet gewesen; Leistungserbringung durch die Freie Wohlfahrtspflege - das ist vollzogene Entstaatlichung.

Nein, mit Privatisierung war auch eine weitgehend privatisierte Leistungserbringung gemeint, privatisiert im Sinne von „zur Gewinnerzielung geeignet oder freigegeben".

Soziale und gesundheitliche Dienstleistungen für Menschen und dabei Gewinne machen, das jagt so manchem sozial Engagierten einen Schauer über den Rücken. Getreu dem Motto „Mit der Notlage anderer Menschen verdient man kein Geld" ist in weiten Teilen unseres Gesundheitswesens Gewinnerzielung nicht nur verpönt, sondern gesetzlich ausgeschlossen; Erstattung der bei der Leistungserbringung entstandenen Kosten heißt da die Maxime. Aber: eine wahrheitsgetreue Bewertung muß eingestehen, daß unter dieser Maxime in der Vergangenheit Geld verdient wurde, das die Schwarte kracht.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich will hier nicht einer Philosophie das Wort reden, die die sozialen Dienstleistungen für das Gewinnstreben

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der privaten Wirtschaft nutzbar machen möchte. Ich will vielmehr zur kritischen, vor allem selbstkritischen Überprüfung anhalten. Aus der Tatsache, daß die Gewinnerzielung ausgeschlossen bleibt, folgt nicht zugleich auch die Feststellung, daß damit die erbrachten Leistungen optimal und kostengünstig sind.

Zu oft jedenfalls habe ich in den vergangenen Jahren in der Diskussion mit verschiedenen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege die Erfahrung gemacht, daß der Hinweis, man arbeite ja nur auf Basis von zu erstattenden Kosten, zugleich als selbst getroffene Bewertung mißdeutet wurde, damit arbeite man auch kostengünstig.

Zu oft habe ich auch die Erfahrung gemacht, daß die Feststellung, man wolle nichts verdienen, schließlich sei man für einen guten Zweck tätig, immun machen soll gegen gesellschaftliche und politische Kritik an unbefriedigenden Zuständen und unvertretbaren Praktiken. Wir alle wissen: Aus der Tatsache, daß die Angelegenheit, in der man tätig ist, gut ist, folgt nicht automatisch, daß man selbst gut ist. Wäre das so, wir Politiker hätten es einfach. Denn Politik dient dem Wohl der Menschen, also einer guten Sache. An dieser Stelle möchte ich die Parallele dann sicherheitshalber lieber doch nicht weiterführen.

Ich wiederhole noch einmal: Bei der Prüfung der Frage von alternativen Organisationsformen für die soziale und gesundheitliche Daseinsfürsorge will ich nicht einer Privatisierung im Sinne erwerbswirtschaftlicher, gewinnorientierter Tätigkeit als Zukunftsmuster das Wort reden. Aber ich halte es für unausweichlich, daß die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege ihre bisherige Tätigkeit einer selbstkritischen Prüfung unterziehen und sich der Kritik anderer stellen.

Mir scheint es notwendig,

  • daß sich die zukünftige Arbeit der Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege, wo immer dies mit dem sozialen Auftrag vereinbar ist, den Grundsätzen wettbewerblicher und marktähnlicher Tätigkeit öffnet;

  • daß in der zukünftigen Arbeit auf Reservatedenken verzichtet wird. Das Abstecken von Claims mag auf den Banks des Sacramento-River angebracht sein, hier ist es überflüssig;

  • daß die zukünftige Arbeit organisationspolitisch wie inhaltlich flexibler und ökonomisch effektiver wird, ohne deren Qualität zu mindern.

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Jahrzehnte erfolgreicher Arbeit der Wohlfahrtsverbände für die Menschen können sich sehen lassen. Sollte nicht daraus jenes Selbstbewußtsein gewachsen sein,

  • das Kritik positiv aufzunehmen bereit ist und

  • das die Notwendigkeit zur Veränderung erkennt?

Wenn die Privatisierung der Leistungserbringung in der sozialen Daseinsfürsorge kein Modell für die Zukunft ist, gleichwohl aber die Notwendigkeit der Veränderung und Modernisierung der Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege unverzichtbar ist, stellt sich die Frage nach einer Bewertung der zweiten, eingangs genannten Alternative. Ist es denkbar, daß der Staat selbst diese Aufgaben übernimmt?

Ich will auch hier eine eindeutige Antwort geben. Seine Legitimation dazu ist für mich unbestritten, daran kann ihn auch kein noch so mißdeutetes Subsidiaritätsprinzip hindern. Und an die Adresse all derjenigen, die auch bei dieser Gelegenheit die Prinzipien unserer Verfassung strapazieren, füge ich an: Die Organisation und praktische Durchführung der sozialen Daseinsfürsorge durch die Träger der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland hat keinen Verfassungsrang und steht auch nicht im Grundgesetz.

Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den allgemeinen Lebensrisiken - auch den sozialen - ist staatliche Aufgabe. Ob der Staat diese Aufgabe selbst wahrnimmt oder sie anderen Organisationen überträgt oder überläßt, ist seine ureigene Entscheidung. Man mag dies als etatistische Anwendung von Verfassungsprinzipien bezeichnen, aber sie entspricht den Tatsachen.

Damit kein Mißverständnis aufkommt: Ich plädiere nicht dafür, daß nun öffentliche Stellen jene Aufgaben übernehmen, die bisher den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege vorbehalten waren. Ich will lediglich deren Legitimationsbasis für ihr Tätigwerden deutlich machen. Denn bei manchem Verbandsvertreter scheint mir in den letzten Jahren zunehmend unklar geworden zu sein, daß hier Aufgaben erfüllt werden, die sich über die Verpflichtung des Staates zur allgemeinen Daseinsfürsorge legitimieren.

Es sind für mich Erwägungen der Zweckmäßigkeit und der Erfahrung, die mich dazu bringen, mit Nachdruck für die Fortsetzung der Aufgabenwahrnehmung durch die freien Träger zu votieren. Zudem habe ich den Eindruck gewonnen, daß überall dort, wo der Staat oder staatliche Stellen

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im Gesundheits- und Sozialwesen selbst als Durchführende tätig werden, Flexibilität, Effizienz oder Betroffenennähe nicht unbedingt - ich drücke mich höflich aus - groß geschrieben werden. Ich will in diesem Zusammenhang nur ganz leise an jenen Teil unseres Krankenhauswesens erinnern, in dem die öffentliche Hand aktiv ist.

Wie bei der vermeintlichen Alternative der Privatisierung, so gilt für mich auch in diesem Fall: Die Übernahme der Aufgaben der Träger der Freien Wohlfahrtspflege in direkte staatliche Kompetenz ist weder wünschenswert noch tragfähig.

Verschiedentlich wird die Auffassung vertreten, die Übertragung der Aufgaben in der sozialen und gesundheitlichen Daseinsfürsorge auf die Wohlfahrtsverbände sei der einer freiheitlichen Demokratie angemessene Weg. Ich teile diese Auffassung, wenn sie nicht mit dem Umkehrschluß verknüpft wird, alles andere sei undemokratisch.

Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege haben in einer demokratischen Gesellschaft eine wichtige Funktion: Sie repräsentieren das Prinzip der Selbstorganisation der Bürgerschaft. Auch wenn der Staat das Recht dazu hat, welchen Sinn soll es machen, Aufgaben durchzuführen oder zu übernehmen, die seine Bürgerinnen und Bürger in eigener Verantwortung durchführen wollen.

Allerdings folgt aus dieser demokratischen Selbstorganisation eine Verpflichtung für die Einrichtungen oder Gruppen, die sie praktizieren: Sie müssen für alle Bürger gleichermaßen dasein. Wenn der Staat Aufgaben nicht selbst wahrnimmt und an andere überträgt, müssen diese für alle und umfassend wahrgenommen werden. Das heißt: Demokratische Selbstorganisation ist ohne die Verpflichtung zur Solidarität nicht denkbar. Sie darf nicht der Abschottung einzelner Gruppierungen von der Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger dienen.

Ich betone das deshalb mit besonderer Entschiedenheit, weil mittlerweile in einigen sozialen Sicherungssystemen - ich nenne hier die Renten- und die Krankenversicherung - die Unsitte eingerissen ist, unter Berufung auf demokratische Selbstorganisation gruppen- oder standesspezifische Sondersysteme ins Leben zu rufen und sich so aus dem allgemeinen System zu verabschieden.

Rein zufällig fällt nämlich dieser Abschied meist mit der nicht ganz unvorteilhaften Erkenntnis zusammen, daß man sich mit dem Sondersystem

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besser steht als mit dem allgemeinen. Und ebenso zufällig ergibt ein Rechenexempel, daß diese Besserstellung im Sondersystem zu Lasten des Allgemeinsystems geht. Demokratische Selbstorganisation darf nicht zu einer besonders subtilen Form sozialer Vorteilsnahme einzelner Gruppen werden.

Ich wiederhole deshalb: Wer sich auf das Prinzip der Selbstorganisation beruft, der ist verpflichtet, auch umfassende Solidarität zu organisieren. Ihm obliegt die Beweislast, daß er das kann und das auch tut. Ich bin sicher, daß die Träger der Freien Wohlfahrtspflege bei ihrer Arbeit auch in Zukunft diesem Grundsatz folgen werden.

Wer die Arbeit der Wohlfahrtsverbände in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat, dem fallt die stetig wachsende Professionalisierung auf. Das ist keine Kritik, sondern unausweichliche Konsequenz aus ihrem Auftrag. So wertvoll und wichtig das ehrenamtliche Element in der Arbeit auch sein mag - immerhin gehört es zu den konstitutiven Prinzipien der Wohlfahrtsorganisationen -, es reicht nicht aus, um die übernommenen Aufgaben zur Zufriedenheit und zum Nutzen der Menschen zu erfüllen.

Ich weiß, viele Mitglieder der Verbände - zumal die des alten Schlages - sehen den Rückgang der ehrenamtlichen Tätigkeit und die fortschreitende Professionalisierung mit Bedauern, ja fast mit blutendem Herzen. Aber sie wissen: Wer insgesamt 60 Mrd. DM Umsatz oder mehr im Jahr zu bewältigen hat, braucht ein hocheffizientes, kenntnisreiches Management. Und daß dieses Management für die ihm anvertrauten Menschen sozial ebenso engagiert zu Werke geht wie ehrenamtlich Tätige, das stellt wohl niemand in Zweifel.

Eine plurale Demokratie lebt vom Widerstreit unterschiedlicher Meinungen, aber auch vom Konflikt der verschiedenen Interessen. Daß in diesen Konfliktlagen diejenigen meist schlechte Karten haben, die ihre Interessen nicht wirksam artikulieren oder wahrnehmen können, ist eine Binsenweisheit. Menschen mit sozialen und gesundheitlichen Problemen, ökonomisch und finanziell weniger Leistungsstarke gehören zu jenen Gruppen, die im Kontext der starken Ellenbogen allzuleicht ins Hintertreffen geraten.

Die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege erfüllen in diesem Zusammenhang eine gesellschaftspolitische Funktion von wesentlicher Bedeutung. Denn sie verleihen den Interessen der Benachteiligten und Hilfs-

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bedürftigen Stimme, weil sie deren Interessen bündeln und hörbar machen. Sie wollen Anwälte der Betroffenen sein und sie sind es zu einem guten Teil auch. Ich bin sicher: Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zum Sozialstaat wäre ohne diese gesellschaftspolitisch entscheidende Funktion der Träger der Freien Wohlfahrtspflege nicht möglich gewesen.

Ich möchte, daß das so weitergeht. In einer Zeit wachsender Verteilungskämpfe ist es notwendig, daß diese Aufgaben noch entschiedener wahrgenommen werden als bisher, und zwar ohne politische, möglicherweise gar noch parteipolitische Rücksichten. Und wenn dabei noch besser zwischen den Interessen der anvertrauten Menschen und den berechtigten organisationspolitischen Eigeninteressen differenziert werden könnte, würde dies keinen Nachteil darstellen.

Die aktuelle gesellschafts- und sozialpolitische Diskussion wird unter beinahe ausschließlich ökonomischen Aspekten geführt. Fast könnte man annehmen, maßgebliche Kreise in Deutschland hätten den Eindruck gewonnen, zukünftig sollten die Menschen der Ökonomie, nicht aber die Ökonomie den Menschen dienen. Standortwettbewerb, Lohnkosten, Lohnnebenkosten, Billiglohnländer, Überforderung der Wirtschaft, das sind nur einige der Vokabeln, die durch die öffentliche Diskussion schwirren.

Was Wunder, daß angesichts dieser Debattenlage die Rolle und Funktion des Sozialstaates in Deutschland auf einmal in eigenartigem Licht erscheint. Wer so diskutiert oder wer diese Diskussion unwidersprochen läßt, für den rangiert der Sozialstaat offenkundig in nur noch einer Kategorie: Er ist Kostenfaktor. Daß er auch Ertragsfaktor ist, der sowohl die ökonomischen Rahmenbedingungen im allgemeinen als auch die Produktionsbedingungen im besonderen positiv beeinflußt, geht dabei völlig verloren.

Soziale Infrastruktur, Bildung und Ausbildung, sozialer Frieden, Interessenausgleich, Arbeitsmarktförderung, Qualifizierung, Umschulung, Tarifautonomie, Teilhabe aller am ökonomischen Fortschritt, das alles sind wesentliche Voraussetzungen für ein funktionierendes, demokratisches Gemeinwesen mit florierender Wirtschaft. Und es sind zentrale Bausteine des Sozialstaates. Hat sich je einmal einer oder eine derer, die diesen Sozialstaat als Belastung empfinden, ihn manipulieren oder gar abbauen möchten, überlegt, wie es in dieser Republik ohne solche Bausteine aussä-

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he? Wie wäre es wohl mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes bestellt, wenn das alles fehlte? Ich wage es nur nicht auszumalen.

Nicht zuletzt Vertreter der Bundesregierung beklagen öffentlich, daß sich in unserem Land kaum mehr jemand für die zentralen Werte einer humanen Gesellschaft interessiere. Gemeinsinn, Mitmenschlichkeit, Solidarität seien den Menschen abhanden gekommen. Jeder denke nur an sich und seinen individuellen Vorteil, niemand aber mehr an das gemeinsame Ganze.

Richtig! Das ist derzeit so - auch in Deutschland. Ich will keine Diskussion darüber führen, wer dafür wohl maßgebliche Mitverantwortung trägt, obwohl sich diese Diskussion nun wirklich lohnen würde.

Ich will vielmehr die Klage der Bundesregierung aufgreifen, ins Positive wenden und als Aufforderung verstehen. Führen wir endlich diese Wertediskussion! Vor allem aber: Richten wir uns an ihr aus.

Werte fallen nicht vom Himmel - auch nicht in der Politik. Sie können in politischen Ergebnissen nur deutlich werden, wenn man sie im Hinblick auf die Formulierung der politischen Ziele anwendet und in der tagtäglichen politischen Praxis mit ihren vielfältigen Entscheidungsalternativen auch für die Menschen erfahrbar macht. Werte in Sonntagsreden zu beschwören oder ihr Fehlen zu beklagen ist eine Sache. Aber sie für die Menschen spürbar zu machen ist die zweite, viel wichtigere. Daran nämlich entscheidet sich, ob die Grundvoraussetzung von demokratischer Politik schlechthin beachtet wird: die Glaubwürdigkeit. Wer als Politiker den Verfall oder das Fehlen von Werten beklagt, der hat sich zuallererst selbstkritisch zu fragen, ob in den Ergebnissen seiner politischen Arbeit diese Werte auch zum Ausdruck kommen.

Ökonomische Gesetzmäßigkeiten gelten wertneutral, Märkte funktionieren ohne soziale Rücksichten. Wer wertorientierte Politik will, der muß seiner Wirtschaftspolitik jene soziale Dimension beifügen, die sie für sich genommen nicht haben kann. Eine Politik des Abbaus oder der Zerstörung unserer sozialstaatlichen Ordnung wäre damit unvereinbar und würde den Anforderungen an eine Wertorientierung nicht entsprechen.

Hier sehe ich eine der zentralen politischen Aufgaben für die Träger der Freien Wohlfahrtspflege - politische Aufgaben haben sie nämlich auch.

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Hören Sie sich die Politikerreden über die Notwendigkeit der Wertorientierung nicht einfach an - fordern Sie Beweis und konkreten Beleg dazu ein. Machen Sie sich zum Sprecher derjenigen, die mit ihrem Schicksal auch Ihnen anvertraut sind. Das wäre mein dringlichster Wunsch für Ihre zukünftige Arbeit.

Wenn ich die Bedeutung der Wohlfahrtsverbände für die soziale Sicherung in Deutschland - so heißt ja mein Thema - in einem abschließenden Urteil bewerten soll, so möchte ich folgendes festhalten:

  • Der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland ist ohne die Arbeit der Wohlfahrtsverbände nicht denkbar.

  • Sie sind als Träger alternativlos; weder private noch öffentliche Institutionen können an ihre Stelle treten.

  • Die soziale Landschaft in unserem Land sähe ohne sie anders, aber beileibe nicht besser aus.

  • Sie sind fester Bestandteil der demokratischen Struktur in Deutschland.

Das ist mein rundweg positives Grundsatzurteil, trotz kritischer Würdigung einer Reihe von Details. Dieses Urteil, das von der weit überwiegenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geteilt wird, sollte keine Aufforderung sein, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. Im Gegenteil: Es ist als Ansporn gedacht!


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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